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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 30.01.1910
- Erscheinungsdatum
- 1910-01-30
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-191001301
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19100130
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19100130
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung
-
Jahr
1910
-
Monat
1910-01
- Tag 1910-01-30
-
Monat
1910-01
-
Jahr
1910
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Bezuqt-Prei- fiftc L«v»»g ua» üor-rt, d»rch «<<« TiLaer und Spedileure «» H«u« ^drucht: UV .> -uonarl., L.7V »ierteljLhri. Bei unser» Filialen u. Annahmestellen adaeholt: IS mimatl. r.rs vierWMÜ. L«r» dt« Post: tunerhaid Leuuchiand« und der deullch«» «oionie» »ierlelithrl. lt.tv monali. I^iV aulschl. Postdestellneld. Ferner >u Belgien, Dänemark, den Lonaustaaten, Iialien, Lureinvura, Niederlande, Nor» iveaeu, Oeilerreich-Ungarn, Rußland. Lchwede», Schweig u. Epanira. I» allen übrige» Staaten nur direkt durch de« ÄeichLft,stelle de« Blatte« erhältlich. Dail Leipziger Tageblatt erscheint wöchent lich 7 mal und zwar morgen«. klbenneinent-Annabme: Luguftuöplatz 8. bei unseren Träger«, Filialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Dt« ein,eine Nummer kostet 1V stkedaktton und Seschäftöftelle: Johannisgasse 8. Fernsprecher: I«6«L l«M. I««X "eipMerTaMÄ Handelszeitung. Amtsblatt -es Rates und -es Rolizeiamtes -er Lta-t Leipzig. Aazeigen-Prei» str Ansera» en« Leipei, und Umgebnn, di« vaeipalten, Petitgeile 2L H, knangiellr Lngeigeu 80^, Neklameu l »Mi aukwirt« llv H, Reklamen TA- ass »o» Ausland LOH, finane. Anzeige» Reklame» l.SU Anserate». Behörden >m amilicheu Teil40^. veilagegebübr > v. Tausend exki. Posi- aedühr. »eichäsldaugeigen an bevorzugte: «stelle im Preise erhöht. Nadati nach Tar> Festerteiltt Auikräg« können nicht zurück- »«zogen werden. Fstr da« Erscheinen an deftimmrea Tage» und Plätzen wird keine E-aranft« übernommen Anzeigen-Annadm-i ßlugustutzplatz 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Lnnoucen- stlpeditionrn de« In» und Lutlaade». -a»pt-Filiale Berlin Carl Lnncker, Herwgl. «iyr tzofhnch» Handlung, Lsttzowst.ahe KT lTelevbon VI. Nr. a-,zs). Haupt-Filiale Dresden: Seestrahe 4,1 (Telephon <621). Nr. 28. Sonntag 30. Januar 1910. 1A. Jahrgang. Das wichtigste. * Bei der Fortsetzung der Beratung des Militäretats im Reichstage kam es am Sonnabend infolge einer unglaublichen Provokation des Reichstages durch den konservativen Ab geordneten v. Oldenburg zu äußerst stürmischen Szenen. (S. Leitart. u. Neichstaasbericht.) * In der B u d a e t k o m ni i s s i o n des Reichstages verlas Staatssekretär Dernburg ein Telegramm des (Gouverneurs Schuckmann, wonach dieser den Demonstrationsfackelzug der Lüderihbuchter nicht angenommen habe. sS. Ber. über d. Birdget- kommission.) * Bei der R e i ch s t a g s e r s a h tv a h l im Wahlkreise Eisenach- Dermbach hat Stichwahl zwischen dem nationalliberalen und sozialdemokratischen Kandidaten stattzusindcn. sS. Letzte Dep.s * Die Gebrüder Mannesmann erheben aus Grund einer auto risierten Erklärung des früheren spanischen Ministerpräsidenten Moret sehr schwere Beschuldigungen gegen das Aus- wärtiaeAmt. sS. Letzte Dep.s * Der deutsche Botschafter Gral W o I s f - M e t t c r n i ch hat beim Festmahl der deuischen Vereine Londons eine Rede über die deutsche Flott envol itik gehalten, die in England grobes Aussehen erregt. (S. Ttschs. R.s * In Washington glaubt man, eine Grundlage zum Han- del s Vertrag mit Deutschland werde noch vor dem 7. Fe bruar gefunden werden. * Kaiser Franz Joses lehnte die Demission des Grafen Kbnen-Hcdervary ab und erklärte sich mit der Anordnung von Reu wählen zum ungarischen Abgeorduetenbause einverstanden. lS. AuSl.1 * Die englischen Paria in. entswahlen wurden am gestrigen Sonnabend beendet. Ihr Resultat ist eine Mehrheit von etwa l20 Stimmen der Liberalen mit der Arbeiterpartei und den Irländern über die Unionisten. (S. Ansl.s * Das Hochwasser in Paris ist nunmehr im Sinke« be- armen. Der Deutsche Kaiser hat dem Präsident«« der französischen Republik ein Beileidstelegramm ge sandt. sS. d. bes. Art.) * Das Leipziger Stadttheatcr wird in diesem Jahre zpm ersten Male grobe Opern-Maife st spiele veranstalten. sS. Fcuill.) Ern und zehn wann. Der louservative Abgeordnete v. Oldenburg - Janusckau bat sich schon manche Elravaganz geleistet und seine Ausbrüche kauften sich schon zeitweise so, daß ernsthafte Politiker sich gerwungen fühlten, ibn nicht mehr ernst zu nehmen. Man erinnert sich vielleicht noch bes Zwischenfalls zwischen dem sriiheren Staatssekretär des Innern und Kanzlcrvertretcr Gras PosadowSly, der dem Abgeordneten v. Oldenburg seine Schätzung mit den Worten aussprack: „Wenn ich nach Ihrer Metbode die Geschälte führen wollte, wäre ich in vier Wochen erledigt." Man erinnert sich aber auch der Manier, wie Herr v. Oldenburg die Novemberkrise zu dem Zwecke zu benutzen verstand, die Konservativen als die Triarier Seiner Majestät zu empfehlen. Und man muß das ReichStagsbilv bei solchen Vorgängen selbst gesehen haben, um über die prinzipielle Bedeutung dieser und ähnlicher Aussprüche ein Urteil zu haben. Der tobende Jubel der Rechten spricht Bände. Ans Grund dieser Erfahrungen wird man zu der Auffassung gedrängt, daß in diesen scheinbaren Entgleisungen sich doch der Geist des preußisch-konservativen Junkertums rein und unver fälscht offenbart. Herr v. Oldenburg spricht tatsächlich nur aus, was die Vorsichtigeren, die Herren v. Heyvebrand, v. Kröcker, denken. Erst von vielem Standpunkte aus kann man die Bedeutung der Sonnabend vorgänge im Deutichen Reichstage richtig seherr. Herr v. Oldenburg iprach zum Militäretat, den er am liebsten der parlamentariichen Kritik ganz entrückt hätte, verteidigte die Institutionen des MilitärkabinettS, die adligen Regimenter, die Duelle und überhaupt alles das, woran nicht nur der Liberalismus, sondern der gesamte fort schrittliche Geist Anstoß nehmen muß. Und nun leistete er sich den Satz: „Der König von Preußen muß jederzeit in der Lage sein, einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag." Wenn diese Worte keinen Tumult zur Folge gehabt hätten, so hätte man an dem Parlament, dem diese Beleidigung von eiuem seiner Mitglieder ins Gesicht geschleudert wurde, verzweifeln muffen. Und nun geschah daS Unbegreifliche, daß der zur Wahrung der Würde des Parlament-Berufene, der Präsident, in diesem Falle der zweite Vizepräsident, Erbprinz vou Hohenlohe-Laugenburg, ver sagte und deu Redner nicht zur Ordnung rief. Er beharrte sogar nach de« tumultuarischen Szenen im Plenum, nach den Ausbrüchen der Empörung auf der ganzen Linke» bei seiner Auffassung, derzusolge Herr v. Oldenburg nur de» wünschenswerte» Grad der militärischen Dis ziplin habe erläutern wolle». Es lebe die Kunst der Interpreta tion! Wir könne» de« Abgeordneten v. Oldenburg nicht ins Herz sehe» und er selbst hat diese bequeme Auffassung zu bestätige» sich beeilt. Aber auch bei dieser Interpretativ» bleibt die Form de- gewählten Vergleichs eine unerhörte Beleidigung de- Parla ment-, eine »och größere d«S Kaisers. Der Gedavkengaug der von Herr» v. Oldenburg geforderte» Möglichkeiten schließt die ärgste Ver letzung der vom Kaiser beschworene» Verfassung in sich. Artikel 24 der Verfassung de- Deutschen Reiche- bestimmt: „Die Legislaturperiode de- Reich-tag- dauert fünf Jahre Zur Auflösung de- Reichstag- während derselben ist «in Beschluß de- BundeSratS unter AHimumug de- Kaiser- erforderlich." Und nun halte man gegen die Bestimmung der beschworenen Reichs verfassung die Worte des Abg. v. Oldenburg, und man wird die unsag bare Nichtachtung, um nickt zu sagen Verachtung, veS preußischen Junkers gegen alles parlamentarische Wesen daraus hervorbrrchen sehen. Rund 400 Mitglieder zählt der deutsche Reichstag. Dieser Versammlung von Ber- iretern des deutschen Volkes will Herr v. Oldenburg von einem Leutnant und zehn Mann Gewalt antun lassen. Jedes Wort in diesem Ausspruch ist eine Emanation der preussisch-konservativen Staatsausfassung. Schon die unausgesprochene Vorausietzung, daß die 400 Mann dem Leutnant mit seinen zehn Gewehren Order parieren, ist die gröblichste Herabsetzung, die man sich nur denken kann. Und daß sie gar von einem Volksvertreter selbst berrübrt, ist für den Stand des politischen Niveaus im Deutschen Reiche beschämend. Wie lann ein Wahlkreis mit Tausenden von Wählern einen solchen Mann in das Parlament schicken? Und eS drängt sich die mindestens cbento wichtige Frage auf: Wie kann der Präsident eines Parlaments einen solchen Ausspruch so zu verharmlosen suchen, so wenig Em pfindung für die Heiligkeit der Rechte deS Volkes haben, daß er nicht zum mindesten gegen die Form dieses Ver gleiches, selbst wenn er nur als theoretisches Spielen mit einem Verlassuugsbruch aufzufassen tväre, einsckreitet'? Hier zeigt sich an einem Falle der Praxis das Gefährliche des Gebrauchs, zur Geschäftsführung einer Volksvertretung mit Vorliebe hohe Würden träger zu berufen. Es ist sehr wohl denkbar, daß ein Prinz, der die Rechte eines deutichen Bundessiirsten auSgeübt hat, in seiner Schätzung der parlamentarischen Möglichkeiten infolge feiner Stellung, vielleicht auch seiner persönlichen Beziehungen zum Ober haupte der Nation, befangen ist. Jedenfalls braucht man durchaus nicht Sozialdemokrat, durchaus nicht radikaler Gesinnung verdächtig zu lein, um gegen dieses Verhalten des Präsidenten aufs Schärfste zu protestieren. Es ist überaus erfreulich, daß die Sozialdemokratie in diesem Falle sich nicht etwa als alleinige Hüterin der Rechte und der Ehre des Parlaments gerieren kann. Wir rechnen es insbe sondere dem Abgeordneten Bassermann hoch an, daß er nicht ge zögert bat, sich dem Proteste aller verfassungstreuen Politiker an- zufchließen. Und e- ist nicht zu entschuldigen, aber zu begreifen, wenn sich einzelne Heißsporne durch die Untätigkeit veS Präsidenten zu scharfen Angriffen gegen den Erbprinzen von Hohenlohe hinreißen ließen. Die Praxis, auf Povokationen mit Beleidigungen zu antworten, ist nicht empfehlenswert, und formell hat sich natürlich auch der Abgeordnete Ledebour, dessen persönliche Normaltemperatur dicht am Siedegrad liegt, ins Unrecht gesetzt. Die Form muß man mißbilligen, dem sachlichen Proteste zustimmen. Am Dienstag soll dem Ordnungsrufe deS Abgeordneten Ledebour, der an die Entscheidung des Hauses appelliert hat, ein Nachspiel folgen. Es ist gut, daß man diese Entscheidung der Erregung deS TageS ent. rückt hat. Aber wir zweifeln keinen Augenblick, daß au- dieser Dis kussion nicht nur die herbste Verurteilung des Abgeordneten Oldenburg, sondern auch die Mißbilligung de« unbegreiflich konzilianten Verhaltens deS Präsidenten als sachliches Ergebnis zu Tage treten wird. Es hätte für alle kundigen Thebaner dieses Zwischenfalls und des Jubels der Rechten nicht bedurft, um die Verfassungstreue der preußi schen Ritter in ihrer ganzen Brüchigkeit zu erkennen. Es ist aber wert voll, daß hier an einem eklatanten Beispiel allem Volke und allen Wählern vor Augen geführt worden ist, wessen sie sich von einem junkerlichen Vertreter der Volksinteressen zu versetzen haben. Die Offen herzigkeit des Abgeordnete» v. Oldenburg wird seine» Freunden teuer zu stehen kommen. * Die Szene im Reichstag. Ueber die erregte Sounabendsitzung des Reichstages geht uns von uuserem Berliner Mitarbeiter folgendes Stimmungsbild zu: ck. Berlin, 29. Januar. (Priv.-Tel.) Wen» einer noch behaupten will, Preußen-Deuttchland sei kein Militärstaat, so hätte er in de» Reichstag kommen und mit anhören sollen, wie nun schon am dritten Tage über nichts weiter gelprocken wird, als über die Soldaten! Er wäre sicherlich eines Besseren belehrt worden. Die Absicht des sreifinnigen Antrags auf Vertagung in der gestrigen Sitzung wird heute offensichtlich. Abg. Müller-Meiningen (Freis. BolkSp.) wollte sprechen und man wird eS ihm nicht ver argen können, wenn er seine Zuhörer lieber lebenSsrisch und munter, als durch lange Debatten abgestumpft und interesselos sehe« möchte. So kommt er denn heute als erster Redner zu Worte, und er kann mehr sagen als die bisherigen Redner, denn die vorauögegangenen Debatten kaben ihm einen ausgiebige« Stoff in die Hand gegeben. Er will der Armee, diesem „Schoßkind de- Deutschen Volkes und des Parlaments", seine Liebe dadurch beweise», daß er sich nicht wie die Konservativen gegen alle Nachteile blind stellt, sondern indem er offen auf alle Lücken und Fehler hioweist. Und von diesen sieht er eine ganze Anzahl. Zunächst ist e- da» Militärstrafrecht, da- nicht so ist, wie es sein sollte, und damit verbunden die Soldatenmißhandluugen, die ständig mehr Uberhaudnähmen, auch in Bayern. Die Donnerrede de- Herrn von Gebsattel am Mittwoch hat also den freisinnigen Abgeordneten nicht so ohne weiteres eine» anderen belehrt. Dann wendet er sich scharf gegen konfessionelle Rücksichten bei der Auswahl der Reserve offiziere, gegen den Duellunfug und das Protektionswesen in der Armee. Für die Offiziere wünscht er ein größeres Streben nach Bildung, während er von den „Paradespielcn" recht wenig wissen will. Damit ist aber nicht gesagt, daß er kein Freund körperlicher Uebungen sei, im Gegenteil, er fordert sogar in Anlehnung an eine Resolution, die die Freisinnigen eingebracht habe», daß sich die Militärverwaltung auch die turnerische Ausbildung der Jugend angelegen sein lasse, damit die Armee zu möglichst breiten Schichten der Bevölkerung in immer engere Beziehungen trete und so zu einem wahren Volksheer würde. Muller-Meiningen hatte klar und übersichtlich gesprochen, nicht zu viel und nicht zu wenig, und seine Worte waren getragen vou einer warmen Fürsorge für »ufere Armee. Er erntete denn auch lebhaften Beifall und anerkennende Zustimmung. Seiner Pflicht gemäß sucht der tzayriscke Militärbevollmäckiig;e von Gebsattel die Exemplisizierung des freisinnigen Abgeordneten aus bayrische Zustände zurückzuweiieu, um dann dem Sozialdemokraten Sachse das Wort zu überlassen. Dieier bringt noch einmal nack sozialdemokratischer Tendenz die Ereignisse im Mansfeldcr Streik zur Sprache, sonst nichts Neues. Was der Kriegsminister von Heering en darauf erwidert, ist in'olgekesfen auch nichts Unbekanntes mebr. Äuck das über den Fall Veith bat man schon deS öfteren vernommen. Und als die Quintessenz von alledem: Wenn eine Aenderung hier und ka einireten tollte, dann nur hübsch langsam, io schnell schießen die Preußen nickt. Die gute, alte Zeit! so jammert Herr von Oldenburg (Kons.i. Ja, da war es besser, da gab man nock etwas aus Traditionen! Frei lich, tröstet sich der alte Militär, so schlimm wie es die Herren bin- gestellt haben, ist es ja gar nicht. Duellunfug, Bevorzugung deS Adels — Unsinn! Und wenn schon, dann ist eben es heilige Tradition, an der nicht gerüttelt werden darf, auch vom ReickSiage nicht. Reichstag' WaS ist denn überhaupt der ReickStag? — Unheilvolle Stille vor dem Sturm im Hause. — „Der König von Preußen und der Deutsche Kaiser muß imstande sein, jedem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie lOMann und schließen Sie denReichS- tag!" — Und dann bricht's los, ein Sturm der Entrüstung, ein Lärmen und Toben, daß man sich an die Donau verletzt glauben könnte. Ledebour springt die Stufen zum Rednerpult empor und ruft in den Saal. Von konservativer Seite äußerl man laut den Wunsch nach einem Tierarzt, und so geht eS eine ganze Weile fort, so baß der nationalliberale Redner Dr. Osann auf der Rednertribüne steht und spricht und spricht, ohne daß man in dem mächtigen Tumult etwas verstehen kann. Endlich legt sich die Erregung etwas. Dr. Osann macht es kurz und seine wenigen Worte hinterlassen einen bemerkenswerten Eindruck im Hause: Wir werden auf den Bahnen, die uns die Geschichte unserer Partei gezeigt hat, weitergehen, und wir werden in allen nationalen Fragen stets den alten Opiermui haben, solange die nationalliberale Partei bestellt. Abg. Schrader (Fr>. Bgg.) ist der erste, der auf die Worte Oldenburgs über die Auflösung des Reickstags emgelu. Er bezeichnet sie als eine Respektverletzung des Parlaments, und es sei ein starkes Stück des konservativen Abgeordneten, dem König, der doch der Verfassung den Treueid geschworen habe, derartiges zuznmutcn. Mil dieser Ansicht steht der Freisinnige keineswegs allein, Singer (Soz.) und Bassermann (Natl.) verurteilen die Aeußerung Olden burg« ebenso stark. Ersterer schließt dann einen Appell an das Ehr gefühl des Vizepräsidenten Erbprinzen zu Hohen lohe- Langenburg an, der sich jedoch nicht getroffen füblt, da er die Worte des Konservativen ganz harmlos ausgefaßt hat. Diese Harmlosigkeit wird ihm natürlich von dem ostelbischen Junker bestätigt, der sich gern aus der Schlinge gezogen hätte, aber es Hilst ihm nichts. Auch Müller-Meiningen (Freis. Volksp.s schließt sich dem Protest an. Inzwischen heimst der Sozialdemokrat Ledebour einen Ordnungsruf vom Präsidenten em. So geht es im wirren Durcheinander eine Zeitlang fort, bis eist der Abg. Vogt (Wirtsck. Vergg.) die Debatte wieder in etwas rubigere Bahnen zu lenken weiß. Er weicht über Manöoerlchäven und Lieierungen, über Soldatenmißhandlun^en und Militärärzte, worauf ihm derKriegsministersogleich entgegnet. Weiter geht sodann das Gefechr zwischen Müller-Meiningen und dem bayrischen Militärbevo llmäch tigten in stetiger Rede und Gegen rede. Sodann betritt Herr Zu heil (Soz.) die Rednertribüne, von lärmender Unruhe empfangen. Das stört ihn jedoch weniger, denn er redet ja, wie er sagt, wenn es ihm paßt. Der Kriegs minister, Rogalla von Bieberstein (Koni.), Kreth (Kon).), Mommsen (Freis.), sie alle sprechen, noch mehr ooer weniger von der Erregung befallen, die die unerhörte Provokation Olden burgs bervorrief. Nach Schluß der Diskmpon wird dann eine Re'oluiion der Lmtsliberalen auf Reform ces Militärstrafgeietzes angenommen. In der Spezialberatung sprechen noch Dr. Görcke (Narl.l und der Direktor des Reichsschatzamts Herz. Darauf vertagt sich das Haus. Ueber den Ordnungsruf, der dem Abg. Ledebour zuteil wurde, und dem gegenüber an das Urteil desHauses appelliert wurde, wird nach einem Antrag Baisermann erst am Dienstag beschlossen werden. Unter dem Eindruck der gewaltigen Erregung, die die Worte Oldenburgs hervorgerufen haben, verließeu die Abgeordneten den Saal. * weitere Nachrichten zur Ol-errbura-Szene. 0. Berlin, 29. Januar. (Privattelegramm unseres Berliner Ver treters.) In den Kreisen der Reichsparlei ist man ber Ansicht, daß an einen Rücktritt des Erbprinzen Hohenlohe vom Präsidium nicht zu denken fei, wie im Reichstage hier und da wohl erwartet wurde. Am Dienstag werden ber Beratung über den Appell des mit einem Ordnungsruf bedachten Abgeordneten Ledebour an den Reichstag die rechtsstehenden Parteien daraus dringen, Vai; Sie LlSenbnrgifche Rede nicht mit in Sie Debatte «mögen werde, baß al>o zebem Redner, der dies lrotzveisi tue, das Wort entzogen werbe. Es hanvle sich nur darum, ob der Ordnungsruf berechtigt war od er nicht. In reichsparteilichen Kreisen bejaht man die Frage der Berechtigung elbstverständlich. (!) ^pariser AeberKchwe»riniungsbrief. (Von unserem Pariser ^.-Korrespondenten.) * Paris, 2S. Januar. Schneesturm mit Blitz und Donner, eine von allen Seiten vor dringende Ueberschweiumuug — wir tanzen nicht mehr aus einem Vul kan, wohl aber in einem Höllenwiniel, den Dantes Phantanc unentdecki gelassen hatte. Paris hat schon oft ein universelles Kopsschütteln hervor- gerufen; selten erstaunte es die Welt mehr wie jetzt. ES besitzt eine ganze Armee als Garnison, eine vortrefflich organisierte Feuerwehr, ein Wasserdauamt mit großem Personal und dazu die vortrefflichste Polizei; dies alles konnte nicht eine Sekunde die Katastrophe aushalten, die über die Hauptstadt hereingebrochen ist. Die Kanalisation, die Kabel leitungen und Untergrundbahnen, die prachtvolle moderne Wühlarbci: unter Häusern. Straßen und Plätzen hat urplötzlich ihre große Gefahr offenbart. Tie steigende Seine füllte weithin unter den Quartiers alle Röhren und Tunnels mit Wasser, das sie unter Hochdruck in ein schlimm erkranktes Adcrnetz verwandelte und aus Paris, um eine ärztliche Dia gnose wiederzugeben, eine an Arterieosklerose und Hvndropsic schwer leidende Stadt machte. Leute, die so entfernt vom Fluffc wohnen, daß sie ihn nicht jeden Monat zu Gesicht bekommen, erhielten urplötzlich feinen Besuch; er kam wie der Berg zu Mubammed. Unter dem starken
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