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Textil-Technischer Teil Die II. Deutsche Kunstseiden?Ausstellung auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1927. Von Direktor Paul Voß, Leipzig. Der kürzlich erfolgte Abschluß der neuen internationalen Kunst seidenkonvention hat auch über den Kreis der Textilbranche und des an Textilaktien interessierten Effektenmarktes hinaus die allgemeine Aufmerksamkeit auf das überraschende Tempo gelenkt, das heute den Aufschwung des jüngsten Textilstoffes bestimmt. Es ist noch garnicht solange her, daß die Kunstseide von weiten Verbraucherschichten ziemlich geringschätzig behandelt wurde. Sie galt als ein „Ersatzstoff' 1 , und aller Ersatzstoffe war man ja dank der Erlebnisse der Kriegswirt schaft herzlich überdrüßig geworden. Mit der Kunstseide verband sich das Vorurteil, daß Billigkeit unbedingt auch Minderqualität bedeuten müsse. Gleichwohl hat die Kunstseide ihren Weg gemacht. Zu Hilfe kam ihr dabei die Moderichtung, die den Gebrauch von Seide und seidenähnlichen Geweben — früher ja nur ein Privileg wohlhabender Konsumentengruppen und auch lediglich für das feierliche Gesell schaftskleid bestimmt — in den letzten Jahren nun auch für das ein fache Nachmittags- und Abendkleid, für die Unterwäsche und für Strümpfe, für Krawatten, für Schals obligatorisch machte. Gleichzeitig setzte die wirtschaftlich und kulturgeschichtlich so bedeutsame „Demo kratisierung“ der Mode ein. Der modische Geschmack eroberte sich nun auch die breitesten Massen der Arbeiter- und Angestelltenschaft und der ländlichen Bevölkerung. Ferner verband sich hiermit die Ausbreitung der europäischen Mode in den orientalischen Ländern, so in der Türkei, in Ägypten und neuerdings in besonderem Maße in Ghina. Um diesem dreifach begründeten neuen Massenbedarf zu genügen, dafür erwies sich die Naturseidenerzeugung als zu knapp und auch als nicht billig genug. Zwar wurde sie in allen Ländern stark ausgebaut, auch mit entsprechendem wirt schaftlichen Erfolg. Aber noch weit rascher wuchs der Bedarf. Er wollte und mußte Deckung finden, und erhielt sie durch die Kunstseide. Nicht nur wirtschaftliche M omente haben aber den modernen Siegeszug der Kunstseide begünstigt, sondern auch tech nische Fortschritte. Ständen die Kunst seide technisch noch heute auf dem glei chen Standpunkt wie etwa vor 15 Jahren, so würde ihr die ungedeckte Seidennach frage wohl kaum wesentlich nützen. Indessen, die Kunstseide von heute hat mit der, die man vor dem Kriege kannte, vielleicht nur noch den Namen gemeinsam. Neben der Baumwolle wurden ganz neue Rohsstoffe für die Kunstseidenproduktion herangezogen, so nament lich das Holz und dessen Verarbeitnngsprodukt, die Zellulose. Die Farbengebung wurde außerordentlich verbessert; es gelang überhaupt, die Kunstseide nach Verwendungszwecken und nach Konsumansprüchen weitgehend zu spezialisieren. Das Verdienst an dieser großartigen Entwicklung gebührt vor allem der deutschen chemischen Industrie. Gerade heute, wo diese im neuen internationalen Kartell eine führende Stellung erlangt hat, darf man wohl darauf hinweisen, daß dieser Triumpf seine Berechti gung in den Mühen und Kosten langer Arbeitsjahre sorgsamen Experi mentierens findet. In der Praxis der verarbeitenden Textilindustrien und des Tex tilkonsums gewinnt daher die Kunstseide heute mehr und mehr an Boden. Erfreulich ist dies nicht bloß vom Standpunkte des technischen Fortschrittes und nicht uur für das Geschäftsinteresse der beteiligten Industrien, sondern auch von hoher volkswirtschaftlicher Warte aus. Während wir die anderen Textilrohstoffe, wie Naturseide, Wolle, Baum wolle, Flachs, ausschließlich oder doch zum größten Teil importieren müssen, erweist sich heute die Kunstseide, insoweit sie vom Urstoff „Holz*' ausgeht, als ein rein auf deutschem Boden gewonnenes Produkt, dessen fortschreitende Ausbreitung eine entsprechende Verbesserung unserer Handelsbilanz zur Folge hat, und zwar in doppelter Hinsicht: Einmal wird hierdurch eine Ersparnis an unserer Einfuhr von Textil rohstoffen erzielt, und gleichzeitig entwickelt sich die deutsche Kunst seide heute überraschend schnell zu einem deutschen Exportartikel ersten Ranges. Die Werbung für deutsche Kunstseide bei den Verarbeitern und bei Publikum, auf dem Inlandsmarkte und im Exportgeschäft ist daher eine volkswirtschaftliche Aufgabe ersten Ranges. Man muß durch an schauliche Aufklärung den letzten Rest veralteter Vorurteile zerstören; man muß die jüngsten Entwicklungsstadien der immer noch vorwärts- eilenden Kunstseidentechnik demonstrieren; man muß an praktischen Beispielen die zweckmäßige Verwendung und Behandlung der Kunst seide zeigen. Dieser letzte Gesichtspunkt erscheint uns besonders wichtig. Manches Vorurteil gegenüber der Kunstseide entstand nur dadurch, daß bisweilen Verarbeiter und Verbraucher die Kunstseide nicht richtig zu behandeln verstanden. Erinnert sei nur etwa an die übermäßige „Streckung“. Wenn es dann Ärger gab, so lag dies nicht an der Beschaffenheit der Kunstseide, sondern an den durch mangel hafte Kenntnis verursachten Fehlern der Verarbeitung und des Ge brauchs. Naturseide, Wolle, Baumwolle, Leinenstoffe wollen nach ihren besonderen Eigenschaften individuell behandelt sein; das gilt als ganz selbstverständlich. Ein Naturseidenkleid wird anders gereinigt als ein Leinenhandtuch. Was aber den älteren Textilstoffen recht ist, daß muß auch der jungen Kunstseide billig sein. All diese Überlegungen führten genau vor einem Jahre zu dem wichtigen Entschluß, im Rahmen der damaligen Leipziger Frühjahrs messe die erste große „Deutsche Kunstseidenausstellung“ zu veran stalten. Im Bereich der Textilmesse sollte sie eine bewußt hervorgehobene Sonderschau sein, um vor dem ganzen internationalen Kreise der Leipziger Meß einkäufer und nach Messeschluß auch vor dem großen Konsumentenpublikum darzutun, was die moderne Kunstseide überhaupt ist, wie vielseitig man sie ver wenden kann, wie man sie zweckmäßig behandeln muß, um an ihr volle Freude zu haben, und wie billig schließlich dieser neueste Textilstoff ist, dessen Wohlfeilheit dem Bedürfnis der großen Massen nach einem ebenso schönen wie leicht erschwinglichen Kleider- und Wäschestoff und Wirkwarenerzeugnis' in großzügiger Weise entgegenkommt. Wir brauchen uns nicht lange bei dem vorjährigen Ereignis aufzuhalten. Es ist ja allgemein bekannt, daß jene erste Veranstaltung durch ihren vorzüg lichen Aufbau alle Zweifler entwaffnete und nicht minder auch geschäftlich allen Beteiligten den wohlver dienten Erfolg einbrachte. Schon damals entschied man sich dafür, auch 1927 eine Kunstseidenschau abzuhalten. Seitdem ist manches Wichtige geschehen. Die deutsche Kunst seidenindustrie hat neue Verbesserungen erzielt und ihre wirtschaft liche und finanzielle Position bekanntermaßen großzügig ausgebaut. Unsere deutsche Wirtschaftslage hat sich ganz wesentlich günstiger gestaltet: die Kaufkraft zumal für Textilstoffe ist stark gestiegen, der Inlandsmarkt insbesondere der Kunstseide nach allem, was Detaillisten, Grossisten und Fabrikanten berichten, bedeutend gewachsen. Dank neuen Handelsverträgen, dank der wieder günstiger werdenden weltwirtschaftlichen Konjunktur —- das Abflauen des italienischen, französischen und belgischen Valuta-Dumpings — haben auch unsere Exportverhältnisse heute ein weit freundlicheres Gepräge als vor einem Jahre. Die bevorstehende Leipziger Frühjahrsmesse 1927, die am 6. März beginnt, wird uns zweifellos in erhöhter Frequenz der Aussteller und der Einkäufer, des In- und Auslandsbesuches die günstige Auswirkung dieser Tatsachen offenbaren. All das gibt uns einen zu versichtlichen Ausblick anf die kommende zweite große „Deutsche Kunstseidenausstellung“, die als Sonderveranstaltung der kommenden Frühjahrsmesse in den Prachträumen des Grassi-Textilmeßhauses statt finden wird. Die Viscose-Konvention wird daran teilnehmen; ebenso haben auch die außerhalb der Konvention stehenden Erzeuger und Verarbeiter von Kunstseide in größtem Maßstabe ihre Beteiligung zugesagt. Die Ausstellung wird daher ihre Vorgängerin von 1926 an Ausmaß und an Darbietungen erheblich übertreffen. Die Leipziger Messe hat schon mancher jungen Industrie den weltwirtschaftlichen Aufstieg erleichtert. Um so besser sind daher die Aussichten, wenn es sich, wie hier, um ein deutsches Qualitätsgewerbe handelt, das bereits heute führenden Rang auf dem Weltmärkte in der Textilwirtschaft einnimmt. Das Grassi-Textilmeßhaus, in dem zur Leipziger Frühjahrsmesse 1927 die 2. Deutsche Kunstseidenausstellung stattfindet.