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Di« Morgen-Ausgab« erscheint >m '/,? Uhr, di« Abmd-AuS-ab« vochmtag« u» b Uh«. Redaktion NN- Lrveditiou: JohanneSgasse 8. Di« Expedition ist Wochentag» unonttrbrochru tz*öss»«t von früh 8 bi» Abend« 7 Uh» Filialen: Ott» Klemm'« Eorttm. (Alfred Hahn), Umvrrsitätsstraß« 8 (Paulinu»), Lont« Lösche, Katharinnistr. 14, Part, und König-Platz 7, Bezugs-Preis G» h« Han-texpeditkon oder den lm Atodb« ««tzlrk «nd den Vororten errichteten Au«- andrstellen ab geholt: vierteljährlich ^4^0, o«t sw^altaer täglicher Zustellung in« ibaa« ^l b^O. Durch di« Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: »tartestährltch 8^-. Dirrct. täglich« -treuzbaadiendnng 1«r Aurland: monatlich ^li 7.HO. Abend-Ausgabe. KiWM TMlilaN Anzeiger. Ättilsvratl des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Nalljes nnd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Mittwoch den 14. September 1898. Anzeigerr-PreiS die 6 gespaltene Petitzeile »0 Pf-. Reklamen unter dem Redactionsstrich (4no- spalten) bO^, vor den Familieonachrichtea (S gespalten) 40 Größer« Schriften laut unserem Preis- vrrzeichntß. Dabellarischer und Zissernsatz uach höherem Laris. Ertr«-Vellage« (gefalzt), nur mlt der Morgen-Ausgab«, ohne Postbesilrderung 60.—, mit Postbeförderung ^b 70.—. Aunahmeschluß siir Iinzeigea: Abend-Ausgab«: vormittag» 10 Uhu. Mcrgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je »in» halbe Stunde früher. Anzeige« sind stet« an die Axpedttioa zu richten. Druck «nd Verlag von S. Bolz in Leipzkh. 82. Jahrgang. Zur Lekam-fung des Anarchismus. Au« Berlin, 13. September, wird uns geschrieben: Wenn morgen in einer anarchistischen Versamm- lung, die sich mit dem Attentat auf die Kaiserin von Oesterreich beschäftigen soll, zahme Worte fallen werden, so lege man dem Borgang doch wenig Bedeutung bei. In den anarchistischen Versammlungen erscheinen gewöhnlich nur die Elemente, welche sich gern sprechen hören; und unter den Augen der Polizei, die, wie eS wiedrrbolentlich vorgekommen, Anarchisten aus der Versammlung heraus verhaftet hat, mäßigen selbst die verbissensten und maßlosesten Agitatoren ihre Sprache. Die Anarchisten, welche sich um Pawlowitsch schaaren, und auf etwas merkwürdige Weise das .Neue Leben", das Ecncurrrnzblatt gegen den „Armen Conrad" und den „Socialist" inS Leben riefen, weil diese Blätter ihnen zu zahm waren, erscheinen gewöhnlich in Versammlungen nicht, sie haben ihre Clubs und diese anarchistischen Clubbildungen haben namentlich in den Vororten Berlin«, Weißcnsee, Rixdorf große Verbreitung gefunden. Eine große Anzahl Gesangvereine, in denen auch declamatorische Vorträge gepflegt werden, steht ganz und gar auf anarchistischem Boden; und wohl deshalb erscheint in jeder Nummer des „Armen Conrad" ein ungemein schwülstiges, aufregendes Gedicht. Man halte sich vor Augen, daß in ganz kurzer Zeit ein Ehrengeschenk von etlichen Tausend Mark für die aus dem Zuchthaus entlassene deutsche Luise Michel, die Schnciderssrau Agnes Reinhold, gesammelt wurde; man hat hierin einen Beweis, daß so unbedeutend, wie mehrfach behauptet wird, die anarchistische Bewegung in Deutschland nicht ist. An der Sammlung betheiligten sich auch schweizerische, italienische und spanische Anarchisten, ein Zeichen, wie sehr die Anarchisten aller Länder zusammenhängen. Die Schriften von Joh. Most sind, ins Spanische übersetzt, massenhaft unter den spanischen Anarchisten verbreitet, und deutsch; Anarchisten sammelten für die Spanier, die im Kerker auf Montjuist saßen, immerhin nennenswerthe Summen —; Michele Augiolillo, Acciarito, Henry, Baillant, Ravachol, Caserio sind regelmäßig am 11. November, der als ErinnerungStag an die Hinrichtungen der Anarchisten in Chicago von den Anarchisten aller Länder feierlich begangen wird, als wahre Heroen gefeiert worden. Für den Anarchisten Koschemann, der wegen deS Attentats auf den Polizeioberst Krause angeklazt war und zu schwerer Zuchthausstrafe verur- theilt wurde, waren in wenigen Tagen mehrere hundert Mark gesammelt. Als im August vorigen Jahres eine ganze Anzahl Anarchisten in Mailand verhaftet wurde, zeigte sich ebenfalls auS deu bei ihnen Vorgefundenen Schriftstücken von Lega, Caserio, Malateste, Acciarito, daß die Anarchisten aller Länder eng zusammenhängen. Man hatte damals diesen Verhaftungen nicht die gebührende Aufmerksamkeit ge schenkt, der Mailänder Aufstand vom Mai ließ die Größe der anarchistischen Gefahr scharf erkennen; und die letzten Nachrichten aus Mailand zeigen, daß der Anarchismus daselbst immer noch frech seinen Kopf erbebt. Also lasse man sich nicht durch zahme Kundgebungen in einer anarchistischen Versammlung täuschen; sie bedeuten nichts, sie sollen nur daS öffentliche Gewissen etwa« einschläsern; der Anarchismus ist stärker und internationaler, als man gewöhnlich glaubt. Soweit die Berliner Zuschrift. Der internationale Charakter des Anarchismus erheischt auch eine internationale Bekämpfung desselben. Der Ruf nach einer solchen ist jedesmal er hoben worden, wenn die Knude von einer anarchistischen „Helden- that" die Welt durchlief. Ueberall war man sich einig darüber, daß etwa« geschehen müsse, und an Versuchen in dieser Richtung hat eS denn auch nicht gefehlt. Sie sind alle gescheitert, theils weil England und die Schweiz eS nicht für angezeigt hielten, daS Asyirecht zu beschränken, theils weil der Anarchismus auf jede Organisation verzichtet und so nur außerordentlich schwer zu fassen und zu treffen ist. Je nach Berus, persönlichen Beziehungen, nach dem Aufenthaltsort und dergleichen Rücksichten vereinigen sich fünf, sieben, höchstens ein Dutzend Menschen zu einer Gruppe, um nach einiger Zeit wieder auSeinanderzugehen. Untereinander stehen diese Gruppen fast nur durch ambulante Mittels personen in Verbindung. Unter diesen Umständen wird man eS begreiflich finden, daß eS bis jetzt nicht gelungen ist, den Anarchismus zu schwächen, geschweige denn auszurotten. Nichts desto weniger wird zweifellos der Versuch noch mals gemacht werden und gemacht werden müssen. Diesmal ist eS die russische Regierung, welche in einer Anzahl hoch- vfsiciöser CommuniquäS die Anregung dazu giebl. Vor Allem wird es darauf ankommen, England und die Schweiz dazu zu bringen, daß sie „politische" Verbrecher von der Sorte der Anarchisten, denen gegenüber die menschliche Gesellschaft sich im Zustande der Nothwehr befindet, unbedingt ausliefert. Wird da nicht intern ationaleSRecht geschaffen, dessen Ver letzung mit internationalen Repressalien bedroht ist, so ist ein nennenSwertheS Resultat nicht zu erhoffen. Es wird jetzt wieder daraus hingewiesen, daß, wenn die einzelne» Staaten nur die bei ihnen bestehenden Gesetze scharf handhabten, Verbrechen wie das Genfer nicht geschehen könnten, und daß eS deshalb einer internationalen Ausnahme gesetzgebung nicht bedürfe. DaS Verhalten der Schweizer Behörde zeigt aber aufs Klarste, daß, wenn der einzelne Staat seinem eigenen Gutdünken überlasten bleibt und nur sich selbst verantwortlich ist, die Gefahr nahe liegt, daß die Anarchisten Schlupfwinkel finden, wo sie unbehelligt ihre Pläne schmieden und ausführen können. So wird auö Lausanne Folgendes berichtet: Am 19. August suchte hier ein Geheimpolizist einen italienischen Anarchisten. Ihm fiel ein Individuum wegen seines merkwürdigen Ge sichtes auf, das in einer öffentlichen Promenade auf einer Bank saß. Der Agent fragte ihn, waS er hier thue und wer er fei. Hierbei bemerkte der Agent, daß er gedruckte Papiere in der Tasche hatte. „Was ist daS?" fragte er den Mann und nahm das Papier. Es waren anarchistische Lieder. Auf den Blättern stand der Name Luccheni. Die Polizeidirection des Cantons Waadt machte den Bundesanwalt in Bern sofort aus das gefährliche Individuum aufmerksam. Von Bern wurden aber keine Befehle an die Polizei in Lausanne gegeben. Man hätte in diesem Moment Luccheni aus der Schweiz als notorischen und gefährlichen Anarchisten weg weisen können. Da vom Bundesanwalt aber keine Ordre hierzu gegeben war, ließ man Luccheni in Lausanne frei lausen. In Deutschland hat der Centralverband deutscher Industrieller in Verbindung mit dem Verein deutscher Eisenhüttenleute, dem Bergbaulichen Verein für den Ober- bergamtSbezirk Dortmund und dem Verein für die wirth- schaftlichen Interessen Rheinlands und Westfalen- (gezeichner v. Haßler, ServaeS, Lueg und Iencke) dir Initiative er griffen und an den Kaiser folgendes Telegramm gesandt: „Di« furchtbare That, welcher Ihre Majestät die Kaiserin von Oesterreich zum Opfer gefallen ist, Ist ein erschreckender neuer Beweis für die Ziele des Anarchismus und der zu diesem führenden Bestrebungen. Unter dem unsere Herzen auf das Tiefste bewegenden Eindruck wissen wir uns mit Eurer Majestät einig in dem Gefühle der Pflicht, den Versuchen, unsere Religion, unsere Liebe zu unserem erhabenen Herrscherhaus« und zuin Baterlande zu vernichten, mit allen Mitteln strengster Gesetzgebung entgegenzutreten. Wir unter zeichneten Vertretungen deutscher Industrie wagen daher Euerer Majestät in tiefster Ehrfurcht die Versicherung auszudrückcn, daß wir in dem Kampfe gegen die ruchlosen Feinde unserer staat lichen und sittlichen Ordnung treu zu Euerer Majestät stehen. In unverbrüchlichem Vertrauen auf Euerer Majestät Kraft und Weisheit werden wir alle diejenigen Maßnahmen nachdrücklichst fördern und unter stützen, welche Euere Majestät zurllntcrdrückung der verbrecherischen Ziel« eines gewissenlosen Fanatismus und der Aufrechterhaltung der bedrohten Autorität des Staates für gut erachten werden." Wenn die Eingabe von den „zum Anarchismus führenden Bestrebungen" spricht, so zielt sie unverkennbar auf die Socialdemokratie als die Vorfrucht des Anarchismus. Daß auch Luccheni durch die Schule des SocialiSmus gegangen ist, wird durch folgende Meldung bestätigt: 8. Wie», 14. September. (Privattelegramm.) Der Korre spondent der „Neuen Freien Presse" in Genf sah heute im Bureau des Untersuchungsrichters den Mörder Luccheni. Luccheni'sAus sehen ist unheimlich. Ein blondborstiger Schnurrbart bedeckt theilweise die Oberlippe, graugrüne tiefliegende Augen flammten wild auf, als er dem Richter den Ort des Stiches mit der Feile zeigte. Ein schreckliches Lächeln erschien dabei aus seinem Antlitze. Seine Arme sind im Verhältnisse zum Körper auffallend lang. Der Richter fragte ihn: „Wenn Sie König Humbert oder Crispi hätten tödtcn können, hätten Sie es gethan?" Antwort: „Den König mit Freuden, Crispi nicht, oh nein, Crispi ist ein Dieb, er hat öOOOOO Lire gestohlen. Ich hätte noch mehr geraubt in seinem Fall. Vor einem Dieb muß man den Hut ziehen, einen Dieb morde ich nicht." Dabei lächelte er. Selbst der Untersuchungsrichter konnte sein Entsetzen kaum bemeistern. Vor seiner Abführung fragte Luccheni, ob er die erbetenen Cigarren erhalten werde, und verließ das Bureau, ohne den Richter zu grüßen. Wie sagt die socialdemokratische Theorie? Eigenthunr ist Diebstahl und per collsogueus die Aufhebung des Eigen- tbumS gerechtfertigt und straffrei. Von Kiefer Stufe der Erkenntniß braucht man dann allerdings nicht viel höher zu klettern, um auf dem „idealen" Standpunct des Anarchismus anzugelangen. Folgende Meldungen über den Genfer Mord sind noch zu registriren: * Genf, 14. September. (Telegramm.) Luccheni wird wahrscheinlich hier im October in einer außer ordentlichen Schwurgerichtssitzung abgeurtheilt werden. Der Mörder hat Untergebenen deS Untersuchungsrichters gegen über geäußert, wenn er sich in Italien befunden hätte, würde er den König Humbert ermordet haben. Der Untersuchungsrichter verhörte eine Anzahl Zeugen. Dabei stellte eö sich heraus, daß nach dem Mordanschlage zunächst alle Anwesenden meinten, Luccheni habe die Kaiserin durch einen bloßen Faustschlag niedergeschlagen. Erst als Luccheni festgenommen war, erfuhr man von ihm selbst, WaS er gethan hatte. Mehrere Gendarmen sagen auS, sie hätten Luccheni vor dem Hotel Beaurivage herum stehen sehen. Dies giebt der Mörder zu, ebenso, daß er mit einem weißbärtigen Manne, der einen Sonnen schirm getragen und von dem schon die Rede war, gesprochen habe, doch sei Letzterer nicht, wie man ge glaubt habe, ein Mitschuldiger von ihm und auch kein Italiener; eS müsse ein Einwohner Genf- sein, den er da gerade getroffen habe. Ein Zeuge sagt auS, er sei kurz nach l'/e Uhr die Rue des AlpeS hinunter gegangen, um fick auf das Dampfschiff zu begeben. Da habe er schreien hören: „Haltet ihn fest!" und habe einen Mann mit großer Geschwindigkeit in mächtigen Sprüngen daherlaufen sehen. Er, Zeuge, habe sich auf ihn gestürzt, ihn am Arme und am Oberkörper gepackt und ihn überwältigt, ohne daß der Mann ihm besonderen Widerstand ent gegengesetzt oder gegen ihn gescblagen hätte. — Mehrere österreichische Beamte sind hier eingetroffen, um Er mittelungen anzustellen und Erkundigungen einzuziehen. Der Chef der Genfer Sicherheitspolizei begleitet sie überall hin. Sie wohnten einem Theile des Verhörs bei, namentlich, um Genaues über da- Vorleben des Mörder- und die Oertlichkeiten zu erfahren, wo er sich früher aufgehalten bat. Die Aerzte Gosset und Meyvand haben heute dem Untersuchungsrichter daS Protokoll über di« gerichtsärztlichen Feststellungen übergeben. * (Senf, 13. September. Die Vertreter des BundeSraths, Bundespräsivent Nufsy, sowie die BundeSrätbe Drucher, Hauser, Brenner und der Vicekanzler Schatzmann, sind heute Nachmittag hier einzetroffen. Dieselben wurden auf dem Bahnhöfe von dem BundeSrätbe Lach en al, dem schweizerischen Gesandten in Wien de Clapseröde und zwei Mitgliedern der Genfer Regierung empfangen. Dem Vernehmen nach wird sich der Bundcsrath, welcher nunmehr bis auf zwei Mitglieder vollzählig hier anwesend ist, im Laufe des Abends nach dem Hotel Beauriva ge begeben, um die Vertreter des Kaiser« von Oesterreich zu begrüßen. * (Äenf, 13. September. Die feierliche Schließung des Sarges der Kaiserin Elisabeth fand heute in dem Frauengemach statt. Der Feier wohnten daS gesammte Ge folge der Kaiserin, der Bundcsrath Lachenal, der General- procuralor Navazza und die Aerzle Neverdin, Große unv Megevand bei. Es wurde ein Protokoll über die Schließung de- Sarges verlesen und dasselbe sodann von den Vertretern der Behörden und den Aerzten unterzeichnet. DaS Frauengemach war seit gestern für Jedermann ver schlossen, eine Ausnahme wurde nur für das Personal des Hotels Beaurivage gemacht, welches einen prachtvollen Kranz niederlegte. * Genf, 13. September. Um 7 Uhr Abends begaben sich die Mitglieder des Bundesraths zu Wagen in das Hotel Beaurivage, wo der österreichische Gesandte Graf Kuefstein, der LegationSsccretair Varon Giskra und das gesammte Gefolge der Kaiserin dieselben erwarteten. Der Präsident deS BundeSraths Rufsy drückte dem Grafen Kuef stein, als dem vsficiellen Vertreter des Kaisers Franz Josef, in bewegte» Worten da- Beileid deS BundeSraths bei Fvriilletsn. Henny Hurrah! ILj Roman von Ernst Clausen. NiAtnick vkrsott«. Sie versuchte zu lächeln und Axel lachte laut auf, aber daS Lachen kam Beiden nicht von Herzen. Sie fühlten, daß sie über eine Aeußerlichkeit nicht hinweg kommen konnten, eine Aeußer- lichkeit, welche jedoch schon mit der Muttermilch ein Bestandthei! ihrer Seele, ein Theil ihres Wesens geworden war, die viel und nichts bedeutete; — ja, sie fühlten dunkel, daß sie ihrer Lebens lage nach gar kein Recht hatten, noch den Sitten derjenigen Kreise, aus denen sie stammten, irgend welchen Werth beizulegen. — Axel dachte, daß wenn seine Schwester wie die anderen Mädchen wäre, die in der Regel solche Stellungen bekleiden, sie wahrscheinlich unbedenklich Ja gesagt haben, oder wenn daS nicht, doch ruhig in der Stellung geblieben sein würde! Uexhus hatte ganz recht, als er einmal sagte: Nicht da» Hinuntersteigen in eine niedere Stellung ist das Schwere,, son dern daS Hinuntersteigen in seinen Gewohnheiten, seinen ästheti schen Gefühlen und in 'Grmüthswerthen, darin sitzt der Haken! — Sie that ihm wirklich leid. — Er kam zu ihr um den Tisch herum. „Aber, Hedwig, laß doch deshalb den Kopf nicht hängen; eS wird sich schon etwas Anderes finden." — „Ja, Axel! Und bis dahin falle ich Dir lur Last! Nein, nein, sage nichts dagegen! Meinst Du, ich fühlt« «S nicht; Du bist ja gar nicht mehr derselbe Mensch, der Du warst, ich s«h« e» doch, wenn ich auch nichts darüber sage." „Ich werde mich schon daran gewöhn«»", sagte er leis«, ohne selbst an seine Worte zu glauben. „Ach, das ist es nicht allein! Ich muß es einmal herunter haben vom Herzen, Axel! In solch eine Stellung g«h« ich nie wieder, nie und nimmer! Du weißt gar nicht, wa» e« heißt für unsereins, den ganzen Tag zwischen solchen Mädchen zu leben; man hat ja gar k«ine Ahnung davon gehabt! Alle, ohne Ausnahme, führen sie «inen LrbenSwandel, daß ei mich schaudert, wenn sie mich nur mit den Kleidern streifen. — Verworfne find sie, in der Sünde verhärtet! Unglückselige Geschöpfe! — — Ach, Du weißt gar nicht" — sie machte eine Bewegung, als sollte sie ersticken — „den Hut, den sie auf dem Kopfe haben, bezahlt irgend ein Liebhaber, dir Glacehandschuhe ein Anderer! Und jeden Sonntag — nein, es ist gar nicht zu beschreiben! Aber ich muß es ja hören, wenn sie davon sprechen, und muß sehen, wie sie sich benehmen. Sie machen gar kein Hehl daraus — die Eine hat ein Brrhältntß mit dem jungen Seefried, die Andere mit dem Assessor Witte, Herren, mit denen ich früher zusammen kam." — Sie schwieg erschöpft und senkte weinend den blonden Hopf zwischen die auf dem Tisch ruhenden Arm«. Ein hysterisches Schluchzen schüttelte ihren ganzen Körper. — Zuerst schwieg auch Axel ganz betroffen. Ja, so war «S, er tonnte ihr gar nicht widersprechen und doch — — „Hedwig, Hedwig! Du siehst zu schwarz! Blicke nicht rechts, nicht links, Du mußt härter werden!" Er legte die Hand begütigend auf ihre Schulter und beugte sich zu ihr hinab. „Ach, das ist noch nicht Alles! Was muß man sich gefallen lassen in solch einem Laden! Da kommen Herren und starren mich durch die Glasscheiben an; ich erlebe es oft, daß Einer darauf wartet, bis Abends daS Geschäft geschlossen wird und mir auf dem Heimweg nachgeht, Herren sogar, die ich von An sehen kenn«, Männer aus unseren Kreisen. — Schlecht, gemein, sündig seid Ihr Alle, ihr Männer! Man kann ja keinem mehr trauen in der Welt! Pfui, sage ich!" So hatte er seine Schwester, die allezeit sanfte, geduldige Hedwig, nie vorher gesehen. — Er stand da mit gebundenen Händen und gebundener Zunge, er fühlte, daß da etwas mit Ge walt hervorbrach, wa- bis jetzt unter Qualen geheim gehalten worden war. „Hedwip, Du bist erregt! Fass« Dich doch! Ich sehe es schon seit längerer Zeit, daß Du leidest, geistig und körperlich!" „Ja, ich wollte nur nicht davon sprechen; ich kann «S nicht auShalten. Oft hab« ich ein Gefühl in den Füßen und allen Gliedern, al- wär« ich lebloS! Dies stundenlange Sitzen auf demselben Fleck und der eisige Zug im Winter, und immer Geld nehmen und wieder herauSgeben; man thut eigentlich nichts Ordentliches, nur di« Ehrlichkeit und daS Stillsitzen läßt man sich bezahlen. Manchmal habe ich ein Gefühl im Kopfe, al» stürbe auch da Alles ab — Alles — Alle»" ES war ganz dunkel im Zimmer geworden, und die Stille wurde nur von ihrem konvulsivischen Schluchzen unterbrochen. Er stand am Fenster und blickte hinaus, mechanisch mit d«n Augen den Mann verfolgend, der auf der Straße eine Laterne nach der anderen anzündete. ES war ja wahr, was sie sagte! Die ganze Wucht de» ni«derdrück«nden Gefühl», daß Alle», was er und Hedwig mit so viel Muth und Jugendkraft unter nommen hatten, «in Fehlgriff, etwas Unmögliches gewesen, lastete auf ihm. „Hedwig! geh' zur Ruhe!" sagte er nach einer Weile — ,,e» wird Dir gut thun!" Er richtete sie mit sanfter Gewalt vom Stuhl auf. — „Liebe Hedwig!" Sie stand willenlos, mit herabhängenden Armen vor ihm, genau so, wie Henny Hurrah damals vor ihm gestanden hatte. Er schlang den Arm um sie und küßte sie auf die gesenkte Stirn. „Thu' mir den Gefallen, Hedwig, und geh' zu Bett. Wir müssen einen Arzt kommen lassen." Willenlos, mit müden Schritten ging sie nach der Thür; und er warf sich in einen Lehnstuhl und grübelte stundenlang vor sich hin. Aber es war doch zu viel Jugend In ihm, um die volle Mutlosigkeit aufkommen zu lassen. — Nein, das sollten die Leute, diese Tressings und Trüxens und alle die Anderen doch nicht erleben. Sie wollten sich schon wehren. — Hedwig sollte «in halbes Jahr ruhig zu Hause leben; erst müßte sie gesund werden! Seine Mittel reichten ja dazu vollständig. — Während der Sommerferien wollte er mit der Schwester aufs Land gehen, das würde ihnen Beiden gut thun. — Es war wirklich zum Verzweifeln. Weshalb konnte Herr Kugler nicht ein anderer Mensch sein, den Hedwig gern gehabt hätte! Weshalb konnte sie ihn nicht heirathen? Sie würde ja dann ein sorgenfreie» Leben vor sich haben. Er schämte sich fast diese» Gedankens, aber er kam immer wieder, wie alle eaoistischen Gefühle. — Wenn Hedwig nun auch keine so riesengroße, überschwengliche Liebe empfand! War da» denn unbedingt nöthig? Aber dann stieg Ella Geefried'S Bild vor ihm auf und auch in verschwommenen Umrissen dasjenige von Henny! Eigentlich waren sie doch noch elender daran! — Nein, nein, es war besser so. Die Hauptsache ist, daß man innerlich ein anständiger Mensch bleibt. Der Arzt, der am nächsten Tage kam, säbelte natürlich über Blutarmuth, schlechte Blutcirculation, verordnete „Hämatogen" und war sehr mit einem Landaufenthalt einverstanden. E» wurde Axel schwer, aber er ging, nachdem Seefrieds zu- rückgekehrt waren, zum Lommerzienrath und feilscht« mit diesem um ein höhere» Honorar für sein Tapetrnmuster und machte da- bei die Erfahrung, daß e» ein großer Unterschied ist, ob man mit Jemandem gesellschaftlich oder geschäftlich derkehrt. — Sein Vater hatte ihm das früher oft gesagt: „Mein lieber Axel! Der Schweinehund im Menschen kann ganz unkenntlich und umntdeckbar sein, bi» zu dem Moment, wo Du in einer Geldangelegenheit mit ihm zu thun hast. Dann kommt er sicherlich heraus, und er zieht nur den Schwanz ein, wenn Du kanonengrob wirst." Ja, und Axel war schließlich grob geworden, indem er sagte: „Ich will mich nicht länger mit Ihnen um die paar Mark streiten. — Es ist besser, ich suche mir einen anderen Abnehmer!" Da lenkte Seefried ein, und ohne daß cs ausgesprochen wurde, erkannte Axel jetzt erst, daß die Fabrik augenscheinlich mit seinen Mustern Pute Geschäfte machte. Ella Seefried schien befriedigt von der Reise. — „So etwas hätte sic sonst nie zu sehen bekommen", meinte sie, als Axel ihr seinen Besuch macht«. Sie war übrigens voll Theilnahme für Hedwig's unangenehme Erfahrungen. „Herr Sternfeld, wir sind eben zum Kampf mit dem Dasein schon in der Wiege verdorben! Wir können vielleicht leiden, manche können auch entbehren und schwere Aufgaben erfüllen, aber wir können nicht kämpfen um den Platz, wo wir sitzen müssen. Wer zwanzig Jahre im sicheren Hafen weilt, kann nicht plötzlich im Sturm segeln, wenigstens nicht, ohne seekrank zu werden. — Ich mache Ihnen einen Vorschlag, mein Mann mutz im nächsten halben Jahr mehrere Reisen machen und wird wenig zu Hause sein. Wie wäre eS denn, wenn Ihre Schwester als Gesellschaftsdame zu mir käme?" Axel fühlte, daß sie nur einem momentanen gutmllthigen Impulse folgte; er wurde sich noch klarer darüber durch die Geschwindigkeit, mit der sie, al» er zurückhaltend antwortete, wieder von dem Plane Abstand nahm. Immerhin hatte er die selbe Empfindung wie damals, als sie sein Bild kaufte. Er sah sie sinnend an, während sie schweigend dasaß, den Kopf in die Hand gestützt, und den Fox-T«rrier streichelte, der eS sich auf ihrem Schootz bequem gemacht hatte. Sie war wirklich schön geworden! — Ihre Blicke begegneten sich; ihre Augen hatten einen eigenthümlichen Ausdruck, der ihm das Blut heiß durch die Adern rollen machte. Sie reichte ihm wortlos die Hand. — Als er die volle, warme Hand mit den Fingern umschloß, fühlte er zum ersten Mal, daß hier in ihrer Gegenwart, in diesem Zimmer, in diesem Händedruck tausend Abenteuer lauerten, die vielleicht seinem Leben einen gewissen Reiz geben konnten. Vielleicht ja! — Er hatte kein« Angst vor der Sünde und war noch in dem Alter, wo «S einem unritterlich erscheint, gebotene Avancen zurückzuweisen oder zu ignoriren. Aber «r dachte an Horst HemStott und an den alten Seefried und dann auch an Hedwig. Diese Frau würde vielleicht einer leichten Tändelei nicht abgeneigt sein, er war nicht der Einzige, der hier häufig ein- und auSging, und da «r seinem Lemp,rammt