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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 12.02.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-02-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191002122
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100212
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100212
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-02
- Tag 1910-02-12
-
Monat
1910-02
-
Jahr
1910
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BezugS-PreiS ttr Leipzig und «Vorort« durch unirre TrLger und Spediteure in« Hau» gebracht; v« o> monatl., i.7v oiertrljthrl. Bei untern Filialen u. Annahmestellen abgeholt; 7L mouatl., r.rr vierteljLhrl. Lurch die »ost; tiueerhalb Truiichland, und der deutschen Kolonien VierteljLhrl. N.00 monatl. I.r» auischl. Postbeftellaelb. ferner in Belgien, Tünemark, den Donaustaaten, Italien, Lurembnrg, Niederlande, Nor wegen, Oesterreich-Ungarn, Ruhland, Lchweden, Schweiz u. Spanien. In allen übrigen Staaten nur direkt durch die GeichLstgstelle de« Blatte« erhtltlich. Da« Leipziger Tageblatt erscheint wöchent lich 7 mal und zwar morgen«. Abonnement-Annahme: Augustusplatz 8, bei unseren TrLgern, Iilialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Di« einzelne Rnmmer kostet 1v Redaktion und Geschäftsstelle: Johannisgafse 8. Fernsprecher: I46S2, 14K», 146S4. apMtrTagMM Handelszeitung. Amtsblatt des Nates und des Volizeiamtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Prci» tstr Inserate au» Leipzig uno Umgebung dm Saespaltene Petitzeile L> stugnzielle Anzeigen 30 Reklameu l von audwLtt« M Reklamen l.2o vom Aulland 50^, sinanl. Anzeigen 75»^ Reklamen 1^0 ^ik. Inserate». Behörden m amtlichen Teil40^. Bcilagegebühr ü p. Tausend exkl. Post gebühr. Geschästoan,eigen an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Tari Festerleilte AustrLge iönnen nicht zurück- gezogen werden. Für da; ürscheincn au bestimmten Tagen und Plagen wird leine Garantie übernommen. Anzeigen-Annahme: Augustuisplast 8, bei sämtlichen Filialen u. alle» Anuoncen- Lipeditionen de« In- und Auslände». Haupt-Filiale Berlin: Carl Diincker, Hemogl. Biyr Hofbuch» Handlung Lützowstiahe lO. lTelephon Vz, Nr. 4oes). Hauvt-Ftlialc Treäden: Scestrake 4,1 (Telephon 462t). Nr. 42. Sonnabend 12. Februar 1910. 184. ZahMnq. Das wichtigste. *Bci einem Streit aus dem Roßplatz in Leipzig erstach gestern abend der Gelegenheitsarbeiter Grünig den Arbeiter Heiland. lS. d. bes. Art.) * Die Erste Kammer erledigte am Freitag einige Etat- und Rechenschastssachen. lS. Landtagsbericht.s * Die Zweite Kammer beschäftigte sich am Freitag mit dem Entwurf eines Gesetzes über Aendcrungen der Kostcnord- nung für Rechtsanwälte und Notare. lS. Landtagsbericht.s * Der Reichstag setzte am Freitag die Beratung des Mili tär e t a t s fort. Es kam dabei zu einem Zusammenstoß zwischen dem K r i c g s m i n i st e r und dem sozialdemokratischen Abgeordneten Ledcdour. lS. Rcichstagsbcricht.s * Im preußischen Abgeordneten Hause wurde am Freitag die Wahlrcchtsdcbatte durch die ersten Redner der einzelnen Parteien fortgesetzt. lS. d. bes. Art.s * Die französische Kammer beschloß die Schaffung einer Medaille für die überlebenden Kämpfer von 1870/71. lS. Ausl.s * Sultan Muley Hafid weigert sich, das Abkommen mit Frankreich zu unterzeichnen. Man befürchtet ernste Zwischenfälle. lS. Ausl.s^ * Hoch wasser Meldungen treffen, namentlich aus West deutschland, ununterbrochen ein. Rhein, Ruhr und Emschcr sind im Steigen begriffen. Die Emscher durchbrach in Oberhausen den Damm. Der Duisburger Jnncnhafen ist für den Verkehr gesperrt. lWciteres s. Verm.s * Unterm 11. Februar wird aus Paris telegraphiert: Tie Sri ne ist in den letzten 21 Stunden um 22 Zentimeter ze it i eg en. Für morgen wird ein weiteres Steigen um 20 Zentimeter erwartet. * Der frauzösifcheOzeaudampfer„GeucralChauztz" ist an der Nordküste von Mallorca untcrgcgaugen. Nur ein einziger Passagier soll gerettet worden sein. lS. Letzte Tcp.s Der Not gehorchend. Die Individuen reformieren ihre Lebensführung, ihr körperliches Regime meist zu spät und fast immer erst dann, wenn sie sich in einer Notlage befinden, wenn schwere Störungen den Ablauf der organischen Funktionen behindern. Den Staaten geht es nicht anders; auch hier erfolgen Reformen meist erst in zwölfter Stunde. Auch die Staaten befinden sich, wenn sie sich entschließen, ihre Verfassung durchgreifend zu ändern, meist in einer Notlage. Nun muß unterschieden werden zwischen der preußischen Wahlreform und der Wahlrechtsvorlage. Die Wahl reform ist höchste staatliche Notwendigkeit. Die preußische Wahlrechts vorlage aber wird dadurch charakterisiert, daß sie einer privaten Notlage entstammt. Und wenn dies einmal sestgestellt ist, begreift man, warum sic so sehr das Gepräge der Verlegenheitsgesetzgebung trägt. Als Fürst Bülows Stern im Erblassen war, als das ganze Volk sich gegen seine auswärtige Politik ermannte, da suchte der geschickte Mann nach einer Diversion, und der Zufall bot ihm in dem Tempera ment des Staatssekretärs Bernhard Dernburg ein geeignetes Werkzeug. Er begann den Kampf gegen das Zentrum, den er allerdings schon nach wenigen Wochen durch eine Fronttchwenkung abschwächte, und gab die nationale Parole auS, die in Deutschland ihrer Wirkung stets sicher ist- Er vereinte die Liberalen und Konservativen aller Schattierungen in dem allzu kunstvollen Blockgebilde, und um nun die Liberalen an der Stange zu halten, erbat er vom Kaiser die Er laubnis, die Wahlrechtsreform, die stärkste von seinen Künsten, in die Pfanne werfen zu dürfen. In der Thronrede vom Oktober 1908 wurde die Ausgestaltung des Wahlrechts als eine der wichtigsten Auf- gaben der Gegenwart bezeichnet und in nahe Aussicht gestellt. Indessen öffnete sich der Fürst durch daS Wörtchen „organisch" eine Hinteriüre. Mit diesem Worte läßt sich bekanntlich jede Scheinreform, jeder Still- stand, jeder Rückschritt rechtfertigen, jede wirklich fundamentale Aenderung von der Hand weisen. Denn eine solche Aenderung ist eben „doktrinär" und „destruktiv", sie nimmt keine Rücksicht auf die „historische Ent wickelung", die „gottgegebenen Realitäten" und läßt sich daher nicht rechtfertigen. Fürst Bülow war ein Meister darin, mit verbindlichen Worten Unverbindliches zu sagen; aber freilich: das Versprechen des Königs war einmal da und mußte in absehbarer Zeit eingelöst werden. Wie? Darüber zer brach sich Fürst Bülow nicht den Kopf. Er hielt sich an die Forde rung des TageS und fühlte sich seiner Virtuosität sicher, die eS ihm stets erlauben würde, lästigen Forderungen auSzuweichen und den Tanz auf schwankem Seil mit graziöser Gebärde fortzusctzen. Er täuschte sich aber diesmal und fiel. Und nun kam ein anderer Mann, der weit pedantischer und lange nicht so geschickt ist, und der sich in die Notlage versetzt sah, das Versprechen zu erfüllen, das den Vorgänger aus einer Notlage befreit hatte. Hier setzt die Tragik dieses Beamtenlebens ein: Der Ministerpräsidenk, der nach seiner DonnerStagSrede in ganz Preußen nichts Reformbedürftige« findet, wehrt sich vergebens gegen die Frage: Wozu die ganze Reform? Die Antwort ist sein Urteil: Weil sie versprochen war und der Minister nicht den Entschluß zur Ablehnung der Aufgabe sand. Da eS den konservativen Anschauungen des Herrn von Bethmann widersprach, ein liberales Wahlgesetz vorzulegen und im Kampfe gegen die preußischen Junker und Agrarier durchzusetzen, so konnte er von vornherein nur die Losung ausgeben: es wird auf der Stelle getreten! DaS Versprechen des Königs mußte eingelöst werden und durfte doch nicht eingelöst werden. Es mußte etwas geschehen, und es durfte doch nicht« geschehen. Die öffentliche Meinung mußte formell befriedigt und sachlich durfte nichts Wesentliches geändert werden. So wurden zunächst langwierige Erhebungen vorgenommen, deren Resultat von vornherein vorgeschrieben war: das bestehende Wahlrecht ist vor trefflich, eS bat jedoch einige Mängel, die sich leicht beseitigen lassen. Und dann erscheint die Vorlage, die diese Mängel beseitigt. Je künstlicher sie ist, je schwerer sie einen Ueberblick gestattet, je mehr sie sich der Beurteilung entzieht, desto besser. Ihren wahren Charakter wird der Laie nicht leicht erkennen. Dies ist ganz im Sinne des Fürsten Bülow gedacht, der eS zuzeiten auch für richtig hielt, die Situation möglichst zu verwirren, weil er wußte, daß der Deutsche immer noch in politischen Dingen bescheiden am eigenen Urteil zweifelt und nicht geneigt ist, einen gordischen Knoten, wie ibn die Bureaukratie geknüpft hat, mit dem Schwerte des gesunden Menschenverstandes zu durchhauen. Die Regierung hat nun ihre Pflicht getan; niemand kann sagen, daß das Versprechen des König- nicht er füllt worden sei. Wenn raö Parlament Forderungen stellt, die sich nun einmal nicht gewähren lassen, ja, dann ist die Regierung entlastet. Die Negierung hat doch schließlich auch noch ihre Ueberzeuzungen. Und die Angelegenheit der öffentlichen oder geheimen Wahl ist eine Ueberzeugungö- sache. Ueberhaupt ist die ganze Reform UeberzeugungSsache. Es lebe die Ueberzeuguog! Wenn nicht alle Zeichen trügen, so wird da- Parla ment die geheime Wahl fordern. Diese erklärt der Ministerpräsident aus vorwiegend ethischen Gründen und aus persönlicher Ueberzeugung für unannehmbar, und dann fällt die Vorlage, die der preußischen Re gierung, den Konservativen und dem Zentrum gleich unbequem ist. Es fällt auch der Vorhang über dieser netten politischen Komövie. Vermutlich wird es so kommen. Wenn es aber nicht so kommt wenn die Vorlage in dieser oder jener modifizierten Gestalt doch ange nommen werden sollte, so ist eben im Grande genommen auch nichts geschehen, und das gute Alte bleibt dem Staate Preußen und dem Deutschen Reiche erhalten. Denn der Geist der neuen Wahlrechts vorlage ist ja derselbe Geist, der aus dem Dreiklassenwahlrecht spricht. Die Wahlrechtsvorlage ist geradezu eine Apotheose des Klaffen- und KaftenstaateS. Sie rückt uns durch ihre Verherrlichung des Be- rechtigunzSwesens wieder um eine erhebliche Spanne näher an China heran. Die Regierung will nicht verstehen, daß nicht allein die Arbeiter, sondern auch das gesamte Bürgertum rin volkstüm liches Wahlrecht forderte. ES ist interessant, daß das Bürgertum mit der Reform des Herrn v. Bethmann nicht zufrieden ist, ob wohl doch diese Reform gerade vorgibt, das Bürgertum, genannt Mittel stand, zu privilegieren. Die Vorlage verfährt nach dem Prinzip: Teile und herrsche! Sie teilt Bürgertum und Arbeiterstans. Aber sie teilt vom Bürgertum auch noch die Militäranwärter, und diese ganze Taktik ist gar zu schlau, um nicht verdächtig zu sein. Das Bürgertum bat sie durchschaut und mit einer Uneigennützigkeit, die ebenso erfreulich wie erstaunlich ist, abgelehnt. Sofern die Sozialdemokratie aufrichtig ist, muß sie diese Haltung, die die Theorie von der „einzigen reaktionären Masse" umwirst, unumwunden anerkennen. Es ist wohl in der Geschichte nicht oft vorgekommen, daß eine ganze, schließlich noch lange nicht saturierte Klasse eine Bevorzugung, die die Regierung ihr zugedacht hat, ablehnt und auf Abschaffung der Privilegien dringt. Man siebt eben doch, daß der liberale Gedanke in Deutschland enorme Fortschritte gemacht hat. Wenn die Regierung sich wirklich fragte, welche Bedürf nisse denn jetzt im Volke nach Befriedigung ringen, dann würde die Wahlvorlage anders ausgefallen sein. Leider aber bandelt eS sich immer nur um taktische und rein formale Vorgänge, die mit den wirtlichen StaatSnotwendigkeilen nur sehr wenig zu tun haben. Ein ungeheurer Aufwand von Zeit und Kraft wird hier vertan, damit nur ... ja nichts geschehe. Schließlich noch eine Frage: Kann eS einen Staatsmann befriedigen, in dieser Komövie die erste Rolle zu agieren? * Der zweite Lag -er preußischen wahlrechtrdebatte. lS t i m m u n g sb i l d.s ck. Berlin, 11. Februar. sPrivattclegramm.s ES ist doch merkwürdig, welch besänftigende Wirkung solch eine Nacht voll ruhigen Schlages auSübt. Die stärksten Wogen halten in ihrem Andrang davor nicht stand: so hat sich denn im preußischen Ab geordnetenhaus«: eine bei weitem friedlichere Stimmung durchgerungen, als am Vortage. Beim Publikum wie bei den Volksvertretern hat die nervöse Erregung einer sachlichen Beurteilung Platz gemacht, was man angesichts der Erfahrungstatsache, daß ein scharfer Druck einen ebenso scharfen Gegendruck ausübt, im Interesse der Debatte nur begrüßen kann. Bei der Regierung scheint man dem zweiten Tag des Wahlrechts kampfes nicht mehr so starkes Gewicht beizulegen. Am Regierungs- tische sind zu Beginn der Sitzung nur der Minister des Innern von Moltke, Beiclcr und Wahnschaffe anwesend, Herr von Bet hmannHollwcg erscheint erst um 3^ Uhr. Den Reigen der Redner eröffnet der Zentrumsmann Herold. Sein langer weißer' Bart fällt majestätisch auf die Brust herab, darüber eine scharf gebogene Nase, die Stirn etwas zurückgeschobcn, das Gesicht markant und scharf geschnitten, lo könnte er einem Plastiker für einen Prophetcn-Moscs- Kopf zum Vorbild dienen. Die Stellung seiner Partei zur Wahlrechts vorlage ist alt. Schon zehn Jahre lang hält das Zentrum, wie sein Sprecher betont, an seiner Haltung unentwegt fest, und diese geht darauf hinaus, das Wahlrecht, wie wir es für das Reichsparlament besitzen, auch für das preußische Abgeordnetenhaus cinzuführen. Tie Begründung dasür siebt der Redner in den mannigfachen Ausgaben, die der Reichs- tag mit der allgemeinen und geheimen Wahl glücklich zu Ende gesüyri habe. Aber der Redner weiß, daß ia der Ministerpräsident am Vor tage den Sozialdemokraten die Absicht einer Untergrabung der Staats- auwrität unterstellt hat, gerade deshalb, weil auch sie für dieses Wahl recht cintreten wollen. Diesen Vorwurf weist der Zentrumsredner für seine Partei weit zurück, denn er erblickt in dem ganzen Entwurf nur den Vorteil, daß er die Einteilung der Wahlkreise veibchalten will. Damit tritt er den Nationalliberalen entgegen, zur allgemeinen Heiter keit dieser Partei und der gesamten Linken des Hauses. Das stört ihn jedoch nicht, in langen Erörterungen die alte Einteilung zu preisen. Freilich ist er nicht so optimistisch, daß er an eine Ersüllnug seine: Wünsche glaubt. In den Kreisen des Zentrums erweckt er mit seinen Aeußerungen lebhaften Beifall. Die Konservativen scheinen etwas vcr- blüfft, von ihrem Freund bei der Reichssinanzreform solch „radikale" Reden zu hören. Der Minister des Innern zeigt, daß die Re- gierung doch mit der Zeit fortgeschritten ist, in einem Punkte wenigstens. Er erklärt die indirekte Wahl, die die Konservativen gern beibchalten möchten, als ein Erbstück aus Großvaters Zeit, wo noch keine Eisenbahn, kein Telephon und alle die Gaben der Moderne existierten, die den Wählern die Ausübung ihres Wahlrechts erleichtern konnten. Die Ein- wände, die gegen die vorgcschlagcne Maximierung gemacht werden, hält er nicht für stichhaltig. Um die „plntokratischen" Wirkungen des be stehenden Wahlrechts abzuschwächcn, erscheinen sic ihm dringend nötig. Eine Verständigung über Einzelheiten erhofft er von der Kommission. Freiherr v. Zedlitz sFreikons.s spricht anfangs so leise, daß man kaum ein Wort von ihm verstehen kann. Erst die aufmunternden Zurufe: „Lauter, lauter!" bringen ihn etwas aus der Re'erve heraus. „Preußen in Deutschland voran", das ist sein Sehnen. Dazu hält er aber die Ucbertragung des Reichstagswahlrechts nicht für angebracht. Er er- innert an die vielen Auflösungen des Reichsparlaments und sieht die Stunde voraus, wo cs heißen wird: „Entweder Reich oder Reichs- tagswahlrecht". Dagegen tritt er mit aller Entschiedenheit für die direkte Wahl ein. Bedenken trägt er jedoch bei der geplanten Maximierung. Ihre Wirkungen möchte er gern abschwächen, indem er nicht eine Dritte- lung der Urwählerbezirke, sondern der Gemeindebczirke vorschlägt. Daß die Bildung privilegiert werden soll, erscheint ihm ein vernünftiger Gedanke, solange nicht die Militäranwärter bevorzugt werden. Diele Herren sind nicht zu seinen Freunden zu rechnen. Für die ganze Vor- läge sicht er nur Segen voraus, wenn sie auf der Grundlage der öffentlichen Wahl ausgebaut ist. Entweder diese oder gar nichts. Aber ein strenges „Nie!" schallt ihm von dem Abg. Ko p sch lFrs. Vvt.s entgegen. Als er geendet, erschallt auf der Rechten lebhafter Beifall, links heftiges Zischen, dem wiederum Zustimmungskundgebungen seiner Freunde antworten. Vor fast leeren Bänken spricht Ströbel lSoz.s. Selbst Herrn v. Bethmann Hollwcg ist der Genosse zu uninteressant, und der Minister des Innern benützt die Zeit, in der der Sozialdemokrat sein Kampflied bevausschmettert, sich in ein lauschiges Eckchen zurückzuziehen. Daraus vermag ihn auch nicht die Donnerrede des Herrn Ströbel zu vertreiben, und so predigt dieser tauben Ohren und unbesetzten Stühlen. Zwar heimst er verschiedene Ordnungsrufe ein, aber das kann ihn nicht ab halten, mit Ausdrücken, wie „hundsföttischc Vorlage" und ähnlichem, um sich zu werfen. Der Inhalt seiner Rede ist natürlich ein Verkam- mungsurteil. Eine sehr schlechte Note erteilt Kvrfanttz sPolcs Herrn v. Bethmann Hollweg. Er wundert sich darüber, wie ein Mann mit dieser Weltsremdheit einen Ministerstuhl innehaben kann. Besonders ist er erbost darüber, daß er, wenn auch vielleicht unbewußt, das Reichs- tagswahlrecht herabgesetzt habe. Im Reichsparlament habe man ja viel- mehr zuwege gebracht, als im preußischen Abgeordnetenhaus«:. Ebenso scharf ist seine Kritik an der ganzen Vorlage. Doch ist das Interesse res Houses erschöpft. Ein Vertagungsantrag wird mit sichtlicher Befriedi gung angenommen, und den übrigen Rednern bleibt cs Vorbehalten, am morgigen Tage ihre Ausführungen zu machen. * 4pretzstimmen. Die Partciofsiziöse „N a t i o n a l l i ble r a l e Korrcspon- dcnz" erklärt, der Widerstand der Konservativen könne aus Bethmanns Rede nur neue Nahrung ziehen, und enthält folgenden, sehr bemerkens werten Satz: Ein Ministerpräsident, der sich in Ruhe mit dem Gc- danken abfindet, daß die Parlamente nur Geldbcwilli- gungs- und G e s c tz g e b u n g s m a s ch i n e n sind oder zu sein brauchen, ist in einem wirklich konstitutionellen Lande nicht au; dem richtigen Platz. Die „N a t i o n a l z e i t n n g" sagt zn der Rede des Minister- Präsidenten: ,Wohl fehlte es der Rede nicht an starken Momenten und ein- drucksvollcn Versicherungen; aber die Gcjamtwirkung wird nicht sehr nachhaltig sein. Besonders bei den N a t i o n a l l i b e r a l c n hat der Ministerpräsident.s c h r enttäuscht. Soviel man ihn: auch zugeben mag, im Bekenntnis zum konservativen Dogma vom Staate ist hier v. Bethmann wcitergcgangcn, als sich mit den vorgctragcncn Lehren von der Unparteilichkeit der Regierung verträgt. Die „Tägliche Rundschau" schreibt: Als Feinde jeder wirklichen erreichbaren Reform zeigten sich wieder die Sozialdemokraten, die durch ihr wüstes Gebaren im Ab- geordnetenhause nur Erbitterung bei den bürgerlichen Parteien her- vorriesen und durch die Massendemonstrationen, zu denen sie ihre An- Hänger am Sonntag verleiten wollten, nur die Sache der Reform schädigen und den guten Willen der Konservativen, die doch die Geben- den sein müssen, beirren können. Die „Deutsche Tageszeitung" meint: Ter Ministerpräsi dent habe n i ch t e i n m a l d e n Versuch gemacht, die angeblichen Mißstände des bestehenden Wahlrechts nach zu weisen. Seine Gcdankengänge stellten ein unendlich schwereres Gewicht mehr gegen, als für eine Aenderung des preußischen Wahlrechts dar. In der „Vossi scheu Zeitung" kann man folgende gute Sätze lesen: So ungefähr wie der Ministerpräsident hätten die Minister reden können, die Friedrich Wilhelm IV. abhieltcn, rechtzeitig eine freiheit liche Verfassung zu verkünden: so ungefähr hatten auch die ver blendeten Gegncrdüs Fortschrittes vor Jena auf den König eingeredet, daß die preußische Verwaltung über jeden Zweifel erhaben, musterhaft, unnahbar, dem armseligen Bonaparte hundertfach überlegen sei. Diese Selbftzusriedcnhcir und Selbstgefälligkeit ist nur zu oft einem Staatswesen verhängnisvoll geworden. Wie anders war Wilhelm 1.! Der hatte schon 1853 Herrn von Kleist-Retzow eine Lehre gegeben, es seien nicht immer die besten Patrio- t e n, die am lautesten die N ü ck k c h r z u den alten Zuständcn fordern. Das „Berliner Tageblatt" meint: Bethmann Hollwcg batte von seinem Standpunkt aus das Amt des preußischen Ministerpräsiden ten mit der Verp'Iichtung, das Versprechen der Thronrede vom 20. Okto- der 1908 zu erfüllen, überhaupt nicht übernehmen dürfen. Der „Vorwärts" überschreibt seinen Artikel mit „Pfui" und vvsft, daß die Vorlage in der Kommission bald zu Tode kuriert sein werde. Die gleiche Ueberschrift haben übrigens die Leipziger und die Dresdner Volkszeitung auch gewählt. Ta scheint es fast, als ob hierfür ein Parteiukas vorlicgt. Weiteres ,nr Wahlrechtsvorlage. Von politischer Seite wird bestätigt, daß die Wahlrechtsvor- läge nicht von sämtlichen preußischen Ministern,
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