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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.07.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-07-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189807038
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18980703
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18980703
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-07
- Tag 1898-07-03
-
Monat
1898-07
-
Jahr
1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 03.07.1898
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Größere Schriften laut unserem Preis- drrzeichnib. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Hxtra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Au-gabe: Vormittag« 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet« an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. - Sonntag den 3. Juli 1898. L 82. Jahrgang. Aus der Woche. Die säumigen Wähler genießen wieder einmal die Ehre, den Gegenstand der Erörterung zu bilden, und die Wahlpflicht wird wieder einmal hoch gepriesen. Einen anscheinend neuen Vorschlag bringt dazu der in Schwaben erscheinende „Schwab. Merkur". Er will, wie wir mit- getheilt, jeden Wahlberechtigten, der der Urne ferngeblieben, „eine Sportel, nicht eine Strafe" von 1 Mark bezahlen lassen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dem Stuttgarter Blatte schwebte ein Analogon zu den „NeujahrSgratulations - Entbinvungskarten" vor, und daS wäre wirklich etwas Neues. Es hieße dann: „Wer zahlt, wählt nicht." Aber so ist es nicht gemeint. Von der „Sportel" sollen durch Krankheit oder sonst Verhinderte befreit bleiben; wer rechtmäßig und wer nicht rechtmäßig weggcblicben ist, müßte der Entscheidung einer Behörde Vor behalten werden. Da nun der Staat dem Nichtwählenden für sein Nichtmählcn nichts leistet, so hätten wir eben doch eine „Strafe" und dazu eine ungeheuere Ueberlastung der Behörden, die von einer Kostspieligkeit wäre, die die Rechnung des „Schw. Merk.", wonach elwaige Tagegelder für die Reichstagsabgeordneten aus dem Ertrag einer „Sportel" von nur einer Mark auf gebracht werden könnten, zu Schanden machen müßte. Was hier vorgeschlagen wird, ist nichts Neues, sondern reinlich und zweifelsohne die schon so oft empfohlene „Wahlpflicht bei Vermeidung re." Von einem Nutzen des Wahlzwanges haben uns aber auch die letzten Wahlen nicht zu überzeugen vermocht. Wer versäumt denn die Wahl? Die Arbeiter, das sagt der „Schwab. Merk." selbst und hat dabei Socialdemokralen und socialdemokratische Mitläufer im Auge, fast ausnahmslos nicht. Ten Leuten, die auS Trägheit, Gleichgiltigkeit oder auS über mäßiger Gescheitheit — weil ihnen nämlich keiner der Eandidaten „entspricht" — wegbleibcn, imponirt eine kleine Strafe gemeiniglich nicht und eine große, etwa nach dem Einkommensteuerbetrag abgestufte, ist schon wegen der Ver schiedenheit der Steuersysteme in den Einzelstaaten nicht durchführbar. Wir bezweifeln nicht, daß bei der Wahl pflicht ein Theil „nun gerade" nicht kommen, ein anderer aus Aerger über den Zwang socialdemokratisch wählen und ein dritter aus Bosheit und Plaisir die Zahl der ungiltigen Stimmen ins Ungemessene ver mehren würde. Wenn auf diese Bedenken erwidert werden sollte, daß mit ihnen dem Elemente der Nichtwählenden ein schlechtes Zeugniß ausgestellt werde, so könnte mau dagegen allerdings nicht protestiren. Erziehliche Einwirkung und mora lischer Zwang können allein helfen, und wenn, wie nicht zu leugnen, die Anwendung dieser Mittel durch die Parteizersplitte- rung im Bürgerthum erschwert würde, so sollte eben in dieser Schwierigkeit ein weiterer Ansporn liegen, das Parteiwesen zu vereinfachen. Die Nolhwendigkeit dieser Vereinfachung ist unabweisbar auch für Denjenigen, der gleich uns die auS der „Zahlenwuth" herauSgeborene und auf Zahlenwuth berechnete Aufstellung von 3S7 socialdemokratischen ReichStagScandidaten und deren Erfolg nicht allzu hoch anschlägt. Auch andere Parteien hätten ohne Zweifel ein sehr beträchtliches StimmenpluS er zielt, wenn sie in jedem Wahlkreise um Stimmen geworben hätten. Der Lärm, den der „Vorwärts" mit dem Anwachsen der socialdemokratischen Stimmen um rund 340 000 und auf etwa 2l/« Million gegen 1 786 000 im Jahre 1893 macht, ist Reclame; die kleinen Minderheiten für sehr viele Zählcandi- daten der Socialdemokratie weisen durchweg auch nur auf „Mitläufer" hin. Daß die Reclame aber nicht unwirksam ist, da die Millionenziffer auf die Menge faScinirend wirkt, haben wir schon anerkannt. Eine Sprache reden unter den Zuwachszahlen aber doch nur die aus Ostpreußen und Ober schlesien, aus Hannover und der Pfalz; denn sie zeigen einer seits das extreme Agrarierthum, andererseits das Groß pol e n t h u m als Vorfrucht der Socialdemokratie, und die ober schlesischen beweisen überdies wieder einmal, was von der ultramontanen Behauptung zu halten ist, in katholischen Gegenden mache die Umsturzpartei keine Fortschritte. Wirkt die socialdemokratische Wahlstatistik auf die Phantasie, so ist die Statistik der „Berufsangehörigkeit" der gewählten Social demokraten sehr geeignet,den Verstand derArbeiler zu beschäftigen. 34 von den 56 sind als „Handwerker" aufgeführt, in Wahrheit sind sie jetzt mit wenigen Ausnahmen entweder — socialremo- kratisch gesprochen — „capitalistische Ausbeuter" oder directe Kostgänger der Arbeiterbevölkerung. Es klingt wie Hohn, wenn die Zubeil, Tutzauer, DreeSbach als Tischler, der Großunternehmer Dietz als Schriftsetzer oder Molkenbuhr und Elm als Cigarrenarbeiter vor geführt werden. Sie und die meisten Anderen haben sich am Sprungbrett der Socialdemokratie und mit Hilfe ihres geschäft lichen Terrorismus oder der rücksichtslos eingetriebenen hohen Parteisteuern zur Position behäbiger und zum Theil reicher „Bourgeois" emporgeschwungen. Das Bürgerthum versteht sich auf die Wahlagitation noch immer schlecht. Ein Bild von der Villa Bebel, in 300 000 Exemplaren verbreitet, hätte ein ebenso taugliches wie loyales AufklärungSmittel abgegeben. Die zahlreichen Fälle von Aufruhr nach den Wahlen sind, wie sehr der „Vorwärts" gegen diese Auffassung toben mag, die Früchte der socialdemokratischen Propaganda. Ein Theil der Verhetzten bat es eben bereits an der Zeit er achtet, das „andere Schlachtfeld", von dem in den Ver sammlungen stets die Rede ist und auf das kürzlich die „Sächs. Arbeiterztg." ausdrücklich vertröstet hat, schon jetzt zu betreten. Es ist sehr bezeichnend, daß die „Genoffen" in fünf, sechs Städten, wo sie bei der Wahl nicht siegreich gewesen, Aufruhr gestiftet haben. Sie sind eben gelehrt worden, die Wahlen nur als vorläufigen Nothbehelf anzuseben, und halten die Wahlen nicht, was man sich von ihnen verspricht, daun wird das Palladium der Freiheit und des Proletariats, das allgemeine und gleiche Wahlrecht, bei Seite gestoßen und durch die Ge walt ersetzt. Den ernsten Wahlkrawallen, die wir erlebt, liegt eine viel tiefere Verachtung des bestehenden Wahlrechtes zu Grunde, als den publicistischcn Darlegungen, die auf Mängel der Einrichtung Hinweisen. Eine „Kathederblüthe", die den Vorzug hat, wirklich aus einem WienerGymnasiallehrertischesich enlfaltctzu haben, lautet: „Wenn ich einen anonymen Brief bekomme, so mache ich ihn gar nicht auf." Man wird an sie durch die Meldung er innert, die Centrumsführer von Ludwigshafen, Mann heim rc. hätten das Telegramm, in dem sie Herr Lieber zur Unterstützung der bürgerlichen Stichwahlcandidaten ermahnt, uneröffnet gelassen. Sie haben eS ihm Wohl angemerkt, woher es stammte und was es enthielt. So weit ging das Ahnungsvermögen deS verstorbenen Freiherrn von Franckenstein nicht. Er mußte den berühmten römischen SeptennatSbrief erst erbrechen, ehe er — keinen Gebrauch davon machte. Immerhin wird Herrn Lieber daS schweigende Verfahren der südwestdeutschen Parteigenossen angenehmer sein, als der schon erwähnte laute Protest, den seine „Einmischung" in Schlesien nach sich gezogen hat. Herr Porsch erklärt zwar, nicht der Autor des grob zurecht weisenden Artikels in der „Schles. VolkSztg." zu sein, und dieser rührt auch in der That von dem früheren Centrums gewaltigen Majunke her, aber daS Breslauer Blatt kennt erfahrungsgemäß die jeweilige Stimmung deS schlesischen Führers zu genau, als daß man glauben könnte, daß eS sich mit ihr in diesem Falle in Disharmonie gesetzt hätte. Für die Frommen und die Freisinnigen ist alles ein Vehikel. Die Freunde des Herrn Richter, des Urhebers und Massenverbreiters der s. Z. „berühmten", aber bei den Wahlen, auf die sie berechnet war, glücklich wieder vergessenen Rede vor: 18. Mai, haben sich nicht in Widerspruch mit dieser onhodox-constitutionellen Offenbarung ihres Führers zu setzen geglaubt, indem sie im schlesischen Wahlkreise Landes hut ein Flugblatt verbreiteten, das sich direct auf den Kaiser beruft. Es heißt darin: „Katholische Wähler, bleibt Eurer Kirche treu und bewahrt Euren Priestern die kirchliche Ehr furcht. Bei der Reichstagswahl aber denkt an das Wort Kaiser Wilhelm's ll.: „Politische Geistliche sind ein Unding."" Das Citat zeigt, wie sehr dem Richter'schen Freisinn mit dem Vorwurfe des Doktrinarismus unrecht gethan wird. Aus den Wahlergebnissen ist nicht ersichtlich geworden, daß der Wahlaufruf, den Frau Minna Cauer vor einigen Monaten veröffentlichte und der die vollkommene Gleich stellung der Frauen mit den Männern auch hinsichtlich der politisches Rechte zum Zwecke hatte, auf die Wähler Eindruck gemacht habe. Und der gegen das Medicinstndium der Frauen gerichtete Beschluß deS deutschen Aerztelagcs läßt sogar auf eine starke „Rückständigkeit" der deutschen Männer in dieser Frage schließen. Die Befürworter der Zu lassung zeigten sich unverkennbar ebensowenig von dem Berufe der Frauen zur Ausübung der ärztlichen Praxis über zeugt, wie die ausgesprochenen Gegner. Die Frage ist also jedenfalls noch nicht reif, was man vor der Begründung von Mädchen-Gymnasien wohl beachten sollte. Deutsches Reich. s. Leipzig, 2. Juli. Der neu ernannte NeichsgerichtSrath Herr von Bünau wird seinen Sitz im vierten Strafsenate deS Reichsgerichts einnehmen. Herr Neichsgerichlsralh vr. Spahn, der diesem Strafsenat angehörte, wird von jetzt seinen Sitz im fünften Civilsenat einnehmen und hier den in den Ruhestand getretenen Reichsgerichtsralh Herrn I)r. Rassow ersetzen. Berlin, 2. Juli. Zu den unsittlichen Mitteln, mit denen die socialdemokratische Agitation betrieben wird, gehört die mit absichtsvoller Consequenz beobachtete Ge pflogenheit, die Arbeiter unablässig und in allen Beziehungen in der Stimmung des „ClassenkampseS" zu erhalten, sorg fältig allen Empfindungen in den Weg zu treten, die das Gefühl der Zufriedenheit auskommen lassen können, und alle Veranstaltungen zu verhöhnen, welche der Ausgleichung socialer Gegensätze dienen. Es ist daher kein Wunder, wenn der „Vor wärts" heute seinen brennenden Groll darüber zu erkennen aiebt, daß Berlin gegenwärtig unter dem Zeichen der Fabrik- Landpartien steht. „Allwöchentlich mehrmals, fast könnte man sagen täglich", ruft er entrüstet auS, „werde den Berlinern das Schauspiel einer solchen Partie gegeben. Einfach scheuß lich!" Zur Abschwächung der Wirkung, die man aus social- vemokratischer Seite von diesen Partien befürchtet, thnt der „Vorwärts" einen kräftigen Griff in sein Arsenal hetzerischer und heuchlerischer Waffen. In allen Fällen, führt er aus, koste die Veranstaltung den Schweiß und das Geld der Arbeiter, sei es in Form der Strafgelder, die zur Landpartie verwendet werden, sei es in Form von Sammlungen dazu, sei eS in Gestalt eines Zuschusses deS Unternehmers (der Unternehmergewinn ist eben nach socialdemokratischer Theorie nichts als ein Raub am Arbeiter). Nachdem in dieser hetzerischen Weise die Landpartie als solche den Arbeitern „verekelt" ist, nimmt sich der „Vorwärts" mit widerwärtiger Heuchelei der unglücklichen Theilnehmer an den Landpartien Hochgebirge oder Mceresstrand? (Sin Fingerzeig für die Wahl Ser Tominc» frische. Von Ur. weck. Kurt Kreusner. Nachdruck verbc!en. Wir Deutschen sind ein reiselustiges Volk in des Wortes ureigenster Bedeutung. Während unsere angelsächsischen Stammcsvcticrn jenseits des Aermelcanals alle Welttheile nur zu dem ausgesprochenen Zweck überfluthen, um Reichthümer zu sammeln und sich so bald wie möglich in ihr nebeliges Albion zurückziehen, von wo aus die wohlhabend gewordenen Familien der Mode und dem Sport zu Liebe nur hier und da einmal eine Reste nach dem europäischen Festland unternehmen, führt der teutonische Wandertrieb alljährlich zur Sommerszeit Hundert tausende ins Alpenland, in die deutschen Mittelgebirge oder an unsere Seelüften, und zwar lediglich wegen des Vergnügens am Reisen an sich. Ungleich zahlreicher noch aber ist das Heer Derjenigen, welche alljährlich zum Beginne der Schul- und Gerjchtsferien aus dem nervenaufreibenden Gewllhle der Großstädte mit Frau und Kind entfliehen, um in friedlicher Ruhe die nöthiac geistige Spann kraft und körperliche Frische für neue Arbeit zu sammeln. Unsere Voreltern, deren Leben im Allgemeinen weit ruhiger verfloß als dasjenige der modernen Menschen, welches man nicht ohne Berechtigung oft genug mit einer Hetzjagd vergleichen könnte, hatten kein so starkes Bedürfniß nach sommerlicher Er holung, daher kommt es auch, daß die ältere Generation den jetzt ganz allgemein gewordenen Zug in die Sommerfrische oft nicht versteht und zuweilen als Modesache lächerlich zu machen sucht — doch mit Unrecht! Denn nach der Anstrengung eines langen Jahres sind wir alle mehr oder minder abgearbeitet und haben ein ernstes Bedürfniß nach dem stolcv kar nisnts der sommerlichen Erholungszeit. Die glücklichen oberen Zehntausend, bei denen die Geld frage keine Rolle spielt und welche nach Belieben einen ihnen nicht zusagenden Sommeraufenthalt mit einem anderen bester convcnirenden vertauschen können, werden freilich nicht lange zu überlegen brauchen, wohin sie gehen sollen. Anders aber liegt die Sache bei dem minder Begüterten, welcher nur mühsam die für den Sommeraufenthalt erforderlich« Summe erübrigt Hot und für den ein Fehlgriff in der Wahl des Ortes ein kaum wieder gut zu machender Schaden ist. Er muß darauf bedacht sein, in den wenigen Wochen Sommerurlaub und Ferienzeit durch richtige Wahl des Ortes den größtmöglichen gesundheit lichen Vortheil für sich und seine Familie herauszuschlagen. Wo also nicht äffische Nachahmungssucht und Hoffahrt dem wahren Gesundheitsbedürfniß entgegen über die Wahl der Sommerfrische entscheidet, wird man zunächst die persönlichen Verhältnisse, Beschäftigungsweise und Leidrnszustände des Einzelnen zu Rath« ziehen müssen, um nachhaltigen Nutzen zu erzielen. Es ist nun ein weitverbreitetes Dorurtheil, daß die stillste Sommerfrische gleichzeitig auch die beste sei; in vielen Fällen trifft dies aber durchaus nicht zu; denn es ist nicht nach Jeder manns Geschmack, wochenlang an einem weltfernen, jeder Zer streuung baaren Orte sich in die Einsamkeit zu vergraben, wo vielleicht nicht einmal die Naturschönheiten abwechselungsreich genug sind, um einen Ersatz für den Mangel jedweder Zer streuung zu bieten. Treten dann noch länger anhaltende un günstige Witerungsverhältniste ein, so kann der Aufenthalt in solchen Einsiedeleien geradezu unerträglich werden und die Groß stadt, der man kaum entronnen ist, als einen begehrenswerthen Ort erscheinen lasten. Derartige Eremitagen eignen sich nur für solche Leute, deren Nerven durch eine aufregende Lebens weise und Beschäftigung auf das Aeußerste überreizt sind und absoluter Ruhe bedürfen, also beispielsweise für Parlamentarier, welche die Nolle eines Vorkämpfers in der Redeschlacht der Volks vertretung spielen, für ehrgeizige Künstler, deren unstetes Leben ihre geistige Elasticität aufzureiben droht, oder für Speculanten, bei denen fortwährend ganze Vermögen auf dem Spiele stehen und quälende Sorge den Schlaf der Nächte verscheucht. Ein Beamter aber, ein Geschäftsmann oder sonst ein Anderer, besten arbeitsames Leben sich durch II lange Monate mit jener Mono tonie abgespielt hat, wie sie des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr nun einmal Tausenden vorschreibt, wird gut thun, sich für den einzigen Ruhemonat des ganzen Jahres einen Ort zum Auf enthalt auszuwählen, wo die maßvollen Freuden einer anregenden Geselligkeit eine angenehme Abwechselung in sein an allzu großer Eintönigkeit leidendes Leben bringen. Leider geht aber auch Mancher, der lieber die Stätten stiller Einsamkeit aufsuchen sollte, in die geräuschvollen Weltbäder und Sommerfrischen, in welchen er im Grunde genommen die ganze Gesellschaft seines Heimathsortes wiederfindet. Unter solchen Umständen wird er natürlich auch die leidigen städtischen Gewohnheiten beibehalten, statt den prächtigen Sommermorgen zu genießen, bis tief in den Tag hinein schlafen, statt zeitig zur Ruhe zu gehen, im gewohnten Bekanntenkreise noch in später Abendstunde rauchen und trinken, und vor Allem auf Schritt und Tritt an jene Sorgen und Verdrießlichkeiten erinnert werden, welche man nun schon einmal auf einige Zeit von sich abschütteln muß, wenn der Sommeraufenthalt den erwarteten Nutzen bringen soll. Das unruhige, nervöse Gesellschaftsleben, welches die Nacht zum Tage und den Tag zur Nacht macht, läßt sich eben in keiner Weise mit einer curgemäßen Zeit- eintheilung in der Sommerfrische vereinbaren, für welche als oberster Grundsatz das Sprichwort gilt: „Morgenstunde hat Gold im Munde". In Fällen, wo eine ernstliche Krankheit vorliegt, wird natürlich der Arzt bei Bestimmung des aufzusuchenden Bade oder Luftkurortes ein entscheidendes Wort mitzusprechen haben. Für allgemeine Leidenszustände hingegen, welche nicht den aus gesprochenen Charakter einer Krankheit tragen, sondern als Constitutionsschwächen aufgefaßt werden müssen, kann im All gemeinen Folgendes als Norm gelten. Seebäder, insbesondere diejenigen der kalten, windbewegten Nordsee, eignen sich namentlich für an sich kräftige und wider standsfähige Personen, welche an Trägheit des Stoffwechsels und der körperlichen Functionen leiden oder deren Nerven in ruhigem Wohlleben erschlafft sind. Die enorme Steigerung des Stoffumsatzes zeigt sich bei ihnen in dem Auftreten eines phänomenalen Appetites, eines prächtigen Nachtschlafes und einer außerordentlichen Zunahme der geistigen und körperlichen Reg samkeit. Dagegen ist es geradezu unverantwortlich, wenn schwächliche, bflitarme Individuen jene Küsten, an welchen fast ununterbrochen ein mit Meerwasser geschwängerter, mehr als frischer Wind weht, aufsuchen und sogar Bäder in dem ewig bewegten Meere nehmen, dessen heftiger Wellenschlag auf die Haut und das gesammte Nervensystem solcher Leidenden oft einen so heftigen Reiz ausüben, daß andauernde Schlaflosigkeit auftritt, welche nicht eher weicht, als bis der Ort mit einem anderen von milderen klimatischen Bedingungen vertauscht wird. Als solche empfehlen sich namentlich die sanfteren Ostseebäder und die in waldreicher Gegend liegenden Sommerfrischen des Mittelgebirges. Auch für mäßige Grade von Nervosität, sofern sie nicht eben auf Blutarmuth beruhen, ist der Meeresstrand empfehlenswerth und merkwürdigerweise, obwohl die Verhältnisse so durchaus entgegengesetzte sind, auch der Aufenthalt im Hochgebirge. Ebenso eignen sich beide in gleichem Grade für Personen von sitzender Lebensweise; was die Musculatur des Herzens und die Lungen durch einen Aufenthalt und Bewegung im Hochgebirge ge winnen, wird am Meeresstrande durch die überaus gesteigerte Nahrungsaufnahme und den Ozongehalt der Luft ersetzt, welche den ganzen Organismus in hohem Grade stärken. Personen, welche an schweren Graden von Neurasthenie leiden, sollen das Hochgebirge ebenso wenig aufsuchen wie die Seekllste, sondern in die klimatisch milden Curorte und Sommer frischen des Mittelgebirges und Hügellandes gehen und sich hier der möglichsten Ruhe befleißigen. Der Neurastheniker ist oft in viel höherem Grade bedauernswerth als ein organisch Kranker. Er bedarf vor Allem der Ruhe, welche er nur dann mit Zer streuung und abwechselungsrcicherer Lebensweise vertauschen darf, wenn er selbst das Bedürfniß dazu empfindet. In seiner Familicnumgebung, welche seine Klagen leider meist für maß lose Uebertreibunz hält, findet er diese Ruhe aber nicht; man nimmt nicht die genügende Rücksicht auf ihn, und obendrein zwingen ihn unverständige, schablonenhaft arbeitende Aerzte und Laien, welche die Formeln einfach nachbeten, zu reichlicher Be wegung und Anstrengungen, welche seinen Zustand nur ver schlimmern. Solche Neurastheniker werden ebenso wie blutarme oder nervenschwache Damen zweckmäßig mit einem mindestens einmonatlichen Aufenthalt in einer waldreichen, stillen Sommer frische beginnen und allenfalls, wenn sich das Befinden ge nügend gehoben hat, als abhärtende Nachcur einen zwei- bis dreiwöchigen Aufenthalt an der Ostsee nehmen können. Schwächliche oder zur Scrophulose neigende Kinder, welche in der Stadt dahinwelken und verkümmern, gleichen in mehr als einer Beziehung jenen wachsbleichen Blumen, denen man Licht und Luft entzieht. Für sie wird im Allgemeinen jede Sommerfrische Vortheilhaft sein, in welcher sie jene beiden Grundbedingungen aller Gesundheit in reichem Maße genießen können. Kurze Hosen, Röckchen und Aermel, welche Beine und Arme freilasten, sind die beste Tracht, in welcher unsere Kinder welt sich in den Mußestunden der schönen Jahreszeit in Licht und Sonne herumtummeln soll. Während man aber den Knaben diese Freiheit jetzt ziemlich allgemein vergönnt, giebt es noch so manche Mutter, welche es entweder für anstößig findet, ihr Töchterchen in diesem Costüm herumspielcn zu lasten oder den zarten Teint der zukünftigen Ballkönigin dadurch conservircn zu müssen glaubt, daß jedes Stückchen Haut unter Stoff und Handschuhen vor den Einwirkungen der Sonnenstrahlen geschützt wird. Daß man den Kopf des Kindes, welcher leicht unter Ueberhitzung leidet und mit fieberhaften Zuständen reagirt, durch schattenspendende Hüte vor direkter Besonnung schützt, ist zu selbstverständlich, um noch besonders hervorgehoben werden zu müssen. In den letzten Jahren ist eine einseitige Ueberschätzung der Heilwirkung des Hochgebirges eingerissen, welche sich auf die an sich richtige Beobachtung stützt, daß in hochgelegenen Orten von 1500 Metern Meereshöhe und darüber die Zahl der Blut körperchen im Blute Desjenigen sprunghaft zunimmt, welcher aus der Ebene dorthin kommt. Leider hält diese Steigerung der Zahl der Blutkörperchen, von welcher die Leistungsfähigkeit unseres Blutes abhängt, nicht in vollem Umfange an, sobald die Sommerfrischler ins Flachland zurückkehren, und nur eine theil- weise Blutverbestcrung bleibt ihnen als dauernder Gewinn des Aufenthaltes, der für Viele wegen der weiten Reise und der exorbitanten Preise des Aufenthaltes selbst fast unerschwinglich ist. Ihnen zum Tröste sei gesagt, daß auch in den Sommer frischen des deutschen Mittelgebirges, welche auch für Leute mit kleinerem Portemonnaie erreichbar sind, ja, selbst bei einem Landaufenthalt in der Tiefebene eine bedeutende Regeneration und Verbesserung der Blutbeschaffenheit eintritt, sobald nur Licht und Luft, Wald und frisches Master und eine kräftige Ernährung ihre Wirksamkeit entfalten können. Wir schließen unsere Betrachtungen mit der Beantwortung einer oft ventilirten Frage, ob man nämlich eine zu bestimmten Heilzwecken verordnete Brunnenkur auch an einem anderen Orte mit Erfolg brauchen kann, als gerade dort, wo die Quellen nymphe das gesundheitspendende Naß aus der Erde rinnen läßt. Diese Frage kann für eine Familie oft sehr wichtig werden, deren Oberhaupt vielleicht eine am Biertisch erworbene Leberanschwellung durch eine Carlsbader Cur zu bekämpfen hat, während die durch Kinderpflege oder lebhaftes Gesellschaft? leben nervös gewordene Frau des Hauses vor Allem Ruhe braucht, das bleiche Töchterlein zweckmäßig eine Stahlquellc trinken würde und der emsig studirende Sohn am besten am Wanderstabe über Berg und Thal marschiren würde, um dann seine Studien mit unaeschwächten Kräften fortsetzcn zu können. Die Frage ist unbedingt zu bejahen, wo Willenskraft genug vorhanden ist, um auch an einem anderen Ort die Lebensweise und Diät zu erzwingen, wie sie der Gebrauch der betreffenden Quelle erheischt. Wo dies zutrifft, kann eine Brunnenkur selbst am Orte des ständigen Aufenthaltes Erfolg haben. Leider treffen diese Voraussetzungen nur selten zu. Wo man ständig lebt, löst man sich fast nie von den Sorgen des Alltagslebens in dem Maße los wie in dem Badeort, welchen man zu dem ausgesprochenen Zweck aufsucht, gesund zu werden. Die für die Dauer der Cur verbotenen Lieblingsgerichte, welch« die Gattin so schmackhaft zu bereiten versteht, duften zu verführerisch, um nicht auch eine große Standhaftigkeit zu erschüttern, und die lieben Bekannten thun das klebrige dazu, um den zu Hause die Cur Gebrauchenden zu allen möglichen Seitensprüngen zu verlocken. Wo das Alles nicht zu befürchten ist, trinke man seinen Carlsbader, Kissinger, Emser, Giehhübler rc. getrost zu Hause oder schließe, wenn die Gesundheit eines Familiengliedes den Curaufenthalt wo anders nöthig erscheinen läßt, ein Kom promiß, welches Allen nützt und Keinem schadet. Auch schwächliche und zu allerhand Krankheiten neigende Personen können bei angemessener Lebensweise und wenn sie die reichlich vorhandenen Heilkräfte der uns umgebenden Natur richtig ausnlltzen, gesund und kräftig werden, und wir können dem Leser, der in der Sommerfrische Erholung sucht, nichts Besseres wünschen, als daß er aus dem unter Beobachtung aller Umstände gewählten Sommeraufenthalt mit einem reichlichen Vorrath an Kraft und Gesundheit wieder zurückkehren möge.
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