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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 14.02.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-02-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191002145
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100214
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100214
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-02
- Tag 1910-02-14
-
Monat
1910-02
-
Jahr
1910
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Vezugö-Prri» S«»rpttcher: 14«- 14«- L44S4» WWgtrTMUM Handelszeitung. Ämtsölatt -es Rates und -es Rolizeiamkes -er LLa-t Leipzig. Anzeige«-Preis ftr «>l» t!eu»t« und Umgebuich d>« Sq«t»«Itene Pekil-rile 2b sinan,iell« Laz««-«» 3t> H, NeUamkn l «»» -utwtrt« cX> RkNamen 1.20 « »»« Alldlaild 50^, fiaan«. An,«gea 7S«^ Reklamen t.bv «. Aaser««». Behörden im -mlllchenlrllM^. veilagezebühr L Lausend erv. Post, gebühr. Selchäfxanjeigen an deöor»iigker Stelle tm Preis« rrhLht. Rabatt »ach Lar, FestrrleUte SuttrLg« kbnnrn nicht zurück- gesogen werden. Für da« Erscheinen an v«stimmten Tagen nnd Plützen wird keine Garantie übernommen. «neigen, «nuahme: Nn^l»n»«atz 8. d«i sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Srpeditionrn de» In- nnd Auslände«. Paul«.Filiale Berlin: Tarl Dnncker, Heriogl. Bahr Hsfduch» Handlung, Lützowstiall« W. (Lcleshou VL, scr. Hauvt-Ftli«e Dre-den: Seestrabe 4,1 (Telephon 4621). Nr. 44 Das Wichtigste. * Am gestrigen Sonntag fanden in Preußen zahlreiche sozialdemo kratische Wahlrechtsdemonstrationen statt. Verschiedentlich kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. (S. d. des. Art.) * Da« Kabinett Sonnino erhielt in der italienischen Kammer ein Vertrauensvotum. (S. AuLl.) * Eine zweite schwere TchisfSkatastrophe hat sich in der MngelhaenSstratze ereignet. Dort ist der Pacificdampfer „Lu- rin" gescheitert. SV Passagiere find ertrunken. (S. Letzte Dep.) SSchsische j)a*lanierit»rr>oche. „Diese Woche war für uns die reine Badereise", so meinte behaglich schmunzelnd ein Journalist, als man am Freitag nach Sitzungsschluß im „Eutenpfuhl" die Ereignisse der abgelaufenen Woche besprach, soweit sie unser Landesparlament betreffen. Der Zeitungsmann hatte gar nicht so unrecht; denn, obwohl die Zahl der Plenarsitzungen nicht gerade ge- ring war, so haben sie doch nicht viel Arbeit gebracht. „Kurz und er- baulich", war das Motto, in dun sie sich vollzogen, und manch einer dachte still bei sich: Ach, wenn es doch immer so bliebe! Gleich am Montag, der ausnahmsweise eine Sitzung brachte, ging es in ziemlich flottem Tempo voran. Der Personal- und Besoldungs- etat der Landesbrandversicherungsanstalt für 1910/11 löste nur eine ganz kurze Debatte aus. Alle grundsätzlichen Fragen werden ja bei der Schlußberatung über das neue Brandversicherungsgesetz zu erörtern sein, mit dem sich vorläufig noch die Gesetzgebungsdeputation zu be schäftigen hat. Die einzige Frage mehr prinzipieller Natur, die man aufs Tapet brachte, aber auch nur streifte, war die, ob der Geschäftsgang der Versicherungsanstalt sich nicht dadurch beschleunigen laste, daß man die Abschätzungen neuerrichteter Gebäude nicht mehr durch die Brand- Versicherungsinspektoren, also durch Beamte, sondern durch Privatleute, nämlich durch beeidete Sachverständige vornehmen laste. Abgeordneter Dr. Loebner-Leipzig sNatl.) trat lebhaft für Heranziehung der Sach verständigen ein und verwies auf das Beispiel der der sächsischen Anstalt sonst so ähnlichen süddeutschen Anstalten fBayern, Bade«, Württemberg) und der meisten preußischen Provinzial-Feuerversicherungssozietäten, deren Verfahren sich durchaus bewährt habe. Gerade der entgegen gesetzten Ansicht war Abg. Ho fman n-Meißen (Kons.), der die Ab schätzung der Gebäude durch den Brandversicherungsinspektor für die objektivste und unbefangenste erklärte und meinte, eine Abgabe der Baupolizei an Sachverständige werde den Geschäftsbetrieb verwickelter machen und verteuern; denn man müßte doch die Brandversicherungs- insvektoren für den Ausfall entschädigen. Der Regierungsvertreter Geh. Rat Dr. Rumpelt erklärte, es entspreche durchaus den Wünschen und Bestrebungen des Ministeriums des Innern, daß man eine Ver einfachung versuche, man möge aber jetzt mit Rücksicht auf das bevor stehende neue Gesetz von Veränderungen absehen. Aus seinen weiteren Ausführungen ging aber hervor, daß die Regierung doch wohl an der Abschätzung durch Beamte festhalten wird. Das Gesetz wegen Einwirkung von Armenunterstützung auf öffent- liche Rechte, besten Tragweite bereits früher an dieser Stelle erörtert worden ist, fand nach dem sehr gründlichen Berichte des Abg. Uhlig- Zittau sSoz.) noch rascher Erledigung. Einmütig stimmte man ihm zu, obwohl man Verbesserungen nicht für ausgeschlossen erklärte. Wünschens- wert wäre es übrigen- gewesen, wenn der Regierungsvertreter noch er- klärt hätte, daß den in der Deputation aufgetretenen Wünschen auf lovale und recht weitherzige Auslegung des Gesetzes durch die Aus- sührungsbestimmuugen zu diesem Gesetze entsprochen werden soll. Ob solche erlassen werden, ist freilich noch nicht unbedingt gesagt; denn in dem Gesetzentwurf fehlt der sonst übliche Schlußsatz: „Mit der Aus- fübruug dieses Gesetzes wird unser Ministerium deS ... beauftragt." Allerdings ist für de« Erlaß von Ausführungsbestimmungen ein solcher Schlußsatz keineswegs unumgängliche Voraussetzung. Die Regierung kann also diese Zusicherung noch immer in der Ersten Kammer nach holen. Am Dienstag gab eS «ine Ueberraschung in der Kammer, ohne daß aber diese Ueberraschung im Eifer der Privatunterhaltung als solche gewürdigt worden wäre: der gesamte Etat des Finanzmirristers und ver schiedene GinzeletatS aus seinem Etat wurden ohne jede Debatte be willigt! Man muß also für den „großen Sparer", Vie sich der Finanz minister in eine» Anflug von Selbstironie einmal nannte, doch mancher habe». Selbst die von manchen Seiten beim Kap. 73 er wartete Anfrage nach den weiteren Schritten der Regierung in der Schissabrt-abgabenfrage mtterblieb. Dr. v. Rüger war, wie gemeldet, zu einer Beantwortung einer solchen Anfrage gerüstet; eS war ihm aber jedenfalls nicht unlieb, daß keine Anfrage erfolgte. Gr hätte wohl auch anderes sage» könne«, als daß die Regierung auf ihrem ablehnenden Standpunkt verharre. Go »ird die Anfrage, wie schon von uaS au- gedeutet, wohl v««schoben werden, bis zur Beratung über den Etat un sere» Auswärtigen Ministerium», wohin sie auch gchört. Denn im augenblicklichen Stadium handelt eS sich »« eine Frage der auswärtigen Politik, bei deren Lösung auch außerdeutsche Staate», wie Oesterreich und die Ri verlande, ihr Wort mitzurÄwn haben; und völkerrechtliche Verträge, die «nr unter Zustimmung aller Beteiligte« abgeändert werd« können, schütz« Sachs« «och vor einer Majorisier«»« durch die nnter Preußen» Führung stehende Wehrhaft in» Bnndesrate. Ehe Pr«ß«» Agrarier ihr« LiebliugSwmksch, die Einführung von Schiff- fabrt»abgab«, erfüllt sehe», hab« sie «och fünf große Hindernisse zu übersteig«: den Deutsch« Reichstag, den Stader Vertrag vom 22. Juni 1861, die EldschiffahrtSakte, da» deutsche BnudeSgesetz vom 11. Juni ISA) weg« AnfhSung der Glbzölle und d« Vertrag Misch« dem Nord deutsch« Bund« nutz Oesterreich über Aufhebung de« Glh-alS vom 22. Juni 187kl Montag 14. Februar 1910. Der Mittwoch gehörte Petitionen, von denen aber keine all gemeineres Interesse beanspruchen konnte; Donnerstag war, wie üblich, sitzungsfrei, und am Freitag gab es noch eine kurze Schlußsitzung: das Gesek über die Aenderung slies: Erhöhung) der Schreibgebühren bei Gerichten und Rechtsanwälten ward in erster Lesung erledigt und da bei so wohlwollend beurteilt, daß sogar aus die Deputationsberatung verzichtet wurde. Die Regierung, die nach der Landtagsordnung Deputationsberatung ihrer Vorlagen verlangen kann, bestand nicht auf einer solchen, und so wird das Gesetz gleich im Plenum zur Schluß beratung kommen. Seine Annahme ist sicher. Wer also noch klagen oder sich verklagen lassen will, mag cs vor dem 31. März tun, da ist es noch etwas billiger. Die Erste Kammer erwies sich in der letzten Woche, obwohl sie zwei Sitzungen hielt, als ein Haus des Schweigens. Nur der Präsident, die diensttuenden Sekretäre und die Berichterstatter sprachen: im übrigen stimmte man schweigend dem zu, was dem Segen gleich von oben kam. In den Deputationssitzungen soll es allerdings lebhafter zugegangen fein. Am Mittwoch stand in der zweiten Deputation das Nadelarbeits- lehrerinnen-Dekret auf der Tagesordnung. Der Umstand, daß über die hierzu gefaßten Beschlüsse strengstes Stillschweigen bewahrt wird, läßt keine sehr hoffnungsfreudigen Folgerungen zu. Hätte die Deputation sich dem Beschlüsse der Zweiten Kammer auf Uebernahme der Pensions lasten durch den Staat angeschlossen, so würde man es Wohl schon wissen. Das Zustandekommen des Gesetzes scheint danach sehr in Frage gestellt, denn für die Zweite Kammer ist ein Zurückweichen im Vereinigungs verfahren kaum möglich. Wahlrechtröeiiioristratisiren in Ovcrrfzen. 0-1. Berlin, 13. Februar. lPrivattelegramm.) Dichter Nebel lagerte heute vormittag über Berlin. Gegen Mittag klärte sich das Wetter auf, so daß wohl ein trübes, aber schönes Wetter über der Reichshauptstadt lag. Bereits gegen 11 Uhr vormittags sah man viele Tausende von Arbeitern in allen Gegenden Berlins nach den ver schiedenen Versammlungslokalen ziehen. Sämtliche Säle waren im Augenblick überfüllt, so daß sie polizeilich gesperrt werden mußten. Aus diesem Anlaß sammelten sich vor deu Lokalen viele Tausende Menschen. Deshalb wurde in einigen Lokalen nach der ersten Versammlung eine zweite abgehalten. Eine ungeheure Ppli-nmacht, M Fuß, zu Pferde und radfahrende Polizeibeamte, wobei naturgemäß die große Zahl der Ge heimpolizisten nicht fehlte, war überall aufgeboten. In den Versamm lungen sprach zumeist nur ein Redner, Es gelangte überall folgende Erklärung einstimmig zur Annahme: „Die Versammlung nimmt voll Empörung Kenntnis von der so genannten Wahlrechtsvorlage der Regierung. Sie erblickt in dieser Vor lage eine unverschämte Verhöhnung und freche Provokation des Volkes. Statt der Einführung des freien Wahlrechts, das die große Mehr- heit des preußischen Volkes verlangt, bringt die Vorlage eine erhebliche Verschärfung der bisherigen Rechtlosigkeit der arbeitenden Bevölkerung und eine Erweiterung der ungeheuerlichen Vor rechte der Besitzenden. Das brutale Dreiklassenwahlsystem soll von neuem befestigt werden. Die Diktatur des platten Landes über die Städte soll durch Beibehaltung der skandalösen Wahlkreiscinteilung weiterbestehen und die niederträchtige öffentliche Stimmenabgabe bleiben, die alle wirt schaftlich Abhängigen zum Stimmvieh der Gewalthaber herabwürdigt. Die Vorlage will weiter, daß Leute mit Universitäts- und Kasernenhof bildung in die zweite und erste Klasse abgeschoben werden, um dort ge meinsam mit den Besitzenden die in der rechtlosen dritten Klasse zu- sammengcpferchten Arbeiter, Handwerker und Kleinbauern nieder zustimmen. Eine Regierung, die es mit ihrer Ehre und ihrer Würde vereinbar hält, einer gesetzgebenden Körperschaft rin so perfides Mach werk zu unterbreiten, züchtet den Klassenhaß und setzt sich der Verachtung der ganzen Kulturwelt aus. Getreu ihrer historischen Rolle, der Hort aller Reaktion zu sein, stellt sich die preußische Regierung in schneidenden Gegensatz zu den Regierungen derjenigen deutschen Staaten, die mit der Aenderung ihrer verfassungsrechtlichen und wahlgesetzlichen Einrichtungen den Forderungen der Zeit Rechnung getragen haben. Die Versammlung verlangt daher vom Abgeordnetenhause, daß es diesen Wechselbalg schnellstens verscharrt. Die Versammlung fordert von neuem ausdrück lichst, daß das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht mit Anordnung des Verhältniswahlsystems allen über 20 Jahre alten Staatsbürgern ohne Unterschied des Geschlechts eingeräumt werde, und richtet an alle freiheitlich gesinnten Männer und Frau« die Aufforde- rung, gemeinsam mit der Sozialdemokratie unausgesetzt und entschlossen für die Durchführung dieser Forderung zu kämpfen. Nach Beendigung der Versammlungen ergossen sich die gewaltigen Menschcnströme ans die Straße, wo Tausende und aber Tausende von Arbeitern ihrer harrten. Mit eine« sozialdemokratischen Heerwnrme durch di« Straßen Berlin». Unser ständiger Berliner Berichterstatter hat einen sozial demokratischen Demonstrationszug von Anfang bi» zu Ende beobachtet und schildert ihn uns, zugleich ein« Beitrag zur Psycho logie der Masse gebend, folgendermaßen ' „Bekanntmachung ES wird das „Recht auf die Straße" verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Wasfengebrauch. Ich warne Neugierige." So hatte Herr v. Jagow lapidar an die Anschlagsäulen schwarz ank feuerrot geschrieben. Auf ein« Berichterstatter wirkt das weniger, den» er befindet sich „im Dienst". Ich ging zunächst z« der Mittagsversamm- lung in meinem Stadtteil, in die V ktoriasäle, an dem dem Lützowplatz abgewandt« Teile der Lützowstraße. Wegen Ueberfüllung war ke»n Einlaß mehr zu erhalten. Die noch kommenden zogen -um großen Teil unbehindert darch das Restaurant auf den Hof und nahmen dort Auf- stelluaa. Eine halbe Stunde sollte die Versammlung nur baue«, aber eS währte doch bis etwa 1 Uhr, ehe die Menge langsam aus dem Saal- auSgauge ans die Straße strömte. Ein jugendlicher Besucher erzählte mir, daß der BersammlungSredner — die Verteilung der einzeln« Redner auf die Sale war nützt bekauntgegebe« Word« — Fischers«- wes« war, also der „BorwLrtS"-Fischer, der w«« der Arbeit-- nnd Lotzaverhältnisse in» Betriebe de» sozialdemokratisch« ZentralorganS an. gegriffen zu werden pflegt und noch am Sonnatz«- ft« Reichstage mit dem uationalliberalea Abg. Görcke ein« Strauß « bestehen hatle. Zu E^Ocht bekomme ich ihn nicht, so wenig wie sonst ein« der bekannten Die Frage ist: Da» nun? Ja der Räbe den m^tammlungS- lokal« stchen ei» paar Schutzleute. Eine Einwirkung auf die Will«», richt«» «er immer zahlreicher werdenden Men« Wen sie nicht. Aber durch irgendeine unsichtbare Führung schein« dm Glitte der Lente «- lenkt -», werden. Sie wend« sich nicht in die AbeckEnie der Lütz«», straße hinein, sondern bieg« kurz rechts ab, in di« Wottwellstraße, di« zu m. Jahrgang. echt und wir t ei» Re »z-»0l .Willen wir eS < ' von. der Gesang: „Der der Maa» mit dem gleiche, ge-eime Wahlrecht zeigt, «iso koch hat er?u mit dabei, nnd ein gewiss doch nicht ganz in Stich nun spricht er, ungefähr Partei einer Seite den Bahndamm hat. Weg vom Zentrum der Stadt geht die Marschrichtung. Also der friedliche Weg! Ab und zu werden Hoch rufe ausgebracht. Das allgemeine gleiche und geheime Wahlrecht ist es, dem sie gelten. Die Arbeitermarseillo-ise mit der Kraftstrophc: „Der Bahn, der kühnen folgen wir, die uns geführt Lassalle", wird angcstimmt. Mich interessiert, wer die Direktiven gibt. Ganz vorne links vor dem Zuge, der sich auf dem Bürgersteig längswälzt, geht ein Mann ohne Paletot, im dunklen Jackett. Etwas von einer Führernatur ist ihm nicht anzumerken. Irgendein anderer, gelegentlich ein ganz junger Mann, erhebt den Ruf: „Das allgemeine gleiche Wahlrecht hoch!", schwenkt den Hut, die Menge schwenkt ebenfalls die Hüte nnd stimmt ein in den Rus. Das nächste Mal ruft wieder ein anderer, nicht immer derselbe. Der Zug ist noch nicht geschlossen, vorn geht ein kleinerer Trupp, dann folgt ein Zwischenraum und dann das Gros. Doch das ist nicht beabsichtigt. Auffällig ist die Langsamkeit des Marsches und noch wird mehrfach nach vorn gerufen: „Langsamer geben, nicht so schnell!" An<b die Leute, die so rufen, sehe ich mir an: es sind offenbar keine bestellen Marjchordner. Auch der „komische Kerl", den man überall zu treffen pflegt, stellt sich ein . irgendein Mann, der schon durch sein Aeußeres humoristische Wir kungen erzielt und von dem man nicht recht weiß, ob seine Teilnahme mehr im Jux oder mehr im Ernst gemeint ist. Jetzt, wo ich dies schreibe, weiß ich, daß bei dem Zuge, dem ich mich angeschlossen habe, nichts Schlimmes geschehen ist: aber vor wenig Mi nuten, als ich durch die Flottwellstraße, die Dennewitz-, die Bülow- und Aorkstraße mitzog, wußte ich nicht, was passieren wird, und die Leute, die da langsam, langsam dahingingen, wußten es auch nicht. Wenn man ein bißchen mitzufühlen vermag mit der Masse, und wenn einen dies Gefühl nicht irreführt, dann war diese Masse in der Stimmung der vollkommenen Gleichgültigkeit gegen etwaige Folgen. Diesen Hunderten, ja Tausenden ist jetzt alles gleich, was an diesem Sonntage ihnen noch passieren mag. Der Rus: „Nach der Potsdamer Straße" ertönt; das ist es ja, was auf dem Grunde der Seelen ruht: der Gedanke: Gehen wir ins Zentrum, gehen wir zum Schloß, geben wir dahin, wo sich uns Widerstand entgegensetzt? Wo man bisher gebt, stellt sich kein Widerstand entgegen, keine Pickelhaube kommt uns zu Gesicht. Die Spitze ist — wir gehen jetzt eine Straße, die zu den breitesten Berlins gebärt und in der Mitte eiincn breiten Fußgängcrweg hat — bis zum Schnittpunkt der Bülow- und Aorkstraße gedrungen. Bis hierhin war es gleichsam automatisch gegangen, denn die ganze letzte Strecke war der gerade Weg gewesen. Nun trat so etwas wie die erste Entscheidung an den Zug heran, der durch Langsamgehen der Vorder leute kompakt und geschlossen geworden war. Wohin soll es weitergchcn? Da, ein Hindernis zugleich und ein Ansporn nähert sich: von dcrAorl- straße her kommt ein Zug, ein Ebenbild dessen, den ich beobachte, eine andere Versammlung in Marschkolonne ebenso groß oder vielleicht ciwas kleiner wie unser Zug. Beide Züge stoßen zusammen. Da fällt die Entscheidung: unser Zug marschiert weiter, der andere muß umkehren und wird nunmebr die Stütze. Noch sehe ich einen Mann mit einer dunklen Schirmmütze, wie sie an der Wasserkante von den Segelsports männern getragen wird, den Arm schwenkend nnd die Richtung in die Aorkstraße anzeigend. Dieder geht es eine breite Avenue lang durch Bahnunterführung hindurch, an Dämmen vorbei bis an die Stelle, wo die Möckernstraßc den Weg schneidet. Hier kommt die Spitze eines dritten Zuges entgegen. Ach gehe voran in die Möckernstraßc, der Ruf „nach der Potsdamer Ltratze" liegt mir in den Ohren, ich nehme für sicher an, daß man einen Vorstoß durch die leer daliegende Möckernstraßc machen wird, die bis zum Anhalter Bahnhof direkt in einen Mittelpunkt des.Verkehrs hinein führt. Doch die beiden Heerhaufen verständigen sich anders. Diesmal gibt der meinige nach und zurück flutet das Ganze die Aorkstraße ent lang auf die Bülowstraße zu. Ich besteige einen Omnibus, der mich in wenigen Minuten wieder an die L-pitze des Zuges und über ibn hinausführt. Keine Droschke, kein Omnibus, kein istraßenbahnwagen hat, soviel mau sehen kann, auch nur Aufenthalt. Man stimmt die Gesänge an und bringt Hochrufe aus und geht, wo die andern gehen. Und fangt an, wie die andern, die feuchtkalte Winterluft zu spüren. An der Ecke der Aork- und Bülowstraße kommt mir der erste Polizist zu Gesicht. Es ist ein kleines rundes Männchen. Ein Mann in Zivi! mit einem Schirm oder Stock in der Hand tritt an ihn heran und führt ihn sprechend etwas abseits. Ist es ein „Geheimer", der ihm eine Mitteilung zu machen hat? Der kleine Mann in der Pickelhaube setzl sich in der Richtung, wohin der Zivilist verschwunden, auch in Be wegung. Die Augen vieler sind auf ihn gerichtet, an harmlos fpöttischcn Bemerkungen fehlt es nicht. Eine Dame hält ihn auf und stellt eine Frage an ihn, er gibt höflich und scheinbar ausführlich Antwort, dann setzt er seinen Rückzug fort und verschwindet in der nächsten Polizei wache. Doch wie zum Beweise, daß ihm nicht Bänglichkeit befallen Hai, tritt er mit einem Jungen wieder heraus, er scheint zu irgend etwas geholt zu werden und geht denselben Weg furchtlos und gänzlich un behelligt zurück. Die Menge, die gelegentlich doch wohl 2000 bis 4000 Mann, dazu auch einige Frauen umfaßte, zieht weiter, immer den Mittelweg der Bülowstraße für sich in Anspruch nehmend, vermeide: die Verlockung, die sie bei der Kreuzung der Potsdamer Straße anficht und setzt den Weg nach dem Nollcndorfplatz fort. Ecke Bülow- nno Potsdamer Straße hält ein Schutzmann, der von anderen Gesichts punkten ausgeht als ,ein Kollege von eben. Grad in seiner Nähe und die Blicke auf ihn gerichtet, bringen die vorbeimarschierenden Mani festanten dem allgemeinen Wahlrecht immer von neuem ein Hoch aus. Sie dreh« sich um, damit er sie ja sehen und hören muß. Doch er blick: sie nur durchdringend an, als wenn er sich die Gesichter für eine Mel dung merken wollte. Und jetzt tritt er mitten in den Strom hinein und läßt die Hunderte an sich vorbeiströmen, kein Wort sagend, aber sie aufsaugend mit den Blicken. Der Zug verläßt die Bülowstraße noch vor dem Nollcndorfplatz und schlängelt sich durch einige Seitenstraßen auf den Winterfeldplatz. Der Zug vorne steht, die Menge rückt zusammen. Ein Kandelaber — wo gäbe eS nicht einen Laternenpsahl für die Zwecke der Massenwirkun gen: — wird der natürliche Mittelpunkt. Die Bolksversamm- luna unter freiem Himmel ist da. Kopf an Kopf. Schon steht ein Mann ob« am Kandelaber, ein breiter, weißer Kragenschoner um flattert ihn, er dirigiert mit d« Armen den Gesang. „Das allgemeine Wahlrecht ist das Zeichen", so hört «an es über den Platz schallen. Der Man» mit dem Kragenschoner läßt feinen Platz an emen älteren: Fisch er,, der ReichstagsaMeordnete ist es, der sich der Versammlung Ä der Verantwortung entzogen, er ist Hl der Genugtuung, daß die Tausende seien, überkommt den Zuschauer. Und atz«: , Parteigenossen! Wil« de» Polizeipräsidenten und der die Straße für v»S bean- iSs«, datz wir «» schon können. Wir wie mir e» ander« nönn«. Damit, » genna sei» lassen, wir füh- D«e, «ne w,r «S für richtig halten, Nlchlrecht «ach«. Wir werden auch st> unsere Pflicht er- -ie, mit einem Hoch tion -« schließ« ,«d
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