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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 03.02.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-02-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191002031
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100203
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100203
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-02
- Tag 1910-02-03
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Monat
1910-02
-
Jahr
1910
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4. Beilage Donnerstag, S. Februar 1V1« Leipziger Tageblatt. Feuilleton. Im Garten Gottes wird der Lärm der Welt Gesang, und Gottes Garten wird ein Herz, das sich bezwang. Otto Julius Bierbaum, Otto Irrtttir Blerbanin Der Dichter ist in Dresden an einem hartnäckigen Nierenleiven gestorben. Ein großer, rin wirklicher Künstler gehi mit Otto Julius Bierbaum nicht dabin. Denn er war nur ein harmloser, vergnügter Bürger m t einigen Zigeunerallüren, ein „liebenswürdiges Talent", wie der Ausdruck der jouinalinischen L teraiurlechmk lautet. Trotz der großen schriftstellerischen Verdienste, die sich Bierbaum in mancher Hin sicht erworben hat, hafteten seinem jovialen literarischen Exterieur, das sich markante Gesten von Hartleben und Liliencron angeeignet halte, doch ein paar unsympathische Züge an. Immer wieder spiegelte siw, manchmal eitel wie ein Pfau, in seinen Dichtungen der Bier-Epikuräer, der „ewige Stuv-nt", den die Glorie eine- behaglichen Moselwein-Optimismus umrahmte. Bierbaum sprühte von besserem akademischen Siammtisch-Humor. Er war ein unentwegter Philister, der ab und zu im bunten Trubel der Boheme unterzutauchen pflegte und häufig Nicht besonders reizvoll daraus zuiücklebrte. Doch beute seien seine Schwächen nur mit kurzen Schlaglichtern gestreift. Es sei besonders daran erinnert, daß er ein gutes Formtalent war, das die deutsche Lyrik, wenn auch manchmal nur durch Improvisation, um ein paar seinste Stücke bereichert bat — lo mit den aichaistisch aufgeputzien grazimen Reimen des Buche» „Nemt Frouwe, Visen Kranz", das in den neunziger Jabren erschien. Entzückende Verse, Liedchen Mit leichten, Hellen Schwingen, w e bunte Falter im Sonnenlicht und über silbernen Fontänen, glän.ten im „Irrgarten derLiebe". Ein kurioser Anakleontiker st mmie die Haise, ein schmunzelnder Tioubadour mit ungeniert erotischer Gebäide, der hold von der Liebe und ihren ewigen Wonnen sang. Unv aus dem bald zerstörten Ueberbrettl erklang das einst populäre Kling Klang Glon- busch seines „Lustigen Ehemannes". Dann ziehen die ironilch beleuchteten, ost bizarren und grotesken Maske, züge der Prosaeichtungen dieses unerschöpslichen Produzenten vor über. Bierbaum tolgte den Spuren Hartl,benS in den köstlichen „Siutenten- bcichten". Trefflich kommt seine parodistische Gabe m den Schnurren „Die Schlanaenvame", „Pankratius Graunzer" und „KaktuS" zur Geltung Sein bester Roman ist jedoch der allbekannte tragrkom sche „Stilpe", in dem die moderne L'teiaturwelt in einer Reihe von brillanten Porträts (PrzybyszcwSki, Harden) auSgebreilet wird. Ein großartiges Zeiibild. Dann warf er die drei dicken Bände des „Prinzen Kuckuck* aus den Markt. Ein biograpbi'cher Roman mit etwas grob aufgetragener Erotik, voll von Ungeheuerlichleiten unv Karikaturen. Wevcr war Bierbaum der Romantiker des Schlafrockes unv der langen P'kife. Zu nennen sind noch der chinesiiche Roman „Das Märchen von Pao" unv die hüb chen „Sonderbaren Geschichten", die der Art Poes nahekommen. Auch sür die Bübne hat Bierbaum geschneben, so den „Lobelanz", die Märchenspiele „Gugeline" (Musik von Thuille), „Die ver narrte Prinzeß", „Pan im Bu ch" (Musik von Mottl). 1903 erschien sein Drama „Stella unv Antonie", eine kraftgenialische Schauspieler- Tragörie, die nicht bloß ein stilgetreues Melovram war, sonvern auch neue Möglichkeiten erhoffen ließ. Bierbaum war zeitlebens der Dichter des StudententumS und einer gewissen Kuniiboheme. Zugleich tummelte er sich unermüdlich als froh gemuter kritischer Revolutionär, der mit beweglichem Geist bald hier, Kalo da neue Jce-n unv neue Stimmungen zusammeniaffte. So war er ein Herolv BöcklinS, Fran; von Stucks und Uhves. Er kannte die Poesie der Franzosen und der Russen. Er wußte zu organisieren und zu sammeln. Zum Schluß noch ein paar Worte über Bierbaums Lehen. Er wurde 1865 in Grünberg geboren, als Sobn eines Konditors. Später war sein Vaier Restaurateur in L 'pzig, wo Otto Julius ja auch ost geweilt hat. In den Jahren 1891, 1893 und 1894 gab der Ver storbene in München den „Modernen Musenalmanach" heraus. Da- zwi chen übernahm er in Berlin die R eaktion der S. Fischerichen „Freien Bübne", die noch eine KampueitschrNt in billigen grünen Haften war, unv die er „Neue reuiiche Rundschau" umtaufte. Sovann gründete er mit Julius Meier-Gräfe den „Pan", dieses unvollendete D nkmal eines erlesenen Kunstgeut macks, noch später mit Heymel und Schröder die „Intel". Die „Deutschen Chamons", jenes graziöse Bändchen von Liebes- und Sche menliedein von etwa zwanzig deutschen Poeten, haben ibn mit der Ueberbreitlbewcgung in Verbindung gebracht. Zuletzt lebte Bierbaum in Dresden. Bierbaum in Dresden. Unser Dresdner Korrespondent schreibt unS: Otto Julius Bierbaum ist nach län rerer Krankheit, die er selbst noch vor ku-zem nickt recht ernst nehmen wollte, gestorben. An der einsacken Villa, die er hier in Dresden in der Bern.-arvslraße bewohnte, hing seit dem November schon ein Schilv: „Möbliert ober unmöbliert zu vermieten" — obwohl er erst voi Jahres frist etwa berg-kommen war. Er halte sick's anders gedacht, als es ihn nach Dresden «og, wo er seine Jugenvjahre auf dem Freimauierinstitui ver bracht hatte. Er hatte eine unbestiMMieSehn'nchi emp'unden nach den Slätien junger Jahre — und batte vergessen, raß auch ras Dunkle jener Zeil hier wieder emporkommen wurde. Er glaubte immer wieder den Menschen zu begegnen, die ihn damals gequält hauen; das verdarb ihm nach und nach die Stadt und er saßte den Ent'chiuß, ihr wieder den Rucken zu kehren. Er wollte nack Florenz zurück, rn die H imat seiner Krau — bis ibn die Krankheit ergriff, tue ihn nach langem Widerstand jetzt vorzeitig gefällt bat. In Dresden hat man ihn wenig gesehen. Nur dann und wann gegen Abend tauchte der große Hut über den runden Brillengläsern irgendwo auf — flüchtig, sür ein paar Augenblicke. Seine Zeiteinteilung brachte daS so mit sich. Er hatte, um besser arbeiten zu können, die Nackt zum Tage gemacht, stand erst gegen 2 Uhr mittags auf, „lebte" bis zum Abend, um dann die Nacht hindurch, wenn er Ruhe haue, bis in den grauenoen Morgen hinein zu arbeiten. Nur durch diesen intensiven Fleiß Hal er die Uniumme von Arbeit zu leisten vermocht, dre er, kaum 45jährig, hinterlassen hat. In der Oeffentlichkeit ist er währenv seines Dresdner AutenthaltS nur einmal hrrvorgetrelen — als es galt, bei einer Erinnerungsfeier für se nen Freund Detlev von Lilienci on die' Gedächtnisrede zu halten. Er tat es mit gehaltener Festigkeit — wie denn überhaupt die Freudigkeit, jener Zug vom ewigen Siudenten, den er sich selbst einmal zugesprochen Hai, in der letzten Zeit von ihm gewichen war. Es war, als fühlte er selbst, daß es aus das Ende g ng. Seit kurz vor Weihnachten begegnete man ihm dann nicht mehr — nur die drei weißen Pinscher, die seit seinem Einzug getieulich Wache an der Villa in der Bernhaidtstraße hielten, blickten nach w'e vor melancholisch durch daS Gitter auf die Siraße. Dann kam daS eiste Gerücht von einer ernstlichen Erkrankung, daS er selbst dementierte, und alle« schien wieder in Ord nung — dis jetzt auf einmal das plötzliche Ende kommt. So über raschend, daß nicht einmal mehr seine Gattm, die zur^Erholung in Italien weilte, ihn lebend angetrossen hat. Ein alieS N eienleiden, zu dem in den letzten Wochen Waffe,>uchi kam, hat ihn dahing rafft. An seinem Sterbelager weilte seine alte Mutter; leine letzten Worte waren an sie gerichtet: „Jetzt sebe ich schon den Vater — ich sehe ibn schon vom weiten." Als keine Frau beute früh nm 7 Uhr eintraf, w r er tchon tot. Die Leiche wird nach Chemnitz zur Einäscherung übcrgesührt werden. Die letzten Stunden deS Dichters. Ferner wird aus Dre Sv en gemeldet: Bierbaum litt seit langer Zeit an N'e,encrlran<ung. Die Aerzle verschwiegen dem Kranken in wohlwollender Absicht seinen hoffnungslosen Zustanv. Indessen trat in den letzten Wochen Wassersucht hinzu und verschlimmerte die Lage des Kranken weienikich. Schon seit 10 Tagen veimochie der Dichter keine feste Nahrung mehr zu sich zu nehmen, sondern winde künstlich ernährt. Am Sonntag trat zum erstenmal Todesangst bei ihm auf. Es wurde testier am einer Erholungsreise in Italien weisenden Gattin telegraphiert, worauf sie so!vrt die Rückreise antrat, lieber die letzten Stunden des D chterS ist noch folgendes zu berichten: Beieits vorgeuern vormntag um 10 Ubr trat Bewußtlosigkeit ein. Am Nachmittag um 3 Uhr rang der Kranke schwer nach Atem und erwachte dadurch wieder, wober er ausrief: „Mehr Aiein". Bei seinem l-tzten Ausleben waren die ihn bebandelnden drei Aerztc sowie seine hochbeiagie Mutter zugegen. Die Gattin Bier baums traf erst irüh 7 Uhr in Dresden ein und War untröstlich über den Verlust des Gatten. , Leipziger Erinnerungen. Von Otto Julius Bierbaum. Meine frühesten Erinnerungen an Leipzig sind gußeiserner (oder bronzener?) und monumentaler Natur. Heule noch kann man auf dem Naschmarkt die beiden Löwen sehen, an die sie sich knüpfen. Auf diesen Löwen nämlich pflegte ich zu reiten, als ich der ersten Hosen für würdig befunden war. Tas war so gegen 1870. Mein Vater hatte damals eine Wirtschaft inne, die sich in der damaligen Nr. 4 der Grimmaischen Straße befand: genau gegenüber diesen verlockenden Löwen. Die Mitglieder der Burschenschaft "Ger mania", die bei ihm verkehrte, pflegten mich „Bierast den Löwenritter" zu neunen. Es ist Felonie von mir gewesen, daß ich später nicht Burschenschafter, sondern Korpsstudent geworden bin, denn ich kann wohl jagen, daß ich eine wahrhaft innige Liebe und Bewunderung sür die „Germanen" hegte, die sie aber auch reichlich vergalten. Sie leben in meiner Erinnerung samt und sonders als wahre Ausbünde von Ritterlichkeit, Lustigkeit, Kraft und Schönheit. Studenten waren für mich Helden, und es schien mir nur selbstverständlich, daß zuweilen mal eia Held un Kumpfe siel. Es kam ja dann auch bald die Zeit, wo das Wort „.Heldentod fürs Vaterland" täglich ausgesprochen wurde, und cs waren genug Leipziger Studenten unter denen, für die cs galt. Von den „Germanen" batte einer, den man den langen Müller nannte, den Feld- zog milgemacht. Von dem wurde erzählt, er sei beim Bajonettangriff aus eine Abteilung Turkos lang hingesallen und habe dadurch eine ganze Kompanie dieser „afrikanischen Teufel" ins Wanken gebracht. Da ich ähnliches mit Bleisoldaten oft genug ausgeführt hatte, zweifelte ich nicht im mindesten an der Exaktheit dieses Details aus dem Fclozuge. Im übrigen gehörte ich zu den Leipziger Jungen, die mit den fran zösischen Kriegsgefangenen in freundschaftlichste Geschäftsverbindung traten. Als Sohn eines Wirtes war ich besonocrs kapitalkräftig, wenn ick mich so auc'drückcn darß da ich hauptsächlich in Naturalien zahlte. Ich plünderte die kalte Küche meiner Mutter und erwarb für Wurst- und Schinkcnrcste eine ganze Sammlung französischer Unisormknöpfe. Meine Eltern verwandten mich gerne zu Botengängen, und ich war damit durchaus einverstanden, da sic sich in der Hauptsache zu Delikatesse" gesckäften richteten, wo ich gewöhnlich etwas „zukriegte". Während der Messe aber stellte ich mich als unbrauchbar dazu heraus, weil mich die Herrlichkeiten der Budenstadt auf dem Altmarkte viel mehr inter essierten, als der Umstand, daß die Wiener Würstchen, die ich bringen sollte, sogleich und nicht erst nach Stillung meiner Neugierde gebraucht wurden. Als ich gar einmal die ganze Summe, die für „essende Ware" bestimmt war, in Schaubuden und Karussells veruntreut hatte, erklärte mich mein Vater für ein gewissenloses Subjekt und ungeeignet für Vertrauensposten. Nur der Einspruch der gesamten Burschenschaft „Ger mania" rettete mich vor einer schweren Tracht Prügel; aber mit den lukrativen Botengängen war es aus. Bald auch mit meiner Leipziger Kinderzeit, denn meine Eltern sanden, daß ich strengerer Beaufsichtigung bedurfte, als sie leisten konnten, und taten mich nach Dresden ins Freimaurerinstitut. Darüber kann man einiges im „Stilpe" nachlesen. Leipzig sah mich erst als Untertertianer der Thomasschule wieder. Die Sckola Thvmana war eben aus ihrem alten Hause neben der ThomaSkirche nach dem neuen übergesiedelt, das nur wie ein ungeheurer Palast vorkam. Auch der alte Rektor Eckstein imponierte mehr sehr, wie ich denn überhaupt vor alten Lehrern immer viel Ehrfurcht gehabt habe, während mir die jungen, „schneidigen" weniger imponierten. In der angenehmsten Erinnerung ist mir der geblieben, der Schümann hieß und Schümp genannt wurde. Er war ein Original, und ich fürchte, daß er bei seimn Kollegen weniger beliebt war als bei seinen Schülern. Einige seiner Schrullen waren ja komisch, und wir amüsierten uns manchmal mehr über ibn, als respektvoll war: aber der bittere Hohn, mit dem sich Schüler über die Schwächen unsympathischer Lehrer lustig machen, hlieb von ihm fern. Er ließ es zu, daß wir ihm schallend ins Gefickt lachten, aber keiner grinste hinter feinem Rücken. Ich für mein Teil liebte ihn geradezu, obwohl er mich oft genug arg demütigte, indem er Stellen aus meinen Aufsätzen, die ich für besonders schön hielt, dem allgemeinen Gelächter preisgab. Dafür durfte ich aber bei ihm Aufsätze in Versen schreiben und hatte den Genuß, sie von ihm ex ostsicckra im Dc-nnerion deklamieren zu hören, wenn sie sein Plazet erhalten hatten. Er war keiner von den verhängnisvoll schlechten Pädagogen, die da glauben, Jugend müsse vor allem geduckt werden. Wo er Talent sah, ließ er sichs tummeln; selbst Bocksprünge sah er gelassen lächelnd mit an. hatte aber eine sehr feine ironische Manier, jedem Bäckchen seine Ge schmacklosigkeiten so zum Bewußtsc in zu bringen, daß es das nächste Mal etwas bedachtsamer hovvste. Das Leipziger Stadttheater befand sich damals in voller Blüte; es war die Zeit, als August Förster und dann Angelo Neumann seine Leiter waren. Förster hatte ein wunderbares Mädchen mit nach Leipzig gebracht: die Wiener Schusterstochter Joscfine Wessely. Wer nicht die als Gretchen im Faust, als Klärchen im Egmont gesehen hat. weiß nicht, wie lebendig Gretchen und Klärchen werden können. Over war es nur meine Jugend, die unter dieser Erscheinung so heftig bebte, so be geistert ausschäumte, so rasend innig glücklich war? Es kann wohl sein, und ich wünsche von Herzen, daß die heutige Jugend eben solche Ideale vor sich hat. Aber ich glaube es nicht: glaube es wenigstens nicht im Umkreise der Wessely-Rollen. Die großen Künstlerinnen von heute stellen wohl anderes dar, und sie wirken wohl auch ausschließlicher durch ihre Kunst, sind nicht so ganz Verkörperung. Uno sentimale Ideale gibt es wohl gar nicht mehr. Sagt die heutige Zeit nicht: Was ist uns Gretchen? Hat sie nicht — Nora? (Falls wir uns nicht ermutigen wollen, den Bogen gleich zu Wedekinds Lulu zu schlagen, — von der Wessely zur Eysoldt. Womit ich übrigens gar nichts gegen diese Künst lerin oder gar gegen Wedekind sagen will, den ich bewundere.) Nun: wir damals hatten noch sentimentale Ideale (und sind eben deswegen einmal Naturalisten geworden). Goethes Gretchen und Klärchen waren nns die weiblichen Inbegriffe alles Holden, Guten, Schönen, Rühren den: wir liebten sie nicht wie Gestalten der Dichtung: sie lebten in uns, und wir glaubten an ihre Realität: Wenn wir eine Geliebte suchten, so suchten wir sie (und fanden sie auch: denn wer da klopfet, dem wird auf getan.) Und nun stelle man sich vor, daß diese wunderbaren, unseren Herzen völlig vertrauten Wesest aus der Bühne des Leipziger Stadt theaters vollkommen lebendig wurden in einem achtzehnjährigen bild schönen Mädchen, bei dessen Anblick schon man die ganze Welt von Pnppe vergaß, und dessen Stimme selbst Goethen vergessen ließ. Nr. 3S. l04. Jahrgang. Neben dieser Erinnerung verblaßt für mich sogar die an die ersten Generalproben der vier Tage des «Rings der Nibelungen". Ich durste bei ihnen gegenwärtig sein, weil der Kapellmeister Sucher cs mir ge- stattete, ihm zu jeder einen Korb mit Flaschenbier ins Theater zu brin gen. Dieser Korb hat mir auch zuerst die Möglichkeit gegeben, den schauerlich geheimnisvollen Blick hinter die Kulissen zu tun. Ich brachte ihn der üppigen Marie Geistinger, die sowohl die Goethische Iphigenie, als das Nanol im „Versprechen hinter dem Herde" gab, und ich brachte ihn der genialen Reicher-Kindermann, deren „Earmen" mir ewig unver geßlich bleiben wird. Als ich das Wurzener Gymnasium glücklich hinter mir hatte, zog ich ein Semester nach Zürich, wo ich gerne viel länger geblieben wäre, wenn ich nicht befürchtet holte, cs wurde mir dann das Einjährigen- Jahr um so unangenehmer sein. Es war es auch so. Ich unterschätze oie Wichtigkeit deS langsamen Schrittes sür die Ausbildung des In fanteristen gewiß nicht und hege keinerlei Zweifel daran, daß das Knie beugen mit gleichzeitigem Geivchrvorwärtsstrecken für die Kräftigung der Muskulatur äußerst probat ist, aber mein lyrisches Gemüt fand um so weniger Reiz daran, als man es damals für nötig hielt, gerade den Einjährigen gegenüber einen Kasernent m zu pflegen, der auch weniger zart besaitete Seelen einigermaßen übel berühren mußte. Als das Jahr des Drills vorüber war, kam mein Mensurcn- Semester. Jodoform gab meiner Frisur das Parfüm, Stangenpomade die Form. Damals war der Scheitel de rigueur, der bis zum Nacken durchgczogen sein mußte. Ein Friseur in der Nähe der Lausitzerkneipc (damals beim „Kaffeebaum" gelegen), hatte das nicht ganz einfache Amt, diese Allee durch das auf dem Paukboden dcrangierte Haarwerk zu ziehen. Ergab sich die Notwendigkeit dabei, einen frischen Schmiß zu überqueren, so hatte der Haarkünstler Gelegenheit, den Reichtum meines Lexikons an onomatopoetischen Interjektionen zu bewundern. Aber nur, wenn mein Leibbursch nicht dabei war. Denn das war ein Spar taner, der es durchaus leugnete, daß Schmisse in irgendeinem Zustande unangenehme Gefühle erzeugen könnten. Derselben Meinung huldigte offenbar „die Flinte", ein kleines Männchen, das damals als S.-C.° Paukarzt fungierte. Mit größerer Pomadiakeit, als es durch sie geschah, sind niemals „Hautschäden" repariert worden. Ich glaube heute, daß die Flinte ein raffinierter Sadist war. Mit welchem Genüsse kon statierte sie: „A schecner Lappen!" Es hat mir nicht geschadet, daß ich kein literarischer Student war, sondern Korpssuchs. Das Leben lehrt mehr als die Literatur. Auch das Leben in einem Korps, von dem man gerne behauptet, es gehe ganz in nichtsnutzigen Aeußerlichkeiten auf. Ich habe diese immer als Sym bole betrachtet und gefunden, daß sie nicht so leer sind, wie sie den meisten Fernerstchenden erscheinen mögen. Ich sche das Farbcnwesen der deutschen Studenten als eine wertvolle Formgestaltung an, in der sich spezifisch deutsche Jugendcigenschasten so scharf geäußert haben, daß es schade wäre, wenn auch dieses bißchen bunte Romantik ganz aus dem akademischen Leben Deutschlands verschwände, oder völlig zur Schale ohne Kern würde. Und ich möchte wünschen, daß gerade auch junge Leute von mehr poetischer Sinnesrichtung sich dieser Form deutschen Studentenlcbens wieder mehr zuwcndeten, als es jetzt Wohl der Fall ist. Es hat eine Zeit gegeben, wo fast jeder Korpsstudent ein Stück Poet gewesen ist. (Der älteren Thurinaia, mit der mein Korps nicht zusammenhängt, hat Theodor Körner angehört: Mitglied der Ver bindung, aus der die jetzige Tluiringia hervorgegangen ist, war Rudolf Baumbach.) Es wäre hübsch, wenn so eine Zeit einmal wiederkäme. Ich mußte die dunkclrote Mütze eher an den Nagel hängen, als mir lieb war: väterliches Machtgebot crheischte mit Recht ein schnelleres Tempo des Studiums. Denn, nm mit diesem unrühmlichen Bekennt nis zu schließen: die Alma mater Leipzigs sah mich betrüblich selten in ihren ehrwürdigen Hallen. Ich war nämlich auf den sonderbaren Ein fall gekommen, mich in die juristische Fakultät einschreibcn zu lassen, und cs batte sich bald berausgestellt, daß der kühle Wind, der dort wehte, einen seelischen Katarrh bei mir zur Folge hatte, her zu einem chronischen Leiden geworden wäre, hätte ich diese zugige Gegend des menschlichen Geistes nicht ängstlich gemieden. * * „Elektra" in New Aark. Aus New Dork wird telegraphier!: Die „Elektra" von Richard Strauß hatte in Hammersteins Manhattan- Opernbaus einen in jever Hinsicht großen Erfolg. Fräulein Mazarin war schauspielerisch und oesanglich äuß-rst wirkungsvoll. Zum Schluß ter Auf- füdrung ereignete sich ein sswischeniall. Die Künstlerin brach beim sechsten Hervwrus ohnmächtig auf offener Bühne zusammen, sie erholte sich jedoch schnell in ärztlicher Behandlung. * „Chanteclcr" — abermals verschoben. Aus Paris, L. Februar, wstd telegraphiert: Die für heule abend anbeiaumte Generalprobe von Rollands „Ckantecler" ist abcimals verschoben worden. Sie soll erst am Sonntag statifinden. Die neue Verzögerung ist angeblich darauf zurück;ufübren, daß der Dichter Rolland mit einem Beleuchtungseffekt nicht zufrieden war und wünschte, daß er abgeändert werde. * 3»m iLtrcit in der Berliner Sezession wird ans Berlin weiter gemeldet: Es besteht begründetetzAussicht daß Bergleichsverhandlungen, die zur zeit im Gange sind, bald zu dem erwünschten Resultat in der Angelegenheit der Berliner Sezession führen werden. Die junge Opposition, Hal Erklärungen abgegeben, aus denen hcrvorgcht, daß eine Ueberrumpelung des Vorstandes In der Generalversammlung nicht beabsichtigt war, und die früheren Vorstands» Mitglieder erkennen an, daß eine solche Absicht nicht bestand. * Autogra-Hen-Bersteigerung. Am 10. März findet in der Galerie Helbing in München die Verueigerung der reichhaltigen Sammlung von Autoaraphen aus dem Besitz des verstorbenen Kommerzienrats Bally in Läckingrn statt. Ter soeben erichienrne. 3M Nummern umfassende Katalog beginnt mit Briesen und Dokumenten fürstlicher Periönlicbkeiten, in eruer Linie Deutscher Kaiser, Friedrich tes Großen und des Großen Kuriürsten. Gustav Adolfs, Maria Theresias und Prinz Eugens von Savoyen. Unter den Autographen berühmter Politiker sind ebenso manche interessante Stacke aus aller und moderner Zeit zu verzeichn»», unter den be rühmten Feldherr» figurieren verschiedene Generale des 30iährigen Krieges, seiner der alte 5erfflinger. Gneisenau, Zcioy und Garibaldi. Die Abteilung ker „Autogravhen der Gelehrt-n" enthält einen schönen Voltairebries, einen prächtigen Brief von Fichte, ein interessantes Manmlript von Kepler, einen originellen Bries Kants und sonst noch bemerkenswerte Schriftstücke von Größen der Wissenschaft. Tie Abteilung der Dichter und Schriftsteller ist reich an Beiträgen von Arndt, Auersperg, Bürger, Clmmiüo, Dingelstedt, Fonquö, Gellert, Goethe, Gutzkow, Heine, Körner, Klopstock. Sch.ffel, Wieland und Zschokke. Es folgen wdann Auto graphen berühmter Musiker und Bühnenkünstler sowie eine Kollektion „Badrnsia Sehr interessant ist das an den Schluß gestellte Exemplar eines sranzömchen Werkes über Napoleon, in kostbarem Einband mit Oriainalkreuz der Ebren- legion, bereichert durch etwa IM Äulograpben von französischen und deutschen Berühmtheiten des eisten Kaveireickes. Der Katalog vieler sur alle Autogravhen- sammler sehr bemerkenswerten Kollektion ist Lurch die Firma Hugo Heldtng, München, gratis zu beziehen. * Hochschulnachrichten. Professor Dr. F. Schumann in Zürich bat einen Rus an die Akatemie in Frankfurt auf Len Lehrstuhl sür Philosophie als Nachfolger des als ordentlicher Professor an die Universität Würzburg berusenen Professors Dr. K. Marbe erhalten unv angenommen. — Für das durch die Berufung des Pioiessors A. Ezerny nach Straßburg zur Er ledigung kommende Ordinuriat der Kinder Heilkunde an der Breslauer Uni versität kommt in erster Kinic der Proiestor an der Universität Baltimore Dr. Clemens Freiherr von Pirquet in Frage. * Kleine Ehronik. Bierbaums Leipziger Erinnerungen werden uns von «der Akademischen Verlagsgesellschaft in Leipzig freundlichst zur Verfügung gestellt. Eine interessante Selbstbiographic Bierbaums ist in diesem Verlag erschienen. — Frl. Paula Hegner- Leipzig unternimmt gegenwärtig mit Frl. Ele^na Gerhart eine Konzerttournee durch England und Schottland. Die junge Klaoiervirtuosin tritt dabei überall als Solistin auf, so u. a. in der Londoner Albert-Hall, wo sie das Schumann-Konzert mit Orchester begleitung spielt. — Zum Befinden Björnsons meldet ein Telegramm aus Paris: Björn Björnson halte eine unruhig« Nacht; nach Ansicht der Aerzte ist sein Zu st and unverändert. — Aus Wien wird gemeldet. Hier starb im Alter von 83 Jahren der bekannte Schriftsteller und Aesthetiker Joseph Beyer. UM L Q>. ^^7;« 77^° »US //? /ec?em rme/ s/A Sweatte. e/e. F/v/X? XL
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