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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 14.01.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-01-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191001142
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100114
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100114
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-01
- Tag 1910-01-14
-
Monat
1910-01
-
Jahr
1910
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Leipziger Tageblatt Staat, 6. Lvvkvnilo*ß L Lo. unendlich magerer Rr. IS. 1V4. Jahrgang S. Beilage Freitag. 14. Januar 1S1V in das preußische Wahlrecht hinein. Die öffentliche Abstimmung ist ein Zwang zur gemein- sten Heuchelei, ein Mittel zur Korruption, zur Züchtung von Ge- sinnimaslosigkeit. Wer für die öffentliche Abstimmung auch heute noch eintritt, muh sich gefallen lassen, bah man ihn in den Verdacht bringt, diese Heuchelei, diesen Terrorismus, diese Korruption zu billigen und zu fördern. Frhr. v. Stein, der Schöpfer der Städteordnung, war ein wirklicher Staatsmann; er würde sich im Grabe umdrehen und in Rotation geraten bis zum jüngsten Gericht. (Große Heiterkeit.) Ohne Aenderung des Wahlsystems im Lande Preußen und in den Gemeinden Preußens ist an eine gedeihliche Weiterentwicklung der politischen Zu- stände überhaupt nicht zu denken. Die Süddeutschen cntferpen sich immer mehr von den preußischen Norddeutschen. In nicht zu ferner Zeit wird zwischen beiden ein tiefer Graben liegen, so tief, wie zwischen uns und — sagen wir einmal — es fällt mir nichts Schlimmeres ein als: Preußen. (Heiterkeit. Zuruf bei den Soz.:„Gewiß, Mecklenburg oder Rußland!" — Heiterkeit.) Wenn noch ein Funken staatsmännischen Geistes in der preußischen Verwaltung und in der Mehrheit des preußi schen Abgeordnetenhauses stecken sollte, warten sie nicht, bis sie gezwungen werden, das Wahlrecht zu ändern, sondern gewähren Sie ein demokra- tisches direktes, geheimes, allgemeines und gleiches Wahlrecht. sZuruf des Abg. Kreth: „Noch ein bißchen mehr!") Kreth und Kraetke, das ist zuviel. iGroße Heitcrkeit.I Der Staatssekretär und die ihm Nachgeordneten Stellen haben in Kattowitz vielleicht nicht gewollt, aber verübt eine ganz gemeine Wahlfälschung. Wenn der Staats- sekretär wirklich dem Staatszwcck dienen will, sollte er nicht versuchen, die Gepflogenheiten der preußischen Behörden auf die Reichsverwaltung zu übertragen, die Freiheit der Staatsbürger anzutasten und damit das --mzige und beste, auf dem ein Staatswesen ruhen kann. (Lebhafter Beifall bei den Sozialdemokraten.) Staatssekretär Delbrück: Abg. Dr. Südekum wundert sich, daß ich dem Abg. Schrader nicht sofort geantwortet habe. Ich hätte das auch ebne diese Ermahnung getan, wenn ich nicht inzwischen einer Sitzung des Bundesrates hätte beiwohnen müssen. Ich habe gestern festgestellt, daß 15 Beamte versetzt worden sind, nachdem sie in der .Hauptwahl und auch in der Stichwahl für den Kandidaten der grobpolnischen Partei gestimmt hatten. (Unruhe.) Obwohl sie inzwischen darüber belehrt waren, in welcher Weise diese beiden Kandidaten politisch sich bestätigten, und daß es mit den Pflichten eines Beamten unvereinbar sei, großpolnische Bestrebungen zu unterstützen. Es ist den Beamten nicht aufaegeben worden, für irgendeinen Kandidaten zu stimmen. lLachen links und im Zentrum.) Gewiß genießen die Beamten in Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte grundsätzlich dieselbe Freiheit, wie die Staatsbürger; gleichwohl erfährt diese Freiheit Einschränkungen durch die besondere Pflicht, die der Beamte dem Staat gegenüber zu erfüllen bat. Diese Beschränkungen sind zwar nickt durchweg gesetzlich fest gestellt, aber doch unschwer erkennbar. Die Mehrzahl unserer namhaften Staatsrechts- lehrcr steht auf dem Standpunkt, daß der Beamte, wenn er das Amt übernimmt, in ein öffentlich rechtliches Dienstverhältnis oder, wie Laband sagt, in ein Gewaltsvecbältnis zum Staate tritt, und dementsprechend, da der Staat selbst nicht sprechen und handeln kann, zu den zur Vertretung des Staates berufenen Behörden. (Lebhafte Unruhe.) Wenn ein derartiges Dienst, und GcwaltsverhältniS besteht, fragt es sich, wo die Grenzen dieses Verhältnisses liegen. Ter Beamtenerlaß Kaiser Wilhelms I. fordert nur, daß die politischen Be amten in der Unterstützung der Politik der Negierung sich gewissen Richtlinien zu fügen haben; ich frage Abg. Schrader, aus welchem Ge setz ist denn diese Anordnung zu entnehmen? (Zwischenruf des Abg. Schrader: „Sie ist aus den allgemeinen Beziehungen abzuleiten, die ich angegeben habe!") Wenn wir jetzt weiter gegangen sind (hört! hört! links), so ist das nicht leichten Herzens geschehen. (Heiserkeit.) Ich babe ausdrücklich darauf hingewicsen, daß diese aus nahmsweise Behandlung des Kattowitzer Falles als Akt der Notwehr anzusehen ist. (Lebhafte Ohorufe links.) Es bandelt sich um einen spe ziellen Fall, darüber hinaus habe ick nickt irgendwelche Grundsätze über die rechtlichen Pflichten der Beamten bei den Wahlen aufgestellt. (Bei- fall rechts.) Abg. Dr. Kolbe (Npt.): Ich darf einige Behauptungen des Grafen Oppersdorf nicht unwidersprochen lassen. Es hat in Kattowitz jedem Beamten freigestanden, den Kandidaten zu wählen, welchen er wollte, nur nicht den polnischen. Der Hakatistenverein ist natürlich den pol nischen Bestrebungen gefährlich, weil er bemüht ist, das Volk auszu klären. Freudig zu begrüßen ist, daß der Friede zwischen dem Ost markenverein und dem katholischen Lehrerverein vollständig geschlossen ist. Graf Oppersdorf hat eine Enquete über die Wirksamkeit des Ostmarkenvereins schon beim Vereinsgesetz verlangt. Ich habe ihm darin früher schon beigestimmt, und tue es auch jetzt. Wenn in Galizien an den Versammlungen des Sokolvereins auch österreichische Beamte teilgenommen haben, beweist dies nur, daß man dort etwas nachsichtia ist, es folgt aber nicht daraus, daß diese Vereine bei uns nicht gefährlich sind. Auch die Strazvereine verfolgen großpolnische Ziele. Wenn Abg. Korfanty das Wort Großpolonismus nicht gelten lasten will, möchte ich daran erinnern, daß er noch kürzlich an einer Versammlung teilgenommcn bat, in der man sich gegen die Ver- söbnunaspolitik der zentrumsfreundlichen Polen ausgesprochen bat. Abg. Schrader hat sich über die polnische Frage sehr kurz ausgelassen. Er vermißte die Angabe von Mitteln, wie man der polnischen Gefahr begegnen könne. Er selbst hat aber auch keine Mittel angegeben, auch Delbrück nicht. Wir von der Neichspartei bedauern den Katto witzer Vorgang, natürlich nicht im Sinne der Interpellanten, sondern es ist uns schmerzlich, daß cs überhaupt möglich war, daß deutsche Männer in der Ostmark durch die Vorgesetzten eine Korrektur haben er fahren müssen, weil sie den Posten, aus den ihre Behörden sie ver trauensvoll gestellt haben, nicht in der Weise versehen haben, wie man es von ihnen hätte erwarten können. (Lachen im Zentrum und bei den Polen.) Die ruhige besonnene Lehrerschaft steht vollständig aus unscrm Standpunkte, wie auch die katholische schlesische „Schulzeitnng" bestätigt. Alles spekuliert auf das Moment, wo europäische Verwicklungen ein treten. dann wollen und werden ^ie Sokols znr Stelle sein. Auch den am schwächsten mit gesundem Volkscgoismus Begabten muß es da all mählich aufdämmern, welche Gefahr in unsren Ostmarken droht. Abg. Heinze hat diele Gefahr treffend geschildert. Betrübend ist. daß sich unter unfern Lehrern Elemente gefunden haben, welche in dieser Be ziehung nicht unterrichtet waren, die Pakulla und Ada Mcz.wski für Zentrumsleute gehalten haben. Das Zentrum natürlich will nicht unter richtet sein; es sollte O st in a r k e n l i t e r a t n r lesen und Mit arbeiten, dann werden sich die Meinungen klären. Nun beliebt das Zen trum den beliebten Mandatsritt nach dem Osten zu machen; es sind Bündnisse mit den Polen für den Landtag abgeschlossen worden, die die Zentrumsvreste zum Teil geheimhält oder bestreitet. Und jetzt geht's auch in Oberschlesien los. (Wiederholte Zwischenrufe und Unter brechungen im Zentrum und bei den Polen.) Das Zentrum kann aber nicht verlangen, daß die übrige Bevölkerung sich von ihm in dieser Frage ins Schlevptau nehmen läßt. Die Abwehr ist kür uns Naturnotwendig keit, sie ist das Streben der Selbsterhaltnng. Wir lassen daher die Ne gierung nicht im Stiche, sondern treten an ihre Seite. Wir richten an Sie, alle Mitglieder des Hauses, welche für die deutsche Kultur und Ge sittung etwas übrig haben, den warmen Avpcll, die Ostmarkcnfrage nach ihrer ganzen Nedentnng zu würdigen und uns im Kampfe für deutsches Volkstum nicht allein zu lassen. (Beifall rechts.) Abg. v. Dziembowski-Pomian (Pole): Abg. Südekum hat »ns vor geworfen, wir hätten durch die Zustimmung zur Ncichsfinanzresorm das Volk ausplündern helfen. Bei dieser Reform haben wir nicht übersehen können, daß unsere polnische Bevölkerung meist eine ländliche ist und daß auf diese Interessen Rücksicht genommen werden müßte. Wo sink» Junker in der polnischen Partei? Von uns hat niemand eine Brennerei. Die Antwort der verbündeten Negierungen auf die Interpellation befriedigt uns nicht, sie ist von der Mehrheit des Hau'es mißfällig ausgenommen worden. Die Erklärung, daß es sich um eine nationale Frage und um Sicherung deS Bestandes des Deutschen Reiches gehandelt habe, kann ich kaum ernst nehmen. Wird denn der Bestand des Deutschen Reiches in Frage gestellt, wenn zwei polnische Herren in der Kattowitzer Stadtverordnetenversammlung gewählt werden? Solche Maßnahmen sind auf das Wirken des Ostmarkenvereins zurückznfübren. Der Staatssekretär bezeichnete die Polen als ein undankbares Volk. Ich erkenne an, daß die preußische Negierung viel Gutes und Nützliches gewirkt hat, aber Wohlstand und kulturelle Entwickelung des Volkes haben sich ganz unabhängig von der Regierung, ja oft gegen die Regierung vollzogen. Nach Gründung de? Ostmarken- vcreins haben wir versucht in der Provinz Posen einen Verein, einen polnisch-deutschen Verein zu gründen, einen Friedensverein und Ab- webrverein gegen den Hakatismus. Als wir Unter schriften sammeln wollten, erklärte man. wir würden als Landes verräter und als Verräter der deutschen Sache betrachtet werden. Abg. Heinze hat eine ganze Reihe von Zeitungsartikeln, aber ich bin nicht klug daraus geworden, was wir eigentlich wollen, und ick hätte so gern einmal Aufklärung darüber erhalten. Abg. Heinze hat aus Quellen geschöpft, die völlig kritiklos sind. In den letzten 20 Jahren bat die gewaltsame Gcrmanisiernngspolitik vollständig Fiasko gemacht. Der Glaube, daß wir germanisiert werden können, ist ein Traum, der nie- mass in Erfüllung geben wird. Wir sind nun einmal Polen, und den Hakatisten zuliebe werden wir unsere Na tionalität niemals aufgeben. (Sehr gut! bei den Polen.) Wir sichren den Kampf, weil wir ihn führen müssen: wir führen ihn mit Aussicht auf einen endlichen, aber ehrenvollen Frieden. (Beifall bei den Polen.) Abg. Lattmann (Wirtsch. Vag.): Würde in unserem deutschen Volke allüberall so viel Nationalgcsühl vorhanden sein wie bei den Polen, dann bestünde keine polnische Gefahr. Von allen Seiten wird die poli tische Freiheit der Beamten anerkannt; es handelt sich nur darum, ob nicht die eigenartige Stellung der Beamten eine gewisse Beschränkung dieser Freiheit begründet. Wenn Bismarck heute lebte, würde er doch vielleicht etwas anders denken, als damals, als er den Erlaß ergeben ließ. Wenn im sozialdemokratischen Staate irgendein So zialdemokrat wagte, öffentlich die agrarische oder konservative Weltanschauung zu vertreten, dann würde er wegen dieser Ueberzeugung Deutsche* Reichstug. 1K. Sitzung. I. Berlin, 13. Januar. (Privattelegramm.) Stiminungsbild. Die heutige Verhandlung beginnt da, wo man gestern stehen geblie ben ist, denn noch sind nicht alle Parteien über die Kattowitzer Beamten maßregelung zu Worte gekommen. Den Reigen eröffnet der Freisinn. Man kann nicht sagen, daß er sich einen ungeschickten Sprecher ausgesucht hat, der Abg. Schrader, der alte Vorkämpfer der Freisinnigen Ver einigung, steuerte geraden Schrittes auf sein Ziel: Verteidigung der Waylfreiheit der Beamten. Er schweifte aber doch gelegentlich von seinem Thema ab, um hier und da Seitenschläge auszuteilcn. So versetzte er zunächst Herrn von Bethmann Hollweg einen Hieb. Wo ist der Herr Reichskanzler heute? fragt er bestimmt. Ja, unter der Aera Bismarck war es anders! Bismarck kam selbst in den Reichstag, um seine Maß nahmen zu verteidigen. Der jetzige Kanzler jedoch scheine das Prinzip zu vertreten, mit dem Parlament überhaupt nicht verhandeln zu wollen. Auch mit der Haltung der Nationalliberalen ist der Herr Schrader weniger einverstanden, und er benutzt die Gelegenheit, eine versteckte Aufforderung zu einem Großblock anzubringcn. Damals, zu Zeiten des eisernen Kanzlers, hätten auch die Nationalliberalen auf feiten des Frei sinns gestanden und beide Parteien hätten dadurch, wenn auch keine abso lute Majorität, so doch wenigstens ein starkes Uebcrgewicht zuwege ge bracht. Heute sei es anders, heute hätten auch die Nationalliberalen ihr Wort für die Regierung iu die Wagschale geworfen und ihre Haltung in der Kattowitzer Deamtenversetzuna gebilligt. Sind seine Ausführungen immer noch maßvoll und sachlich gehalten, so findet der Sozialdemokrat Südekum schon schärfere Worte. Der Staatssekretär Delbrück hat den Saal auf kurze Zeit verlassen, da eine gleichzeitig tagende Sitzung des Bundesrats seine Anwesenheit fordert. Dies benutzt der Sozial demokrat als Sprungbrett, um ebenfalls gegen das Nichterscheinen des „Majors von Bethmann Hollweg" zu Felde zu ziehen. Die VorgäM in Kattowitz seien nur der Dank der Regierung für die Mithilfe der Polen bei der ^inanzreform. Könne man es ihnen überhaupt verdenken, wenn sie jedes Mittel als Recht ansähen zur Bestätigung ihrer Gedanken? Der Abg. Heinze habe am Vortage gegen die Politik dieses geknechteten Volks- stammes geeifert. Was hätte aoer der sächsische Nationalliberalismus in Wahrheit getan? Hochverrat hätte er 1866 getrieben, als er durch einen Anschluß an Preußen die Selbständigkeit Sachsens untergraben wollte. In dieser herzerquickenden Tonart geht es eine ganze Weile weiter: Rußland, Finnland, Oesterreich-Ungarn, Siebenbürgen kamen an die Reihe, und es dauert lange, bis sich der Redner zum eigentlichen Thema znrückfindet. Mit einem Appell an die Aufhebung der öffentlichen Wahl sucht er sich einen guten Abgang auch bei den übrigen Parteien zu sichern, jedoch gelingt es ihm nur, den Beifall seiner Fraktionsgenossen zu erwecken. z Inzwischen ist der Staatssekretär Delbrück wieder erschienen und ergreift sogleich nach dem Sozialdemokraten das Wort. Er verteidigt sich gegen unrechte Unterstellungen, die er in den Worten des Abg. Schräder erblickt hat. Wie sei überhaupt die Stellung der Beamten zur Regie rung? Der Staatsrechtslehrer Laband beantwortet die Frage dahin, daß der Beamte durch die Uebernahme seines Amtes in ein Dienst- und Ge- waltsverbältnis zum Staate trete und sich darum den zur Vertretung des Staates berufenen Organen unterordnen müsse. Von diesem Gesichts punkte aus sei die Versetzung der Kattowitzer Beamten zu betrachten als eine Maßnahme nationaler Notwehr. Auf denselben Standpunkt tritt der Abg. K o l b e (Rpt.), der gewissermaßen als Vertreter der Lehrer schaft spricht. Selbst die katholische „Schlesische Lehrerzeitung" habe die Versetzungen zwar für scharf, aber für völlig berechtigt erklärt. „Wir wollen keine Gendarmenpolitik, aber eine energische Abwehr polnischer Uebergrisfe." Somit sind alle Parteien zu Worte gekommen, und wenn man nicht mehr weiter kann, da fängt man wieder von vorne an. Nach diesem löblichen Grundsatz ist wieder ein Pole an der Reihe. Es scheint dem Abg. v. Dziembowski eine wahre Wohltat, das alte Schlachtlied der Polen gegen den Ostmarkenverein anzustimmen. Nicht das Polen- tum, sondern dieser Verein, der sogar der Regierung Vorschriften mache, sei eine Gefahr für den Staat. Es spricht noch der Abg. Lattmann (Wirtsch. Vgg.), der es für gut erachtet, dem jetzigen Regime eins auszu- wischcy. Zwar billigt er den Kampf gegen das Polentum vollständig, doch hätte er es gern gesehen, wenn es die Regierung „geschickter^ ange fangen hätte. Dr. Doormann (Frs. Vpt.) schiebt die Schuld an den ganzen Mißständen der katholischen Geistlichkeit zu, die selbst von der Kanzel herab Hetzarbeit treibe. Doch klingen seine Schlußworte in eine eindringliche Mahnung zum Frieden und zur Äerföhung aus. Tie Interpellation ist damit erledigt und die Neichsboten können zu dem nächsten Punkt der Tagesordnung übergehen: Erste Lesung der I u st i z g e s e tz e. Es ist Ausgabe des neuen Staatssekretärs des Rcichsjustizamts, Dr. Lisco, als Erster das Wort zu nehmen. Bisher hat er zwar fast jeder Sitzung beigewohnt, doch nur als stummer Zu schauer. Heute wird ihm Gelegenheit, sein „erstes Debüt" zu feiern. Ein neuer Mann interessiert immer. Aber die Abgeordneten, die sich nicht noch ein Plätzchen vor dem Bundcsratstische sichern konnten, kommen nicht auf ihre Kosten. Herr Dr. Lisco spricht mit so leiser Stimme, daß leine Worte fast völlig verhallen, und redet daher vor fast leeren Bänken. Und als, nachdem er geendet, die Sitzung auf Freitag vertagt wird, sieht man kaum noch ein paar Dutzend Abgeordnete im Saale. Sitzungsbericht. Am Bundesratstische anfänglich niemand, später Staatssekretär Delbrück, Kraetke, Dr. Lisco. Erster Vizepräsident Dr. Spahn eröffnet die Sitzung um 1^4 Uhr. Die Besprechung der vom Zentrum und den Polen ein gebrachten Interpellationen betreffend die Mastrertelunq von Reichsbcnniten in Kattowitz wegen Ausübung ihres kommunalen Wahlrechts wird fortgesetzt. Abg. Schrader (Frs. Vgg.): Ucber die Polenfrage nur eine kurze Bemerkung: Solange ich im politischen Leben stehe, sind gegen die Polen eine ganze Menge von Maßregeln, Massenausweisungen, Ansiedelungs gesetzen usw. getroffen worden. Der Erfolg war nur der, daß viele Polen ein gutes Geschäft gemacht haben und daß sie das ge wonnene Geld dazu benutzt haben, um sich in deutschen Gegenden anzu kaufen und daß sie auf diele Weise wirtschaftlich und politisch in die Höhe gekommen sind. Wenn nur die richtigen Mittel zur Germanisierung er griffen würden, wären meine Freunde bereit, daran mitzuarbciten, denn auch uns liegt daran, in Polen für Deutschland tüchtige deutsche Staats bürger zu gewinnen. (Zustimmung links.) Weit wichtiger aber als die Polenfrage ist die Frage der Wahlfreiheit. (Sehr richtig! links.) Wir haben über diese Angelegenheit von dem Staatssekretär Dinge hören müssen, die bis jetzt kein Staatsmann auszu sprechen gewagt hat (Lebhafte Zustimmung.), denn er hat gesagt, daß leder Beamte verpflichtet sei, im Staatsinteresse alles dasjenige zu tun, was seine hohen Vorgesetzten von ihm verlangen; das entspräche seiner Pflicht als Beamter, das entspräche seinem Treueid. Mir ist nicht be kannt, daß der Beamte andere Pflichten hat als die, die ihm sein Amt auferlegt, als die, die ihm das Gesetz auferlegt und n i ch t s e i n Bor ge s e tz t e r. (Zustimmung links.) Das steht im Reichsbeamtengcsetz und das versteht sich ganz von selbst, denn der Beamte ist ein D i c n e r d e s Staates. (Erneute Zustimmung.) Nach 813 des Reichsbeamtengesetzes ist jeder Beamte für die Gesetzmäßigkeit seiner amtlichen Handlungen verantwortlich (Zustimmung.), es darf aber keinem Beamten etwas zu gemutet werden, was ungesetzlich ist (Erneute Zustimmung linis), und am wenigsten kann man ihm ein Recht vorenthalten, das jedem Staatsbürger zusteht, das Wahlrecht, überhaupt das Recht der freien Verfügung an allen Stellen, wo er nicht als Beamter auftritt. Dasselbe Recht hat er auch in der kommunalen Körperschaft. Er kann alles tun, was er will, solange er nicht seine Amtspflichten verletzt. Wenn eine so große Anzahl von Stimmen einfach gebunden wird, heißt das die Verfassung über den Hausen werfen. Wenn Fürst Bülow diese Theorie gehabt hätte, hätte er die Beamten einfach kommandieren können seinen Zentrumsmann zu wählen. (Sehr richtig! Heiterkeit im Zentrum.) Es kann auch ein mal den Konservativen so geben. Den Verhandlungen 1882 im Reichstag über das Wahlrecht habe ich selbst beigewohnt. Der Reichstag 1882/83 gefiel Bismarck absolut nicht, er stand mit ihm im schärfsten Kampfe, er suchte nach allen Mitteln, ihn zu schädigen. Eines dieser Mittel war der Erlaß von 1882 über die Wahlbeteiligung der Beamten. Darüber wurde im Reichstag verhandelt, Bismarck erschien selbst. Er hatt'c die Gewohnheit, bei wichtigen politischen Fragen selb st zu kommen (Große Heiterkeit.), um die volle Verant wortung zu tragen. (Lebhafter Beifall.) Reichskanzler v. Beth mann Hollwea hat das Prinzip, überhaupt nicht mit unszu reden. (Lebhafte Zustimmung.) Wir werden um so deutlicher mit ihm zu reden haben, als er deutlich schweigt. (Beifall.) Die Verhandlung damals war außerordentlich heftig, Bis marck war erregt bis zum äußersten gegen die liberalen Parteien. Dieser Mann, der nach Mitteln suchte, den Reichstag zu schädigen, hatte aber so viel Gefühl, für seine Pflicht und für die wahren Interessen des Staa tes, daß er in der Erläuterung seines Erlasses ausführte, er verlange nichts anderes, als daß die politischen Beamten die Interessen der Re gierung in der Wahl nur so weit vertreten, daß sie unrichtige Behaup tungen gegen die Negierung richtig stellen. (Hört, hört! im Zentrum und links.) Die Regierung verlange nur, daß sie nicht in unwür diger Weise agitieren. Der erste Reichskanzler wollte also den Beamten die Wahlfreiheit in keiner Weise verkürzt wissen (Hört, hört! im Zentrum und links.), und niemals ist ein anderer Grunvsatz ausge sprochen worden. Wenn der Reichstag überhaupt der Reichstag ist, der die Rechte des Volkes schützt, müßte er erklären: diese Theorie des Staatssekretärs können wir nicht billigen, weil sie absolut der Ver fassung widerspricht. (Lebhafter Beifall.) Bei dem ungeheuren An wachsen der Beamtenschaft von den höchsten bis zu den niedrigsten Stufen haben wir das größte Interesse daran, diesen Beamten entweder die Freiheit der Wahl cinzuräumen oder ihnen überhaupt das Wahlrecht abzunehmen. (Sehr richtig! links.) Das letztere aber wollen wir nicht, dann aber müssen wir ihm auch das Recht geben, seine eigene Ueberzeugung zu vertreten. Der Staatssekretär sprach gestern immer von der Staatsnotwendigkeit und von dem Staat, der Maßregeln getroffen habe usw. Dann bringen Sie doch ein Gesetz ein, in dem klar bestimmt wird, daß der Beamte sein Wahlrecht auszuüben bat nach Anweisung seiner Vorgesetzten. Wir haben dagegen zu protestieren, daß solche Theorien nicht bloß ausgesprochen, sondern auch in die Tat übersetzt werden. (Lebhafter Beifall links.) Vielleicht gibt der Reichskanzler dem Staatssekretär des Reichsjustizamts Gelegenheit, seine Meinung auszusprechen. Wir werden jetzt darauf bestehen müssen, daß unsere Anträge auf Abänderung der Verfassung in eine Form gesetzt werden, die uns Mittel in bezug auf die Verantwortlichkeit der Minister in die Hand gibt. Das wird unsere Aufgabe für die nächste Zeit sein. Ich hoffe, daß nächstensauch der Reich skanz- l e r Gelegenheit nehmen wird, uns nun endlich seine Ansicht mitzu teilen. (Stürmischer Beifall links.) Abg. Dr. Südekum (Svz.): Es ist einigermaßen auffallend, daß aus diese Rede nicht einer der Regierungsvertreter das Wort nimmt. Die klatschenden Schläge, die Abg. Schrader ausgeteilt hat, scheinen so ge sessen zu haben, daß man erst längere Zeit aufwenden muß, um nach neuen Ausflüchten zu suchen. Ich schließe mich dem Verlangen auch meinerseits an, daß es dem. sagen wir mal Major von Bethmann Hollweg (Große Heiterkeit.) gefällt, uns endlich seine An sicht hier selbst mitzu teilen. Das Verfahren, sich taubstumm zu stellen, büßt allmählich am Reiz der Neuheit ein; es kann uns nicht mehr be friedigen. Als es sich um die Reichsfinanzreform handelte, habe ich mir gesagt, die polnische Fraktion, die Vertretung des mißhandelten, geknech teten, brutalisierten polnischen Volkes, könne sich nie und nimmer ent schließen, einer Regierung mit dem Zentrum solche Steuern zu be willigen. Da kam der Kampf um die Liebesgabe an die agrarischen Schnapsbrenner; da sielen die polnischen Junker um; die Sache hatte einen metallischen Beigeschmack. Die Polen haben es ver schuldet, daß die von dem Abg. Bassermann so treffend gekennzeichnete Ausvlünderung in Massen zustande kam. Erfreulicherweise hat Abg. Schrader zu einem Teile heute wieder gut gemacht, was der oberschlesische Liberalismus Kattowitzer Art gesündigt bat. Der Staatssekretär sprach von großpolnischcr Agitation. Wir folgen ihm auf diesem Weg« nicht. Wir halten die Polen innerhalb der deutschen Grenze nicht für schuldig solcher Tendenzen; aber wären sie es, so trüge neben den Hakatisten die Regierung ihr vollgerütteltes Teil der Schuld. Die Regierung hat ja die Polen exlex gemacht, und würden sie sich gegen diese Regiemlng zu- sammenschließen, so handelten sie in der Notwehr. Abg. Heinze hat sich gestern beträchtlich über die Polen entrüstet; er hat ganz vergessen, daß die Nationalliberalen Sachsens 1866 Hochverrat trieben, indem sie für den Anschluß an Preußen agitierten! Im Nikolsburger Frieden mußte besonders ausgemacht werden, daß diese Sachsen von Bestrafung dafür ausgenommen sein sollten. Wenn die polnische Gefahr wirklich so groß ist, wie sie hier ausgemalt wird, dann sollten doch Leute von so großem Einfluß und Beredsamkeit wie Abg. Heinze ihre nationalliberalen Parteigenossen veranlassen, zu ver hindern. daß nicht so massenhaft slawische Arbeiter dorthin ziehen. Im Interesse unserer Ausländsdeutschen müssen wir gegen Reden, wie sie Abg. Heinze gehalten hat, den entschiedensten Protest er heben. Sic können nur dazu dienen, den Gewalthabern in Rußland den Rücken zu stärken, um die Finnländer zu brutalisieren. Die Argumen tation der Staatssekretäre Delbrück und Kraetke war so dürftig, daß daraus nicht viel zu machen ist. Es war ein Knochen. Beide Herren sind nicht einmal über die Terminologie einig. Der Staatssekretär des Ncichsamtes des Innern spricht vom der Staatssekretär des Reichspostamtcs von der Regierung. Mit opportunistischen Gründen kann man jederzeit beweisen, daß beide Staatssekretäre und der Reichskanzler wegen des Falles Kattowitz schleunigst in ein besseres Klima versetzt Weichen müssen, selbstverständ- lich im Interesse des Dienstes. (Große Heiterkeit.) Es fehlte nur noch, daß die aktiven Militärs das Stimmrecht erhielten, dann könnte der Kriegsminister seine Bataillone an die gefährdeten Posten kommandieren, um einen — sagen wir mal — (Heiterkeit) Konservativen zu wählen. (Heiterkeit.) Der Staat hat nichts von den Beamten zu verlangen als Pflichterfüllung, dazu gehört nicht auch hündische Preis gabe und Aufgabe der politischen Ueberzeugung. Wir wollen keinen Zweifel lassen, daß wir, um den Beamten die Gesinnungsfreiheit zu ga rantieren, den Kampf auf der ganzen Linie ausnehmen, und wir werden in ihm mit Delbrück und Kraetke schon fertig werden. Diese Betrachtungen führen uns direkt in das Herz der preußisch-deut- schen Frage, W W W W » I-StpLts, term,pr. 1VZV.
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