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Extra-Beilagen (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung e 60.—, mit Postbeförderung e 70.—. Anzeiger. AittLsvlätt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, -es Ratljes und Nolizei-Amtes der Ltadt Leipzig. / Freitag den 26. August 1898. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz tn Leipzig. S2. Jahrgang. Die gesetzlichen Leftimmungen über die Wahrung des Briefgeheimnisses und ihre amtliche Auslegung. i. Geschichtliches. — a— Der Grundsatz, daß die Post da» Briefgeheimniß in der strengsten Weise wahren muffe, beherrscht schon seit Jahrhunderten die öffentliche Meinung, und die Gesetzgebung hat dem Rechnung getragen. Bereits im Jahre 1690 wurde die Gewährleistung des Briefgeheimnisses auf allen deutschen Posten zum Reichsverfassungsartikel erhoben und später machten auch die meisten einzelnen Staaten dasselbe zum Gegenstände gesetz licher Regelung. Die preußische Postordnung vom 26. No vember 1782 enthielt Vorschriften über das Briefgeheimniß, und diese Vorschriften fanden demnächst Aufnahme im All gemeinen Landrecht. Hier heißt es im Abschnitt „Vom Post regal", „daß die Postbedienten die ankommende und abgehende Correspondcnz verschwiegen halten und, mit wem Jemand Briefe wechsele, keinem Anderen offenbaren dürfen", und es wurden die Postbedienten wegen Brieferbrechung oder Unter schlagung mit Amtsverlust und öffentlicher Strafe bedroht. Ausnahmen vom Briefgeheimniß wurden nur gemacht, wenn ein gerichtliches Ersuchen vorlag. Nach dem Vorgänge des § 142 der von der Nationalversammlung in Frankfurt beschlossenen Reichsverfassung bestimmte die preußische Ver fassungsurkunde in Artikel 33: „Das Briefgeheimniß ist un verletzlich" und behielt die Feststellung der bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in Kriegsfällen nothwendigen Beschrän kungen der Gesetzgebung vor. Seitdem änderte sich die Praxis der preußischen Postverwaltung nur insofern, als nicht blos den Gerichten, sondern auch den staatsanwaltschaftlichen Behörden das Recht zugestanden wurde, die Beschlagnahme von Briefen zu verfügen und die Auskunft über die Correspondcnz zu verlangen. Anderen Behörden, insbesondere der Polizei, wurde dieses Recht nicht gewährt. Es ist erklärlich, daß aucb bei Bcrathung des Gesetzes über das Postwesen des Norddeutschen Bundes vom 2. November 1867 eine allgemeine Regelung der Briefgeheimnißfrage als nothwendig erachtet wurde. Der Entwurf zu dem gedachten Gesetze selbst hatte von der Einfügung einer bezüglichen Be stimmung Abstand genommen. In den Motiven wurde hierfür vornehmlich geltend gemacht, daß die Bestimmungen über das Briefgeheimniß streng genommen gar nicht postalischer Natur seien, sondern in die Verfassungen und die Proceßgesetze ge hörten. Allein schon bei der Berathung des Gesetzentwurfes in der Commission wurde die Nothwendigkeit der Schaffung einer allgemeinen Bestimmung über die Wahrung des Brief geheimnisses betont und ein bezüglicher Antrag gestellt. Dieser Antrag fiel zwar, wurde aber bei den Berathungen im Plenum rrneuert und angenommen. Der § 58 des Gesetzentwurfes er hielt den Zusatz: „Das Briefgeheimniß ist unverletzlich. Die bei strafgerichtlichen Untersuchungen und in concurs- und civilprocessualischen Fällen nothwendigen Ausnahmen sind durch ein Bundesgesetz festzustellen. Bis zu dem Erlaß eines Bundesgesetzes werden jene Ausnahmen durch die Landesgrsetz« bestimmt.» Die Errichtung des deutschen Reiches machte den Erlaß eines neuen gemeinsamen Gesetzes über das Postwesen nothwendig, welches mit dem 1. Januar 1872 in Kraft trat (Gesetz vom 28. October 1871). In dieses Gesetz wurde die Bestimmung des Gesetzes vom 2. November 1867 über das Briefgeheimniß wörtlich ausgenommen (als 8 5), so daß für die nothwendigen Ausnahmen bis zum Erlaß eines desfallsigen Reichsgesetzes zunächst ferner die Landesgesetze in Geltung blieben. Ein besonderes Reichsgesetz über die Ausnahmen vom Brief- geheimniß ist nun zwar bislang nicht erschienen. Dagegen enthalten die Reichsjustizgesetze diese Ausnahmen, so daß sämmt- liche Ausnahmebestimmungen, welche sich in den einzelnen Landesgesetzen bezüglich der Wahrnehmung des Briefgeheimnisses finden, ungiltig geworden sind. Wir wollen uns im Folgenden auf die Erörterung der durch die Strafproceßordnung geschaffenen Ausnahme bestimmung beschränken. Begriff und Umfang des Briefgeheimnisses. Mit der Wahrung des Briefgeheimnisses soll ein wichtiges Interesse der Correspondenten geschützt werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß Derjenige, welcher der Post einen Brief, eine Postkarte u. s. w. zur Beförderung übergiebt, ver langen kann, daß der Inhalt dieser Correspondcnz nicht er forscht bezw. der Kenntniß Unberufener nicht zugänglich gemacht werde. Dasselbe Recht besteht auch für den Empfänger der Sendung. Es kann aber auch schon im Interesse des Absenders bezw. des Empfängers liegen, daß Dritte selbst von der That- sache der stattgehabten Aufgabe, Beförderung und Bestellung der Sendung keine Kenntniß erlangen. Hiernach ist das Brief geheimniß nicht darauf zu beschränken, daß dem Inhalte ver schlossener Sendungen nicht nachgeforscht werde, sondern viel mehr auf alle ThaUachen avSzudebnen, welche die Postbeamte- durch eine stattgehabte Correspondcnz amtlich in Erfahrung bringen. In diesem Sinne kann auch u. E. der 8 6 des Post gesetzes seiner Absicht und geschichtlichen Entwickelung nach nur ausgelegt werden, so daß also die Postverwaltung und ihre Organe ohne Zustimmung der Correspondenten keine die Kor respondenz betreffende Mittheilung an Andere, also auch nicht an eine Behörde, machen dürfen, so weit nicht reichsgesehliche Bestimmungen Ausnahmen zulassen. Dieser Grundsatz ist von den meisten Schriftstellern an erkannt und von der Postverwaltung selbst stets festgehalten worden. Nur vereinzelte Commentatoren haben die Ansicht ausgesprochen, daß das Briefgeheimniß nur denjenigen Inhalt der Postsendungen, von welchem die Postbeamten selbst keine Kenntniß nehmen dürfen, also nur den Inhalt ver schlösse r Sendungen umfasse, daß alle übrigen Mit- theilungen über Postsendungen dagegen unter das Amts- geheimniß fallen. Wenn diese Ansicht richtig wäre, so würde das Briefgeheimniß auf sehr schwachen Füßen stehen. Es würde dann die Postverwaltung zur Mittheilung von That- sachen, welche sich auf die offene Korrespondenz beziehen, an sich befugt sein, ja, dieselbe anderen Staatsbehörden, ins besondere der Polizei gegenüber, nicht ablehnen können. Uebrigens hat das Gesetz über das Telegraphenwesen des deutschen Reiches vom 6. April 1892 bezüglich des Umfanges des Briefgeheimnisses eine werthvolle Klärung insofern ge schaffen, als es im 8 8 bestimmt, daß das Telegraphengeheimniß sich auch darauf erstrecken soll, ob und zwischen welchen Personen telegraphische Mittheilungen stattgefunden haben. Mit Rücksicht auf diese gesetzliche Bestimmung kann die erwähnte Unter scheidung zwischen Briefgeheimniß und Amtsgeheimniß über haupt nicht mehr in Frage kommen.*) Ausnahmen vom Briefgeheimniß. Die Strafproceßordnung bestimmt im 8 99: „Zulässig ist die Beschlagnahme der an den Beschuldigten gerich teten Briefe und Sendungen auf der Post, sowie der an ihn gerich teten Telegramme auf den Telegraphenanstalten; desgleichen ist zu lässig an den bezeichneten Orten die Beschlagnahme solcher Briefe, Sendungen und Telegramme, in Betreff derer Thatsachen vorliegen, aus welchen zu schließen ist, daß sie von dem Beschuldigten herrühren odec für ihn bestimmt find und daß ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung habe.« im 8 100: „Zu der Beschlagnahme (8 99) ist nur der Richter, bei Gefahr im Verzüge und, wenn die Untersuchung nicht blos eine Übertretung betrifft, auch die Staatsanwaltschaft befugt. Die letztere muß je doch den ihr ausgelieferten Gegenstand sofort, und zwar Brief« und andere Postsendungen uneröffnet, dem Richter vorlegen. Die von der Staatsanwaltschaft verfügte Beschlagnahme tritt, auch wenn sie eine Auslieferung noch nicht zur Folge gehabt hat, außer Kraft, wenn sie nicht binnen drei Tagen von dem Richter bestätigt wird. Die Entscheidung Uber eine von der Staatsanwaltschaft verfügte Beschlagnahme, sowie über die Eröffnung eines ausgelieferten Briefes oder einer anderen Sendung erfolgt durch den zuständigen Richter." Das Gesetz gestattet hiernach als Eingriff in die post mäßige Behandlung einer Sendung die Beschlagnahme, durch welche die Disposition über die Sache dem Berechtigten entzogen und auf die Justizbehörde übertragen wird. Ihren *) Auch Löwe, welcher die offene Korrespondenz unter das Amts- geheimnitz verwies, hat diese seine Ansicht in der 8. Auslage des Commentars zur Strafproceßordnung fallen lassen. Ausdruck erlangt die Beschlagnahme durch ein Ersuchen an die Post- oder Telegraphenanstalt, welches dahin gehen tann, die betreffende Sendung an eine Untersuchungsbehörde aus - zuliefern, oder die Sendung bis auf Weiteres an zuhalten, oder die Sendung behufs der Besichtigung ihrer äußeren Beschaffenheit, der Handschrift der Adresse rc. dem Richter oder dem Staatsanwalt vorzuzeigen. Welche von den gedachten Formen nun auch das Ersuchen hat, für die Post erledigt es sich in der Weise, daß sie die Sendung der ersuchenden Behörde zur Verfügung stellt. Eine Rücknahme der beschlagnahmten Sendung behufs nach träglicher Zustellung an den Adressaten erfolgt seitens der Post nicht, wenn die Beschlagnahme bei der Postanstalt des Be stimmungsortes stattgefunden hat; es bleibt in diesem Falle der Staatsanwaltschaft überlassen, die Zustellung der Sendung an den Adressaten selbst zu bewirken. Nur solche Sendungen, welche am Orte der Aufgabe oder während ihrer Beförderung, ehe sie an den Bestimmungsort gelangen, können zur Absendung bezw. Weiterbeförderung unter der Bedingung wieder angenommen werden, daß die Behörde, von welcher die Beschlagnahme ausging, auf den Briefen u. s. w. die stattgehabte Beschlagnahme bescheinigt. Die Beschlagnahme kann sich nach der Bestimmung des angeführten 8 99 außer auf Telegramme auf „Briefe und Sendungen" beziehen. Der Ausdruck „Briefe und Sendungen" ist insofern nicht richtig gewählt, als er seinem Wortlaute nach Briefe nicht zu den (Poft-) Sendungen zählt, und demnach mit dem im 8 100 angewandten Ausdrucke „Briefe und andere Postsendungen" nicht ganz im Einklänge steht. Allein der 8 99 läßt keinen Zweifel darüber zu, daß der Beschlagnahme alle diejenigen Sendungen unterworfen sind, welche von der Po st zur Beförderung angenommen werden. Der 8 99 setzt eine Beschlagnahme auf der Post oder den Telegraphenan st alten voraus. In der juristischen Literatur ist man sich darüber einig, daß, so lange sich eine Postsendung oder ein Telegramm noch in den Händen des mit der Bestellung beauftragten Boten befindet, sie als im Gewahrsam der Post rc. selbstbefindlich angesehen werden muß. Ob im einzelnen Falle die gesetzlichen Voraussetzungen der Beschlagnahme vor liegen, hat nicht die Post oder die Telegraphenanstalt, sondern nur das Gericht oder die Staats anwaltschaft zu entscheiden. Ueber diesen Punct herrscht kein Streit. Dagegen ist die Frage nicht geschlossen, welchen Er fordernissen das vom Gericht oder von der Staatsanwaltschaft an die Post oder Telegraphenanstalt zur Herbeiführung einer Beschlagnahme zu richtende Ersuchungsschreiben überhaupt zu entsprechen hat. Dambach (Commentar zum Postgesetz) beansprucht, daß aus dem Ersuchungsschreiben hervorgehe, daß es sich um eine straf - gerichtliche Untersuchung handle. FsiriHetsir. Was ist Bildung? Nachdruck verdat'«. So in abstracto mögen nur Wenige diese Frage sich vorgelegt und sie zu beantworten versucht haben. Halten sich doch Alle, Männlein wie Weiblein, für gebildet, gleichgiltig, welchem Berufe und welcher gesellschaftlichen Stellung sie angehören, und deshalb scheint es ihnen höchst über flüssig, sich darüber Rechenschaft zu geben, was gebildet heißt. Sie sind es ja. O, sie k ö n n te n den Begriff leicht definiren, aber wozu? Er wandelt ja in persona mit ihnen durchs Leben. Wirklich? Mir steigt da etwas wie Schamröthe ins Gesicht, denn ich habe schon manche gute Stunde darüber nachge- daicht, was Bildung ist, aber erschöpfend war keine der zahl reichen Formeln, die ich aus der fast unerschöpflichen Fülle kennzeichnender Merkmale geschöpft. Am Ende gehöre ich eben darum selbst nicht zu den Gebildeten! Nun, das will ich offen von vornherein bekennen: für aller Bildung Meister und Exempel habe ich mich nie gehalten, nur möge der freundliche Leser mir hinzuzusehen gestatten: Keiner ist's, auch Du bist es nicht! Hast Du des geistvollen Esiaisten Hermann Riegel kleine, aber anregende und überzeugende Monographie über Bildung gelesen? (Hermann Riegel*): „Unter dem Strich". Bunte Bilder aus Natur und Leben. Bd. I. 2. Aufl. Berlin. C. A. Schtvetschke L Sohn. 1898.) Du kennst sie noch nicht! Nun, mir wurde sie eben auf Tisch ge legt und Du gestattest, daß ich Dich mit dem Gedankengang der unseren Gegenstand behandelnden Eingans plauderei des liebenswürdigen Menschenkenners und freund lichen Philosophen bekannt mache. Vielleicht pflichtest Du ihm bei und zürnst dann auch mir nicht mehr ob meines „un höflichen" Seepticismus. Riegel identificirt Bildung und Cultur, und er hat Recht da mit, da er unter Cultur nicht nur di« fortschreitende Ueber- windung und Dienstbarmachung der Natur durch die über ragende Herrscherzewalt des Menschengeistes, nicht nur ein seitige Ausbildung der Verstandeskraft, sondern auch die strenge unbestechliche Selbsterziehung des inwendigen Menschen, die Läuterung von Herz und Gemüth versteht. Bildung ist Vermehrung der Bedürfnisse. DaS ist ein« De finition, der man öfters begegnet, und unserem Autor hat sie einmal «in berühmter Geschichtsforscher als die Blume seiner Er- kenntniß gepriesen. Und in der That, di« Entwickelung und der Fortschritt menschlicher Bildung wird durch die stetige Zunahme der Bedürfnisse bezeichnet. Der Bewohner der Pfahlbauten war schon ein hochgebildete» Menschenkind im Vergleich zu seinen ersten Voreltern, die Nichts waren, als nackt« Zweibein!««. Und er war es, weil inzwischen ein« Menge Bedürfnisse de« Lebens gefunden und von ihm in die Gewohnheiten de» Leben» ausge nommen worden waren. Und doch erscheint er uns als *) Riegel ist d«r bekannte Kunsthistoriker, Director de» Herzog!. Museum» in Braunschweig und ordentl. Professor au der technischen Hochschule dasetdst. Auch ist er Stifter de» Allgemeinen Deutschen Sprachverein«, d«ff«n Vorsitzender «r von 188L—18SS »ar. D. R«d. ein halbwildes Wesen gegen spätere Menschen, gegen uns. Aber was haben wir bei Lichte besehen eigentlich in den schier ins Grenzenlose gesteigerten Ansprüchen, dem Comfort und Luxus der Gegenwart? Sind wir dadurch klüger oder besser, glücklicher und zufriedener, wohl geschliffener und gebildeter geworden? Nicht um eines Sand kornes Gewicht! Und dabei haben wir noch das Glück verloren, in bescheidenen Verhältnissen uns wohl zu befinden, und in der inneren Unabhängigkeit von äußeren Werthen uns erhaben zu fühlen über Dinge, die nur einen sehr accidenziellen, relativen Werth haben, die die Motten und der Rost fressen und die um des Willen gefährlich sind, weil, wenn sie uns unentbehrlich ge worden, ihr Verlust uns unglücklich machen kann. „Bessere Wohnungen", sagt Riegel, „besseres Essen, besseres Trinken, feinere Cigarren, mehr Dienerschaft, reiche Kleider und köst licher Schmuck: das sind Dinge, an die wir uns in überraschend kurzer Zeit gewöhnen, die aber eine innere wesentliche Bedeutung nicht haben. Und doch ist es richtig, daß die höheren Classen der Gesellschaft, die sich mehr und mehr Bedürfnisse angewöhnt haben, auch für die Gebildeten gelten, daß das erstere Kennzeichen dieser besseren Bildung eben jene Bedürfnisse sind, die doch im Großen und Ganzen nur auf eine Verfeinerung der äußer lichen Lebensführung hinauslaufen." Aber Bildung (wer wollte darin dem Autor widersprechen!) ist doch wohl nicht blos etwas Aeußerliches! Gerade wie viele reiche Leute mit ihren unendlichen Bedürfnissen sind so arm und so hohl! Der Satz, daß die Vermehrung der Bedürfnisse der Maßstab der Bildung sei, ist mithin nur eine halbe Wahrheit. Man kommt also nothwendig von dem Aeußeren auf das Innere, auf den vernünftig sich selbstbestimmenden Geist als der letzten Quelle und eigentlichen Boden aller Cultur und Bildung, auf Kant's Autonomie des vernünftigen Willens. DaS müssen wir als Fundamentalsatz festhalten, wie es auch der Verfasser thut. Bildung mit anderen Worten ist die möglichst absolute Herrschaft des Geistes über das Materielle, die Meisterung, Gestaltung und Nutzbarmachung des Stofflichen zu höheren Zwecken. Der formlose, uns und so vielem Irdischen anhaftende Stoff ist Schmutz und die Cultur drängt dahin, uns vom Schmutz loszumachen. Die Losmachung des Schmu^s ist also ein Sieg des Geistes und so kann man getrost mit unserem im Scherz doch immer ernsten Philosophen sagen: „Bildung ist Befreiung vom Schmutz." Er meint da» zunächst ganz wörtlich und man muß es gelten lassen. Kein geringerer als Liebig war es, der den Ausspruch gethan: „Der Gebrauch der Seife ist der Maßstab für die Bildung eines Volke»." Wir sehen und empfinden es ja täglich, und für einen gebildeten Menschen ist Schmutz etwas durchaus Widerwärtiges, Unausstehliches. Er kann einem schmierigen Gelehrten nicht ohne Abscheu die Hand reichen, und aus un sauberen Geschirren nicht ohne Ekel genießen. Schmutz chi seinem Leibe quält ihn im Gemüth, und er vermag nicht ordentlich zu denken und zu arbeiten, ehe er ihn nicht loi geworden. Ein Schmutzfleck auf dem Kleide einer schönen Frau stört den ganzen Eindruck ihrer Schönheit. Unsere Hausfrauen werden es Wort für Wort unterschreiben, wenn wir sagen: In reicbem, glanzvoll eingerichtetem Hause sind Unsauberkeit und Unrath, Spinngewebe und Staub ein untrügliche» Zeichen de» Mangels an wahrer Bildung, während Reinlichkeit und Sauber keit selbst in der Armuth den Eindruck der Gesittung und Bildung Hervorrufen. Ein in Schmutz und Ordnungslosigkeit verlumptes Geschlecht ist uns ein Entsetzen erregendes Schreckbild, weil es den vollkommensten Gegensatz menschlicher Cultur darftellt, die blinde und denklose Unterwerfung unter den Stoff. Der Bezähmer und Bildner des Stoffes aber ist der Gei st. Höchste Geistesbildung muß also höchste und wahrste Bildung überhaupt sein. Zweifellos gehört dazu in erster Linie di« Sammlung von Kenntnissen und gelehrtem Wissen, zum aller mindesten ein nicht zu niedrig bemessen«! Grad von allgemeiner Schulbildung und Weiterbildung im späteren Leben, denn alles Wissen erweitert den Gesichtskreis und zeigt den Weg zur Höhe der lichtverklärten Gipfel, von denen aus der Feldherrnblick des Menschengeistes die Welt überschaut und die Pläne entwirft zum Kampf mit den gewaltigen Mächten, der an den Stoff ge bundenen Kräfte, die er siegreich in seinen Dienst zwingt. Nur hüte man sich vor Uebertreibung und Einseitigkeit! Einseitige Derstandesabrichtung, einseitige Vollpfropfung des Geistes mit allerlei Einzelkenntnissen, sie sind in alle Wege nicht wahre Bildung. Ja, die klügsten und höchstgelehrten Leute sind bisweilen sehr ungebildet. Wie so oft trifft es sich doch, daß sie blind und taub sind für Dichtung, Musik und Kunst, daß die heiligen Musen keine Stätte in ihrer Brüst gefunden haben, und ihre Seele nicht begeisterungsvoll zu erheben, nicht in den zartesten Seiten hold und edel zu rühren vermögen! Ohne alle ästhetische Bildung bleiben auch die Gelehrtesten immer nur ungebildete .oder wenigstens jämmerlich einseitig gebildete Leute. So kommt man zu dem Resultat: Ein allseitig gebildeter Geist kommt dem Ideal der Bildung am nächsten. Nicht, daß wir — und unser Autor dürfte uns darin beistimmrn — verlangten, es solle Jeder, der auf das Prädikat „gebildet" An spruch erhebt, auf allen Gebieten geistiger Bethätigung Hervor ragendes leisten und ein Meister sein in allen Disciplien. Das wäre zu viel gefordert, denn nicht Alle sind glänzend begabt, nicht Alle gleich glücklich veranlagt. Der landläufige und wohl auch richtig« Begriff „geistige Bildung" erfordert nach der Seite des Jntellects nicht weniger, aber auch nicht mehr, als daß, wer sich ihrern Trägern zuzählen will, das besitzt, was man allge meine Bildung nennt. Nicht alles Wissen und Können be herrschen muß der gebildete Mensch — wem wäre das heute Wohl möglich! — aber er muß, ohne in seinem „Fach" aufzugehen, Kenntniß haben von den großen Fortschritten d«S menschlichen Geistes, er muß Derständniß dafür besitzen, und vor Allem, er muß selbständig geistig gearbeitet haben und geschult sein, um über die hervorstechendsten Fragen, welche die Zeit in Wissen schaft und Kunst, im socialen Leben und in d«r Politik be wegen, urtheilen und an der Discussion darüber theil- nehmen zu können, ohne sich Blößen zu geben. Damit ist schon gesagt, daß wir unter allgemeiner Bildung nicht Halb bildung verstehen, die nur rin Zerrbild jener ist, weil sie von Allem etwas «rrafft, aber den Kern nicht erfaßt hat, weil sie über Alles und Jedes apodictisch zu urtheilen sich anmaßt, ohne auch nur ein annäherndes Verständniß davon zu haben, und vor Allem, weil ihr die geistige Schulung, da» Product wirklich geistiger Arbeit fehlt. Aber der Mensch ist nicht blos Geist, der menschliche Geist nicht nur Jntellect. Die wissenschaftlichsten und gelehrtesten Käuze können mit all ihren geistigen Schätzen die ärmlichsten Charaktere sein. Man begegnet im Eisenbahncoupö oder auf der Straßenbahn sehr häufig „gebildeten" Leuten, unter den Engländern nicht selten auch solchen höherer Stände, die trotz des empfindlichsten Raummangels sich in der belästigendsten Weise breit machen und dickfellig, wie ungeschlachte Bauernrüpel sich nicht vom Flecke rühren, geschweige denn aufstehen und einer Dame Platz machen. Ist das Bildung? Niemals, antwortet Riegel darauf, kann Bildung ohne Pflege höherer sittlicher Güte und wahrer Menschenliebe sein. Ja, wir setzen unsererseits hinzu, Gemüths- und Herzensbildung sind wohl geeignet, bei denen, die nicht das Glück hatten, große Kenntnisse zu sammeln und es nie über das Niveau etwa einer Mittelschule hinaus brachten, das Fehlende annähernd zu ersetzen und den Betreffenden die Kreise höher und höchst Gebildeter zu erschließen. Das gilt namentlich vom weib lichen Geschlechte, bei dessen großer Masse die verstandesmäßige Ausbildung sich naturgemäß in engeren Grenzen bewegt, bei dem aber die Zartheit des Gefühls, die Sanftheit des Charakters, die Liebenswürdigkeit des Benehmens, die feine Sitte und der angeborene Sinn für Anstand und Schicklichkeit auch den, der geistig auf der höchsten Höhe steht, den Mangel an geistiger Ebenbürtigkeit übersehen läßt. Jedenfalls ist nach unserer Ueberzeugung die Zeit noch um Aeonen fern, wo man Damen von Bildung nur in den Kreisen derer sucht, die mit dem starken Geschlecht an Kenntnissen wetteifern, oder als Frau und Fräulein Doctor unter den Schriftgelehrten und Weisen sitzen. Beim schönen Geschlecht wird vielmehr ein Be wandertsein in der Profanen- und Cultur-Geschichte, namentlich des eigenen Volkes und in allen schönen Künsten genügen, und vielleicht gehen wir nicht zu weit, wenn wir die Geschichte der Pädagogik und der Philosophie als Gebiete bezeichnen, die einer feingebildeten Frau nicht völlig unbekannt sein sollten. Wir wollten nur anregen und überlassen es dem Leser, weitere Merkmale wahrer Bildung zu suchen, wobei wir ihm besonders die These zu erwägen geben: „Wirkliche Gemllthsbildung fängt mit der Rücksicht an, die wir auf Andere nehmen." Erschöpfend konnten wir nicht sein. Mag man sich noch so sehr abmühen, den Begriff Bildung vollständig zu definiren, immer fehlt etwas, und darum, wenn wir uns auf die Frage hin prüfen: Hast Du Bildung, so wird dem Einen noch dieses, dem Anderen jenes fehlen, vor ausgesetzt, daß er redlich und ohne Selbsteingenommenheit prüft. „Wo finde ich, so schließt Riedel seine Plauderei, einen wahrhaft gebildeten Menschen? — gebildet an Kenntnissen und Charakter, ckn ästhetischem Sinn und an guter Sitte, an Verstand und Willen, an Herz und Vernunft, an Lebensgewohnheiten und Anstand, an Denken und Dichten, an Sinnen und Trachten, an Lieben und Leiden, an Wirken und Handeln, — in immer gleicher Harmonie allir Kräfte unter dem immergleichen Gesetze goldenen Maßes und edler Schönheit? Wo finde ich ihn? Und wenn ich ihn fände, besäße ich ihn schon nicht mehr, denn die mit Riesenschritten fortstürmende Cultur und Bildung würden ihn schon in dem Augenblicke de» Findens überholt haben. — Wa» ist Bildung?" ' v. S