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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 09.06.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980609017
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898060901
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898060901
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-06
- Tag 1898-06-09
-
Monat
1898-06
-
Jahr
1898
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BezugS-PreiS iiv dtt Hauptexpedittö« oder de« ktk Attdd» bejlrk und den Vororten errichteten «»»» «vbestellen ab geholt: vierteljährlich ^i4.bO, bei zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau« ^4! b.öÖ. Durch di, Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Dlrectr tägliche Krruzbandlenvung int Ausland: monatlich 7b0. Die Morgen-Ausgab» erschein» uNt '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um b Uhr. Reilaclion und ErpMion: Sohannesgnffe 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen «»öffnet von srüh 8 bi» Abend« 7 Uhr. Filialen: ttt» Klemm'» Sortim. (Alfred Hatzn), Universitätsstraße 3 (Paultnum), Louis Lösche, Aätharinenstr. 14, part. uud lkönigsplatz K 28«. Morgen-Ausgabd. UpMr. Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Natljes »nd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Donnerstag den 9. Juni 1898. Angeigerr»Prris die «gespaltene Petttzeile 20 Pfg. Nkclamen unter dem Redacttonsstrtch (4ge- spulten) 50^g» vor den FamtlienNachkichten (6gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer und Zisfrrnjatz nach höherem Darif. (ßrtra-vetlagcn (gesalzt), «ut mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung «0.—, mit Postbeförderung Al 7V.—. Ännahweschluß für Anzeigen: Ab end-Ausgabe: vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4Uht. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stet» an die ErpedtNsn zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 92. Jahrgang. Sie Politischen Vereint und die Wahlbewegung. * Nicht selten hört man jetzt in Wahlversammlungen über die „Tyrannei" der politischen Parteien oder Verein« klagen und diese Klagen mit der Behauptung begründen, daß die Parteien gar nicht berufen seien, den Wählerschaften der einzelnen Wahlkreise Candidaten vorzuschlagen oder gar auf zudrängen. Früher hat man von solchen Klagen nichts gehört; daß sie jetzt laut werden, ist leiver kein Beweis für daS Fortschreiten der politischen Bildung der deutschen Nation- Eine« Auftrag, die Vorbereitungen zu den Reichstags- und Landtagswahlen in die Hand zu nehmen, hat allerdings den politischen Parteien und Vereinen Niemand ertheilt, aber wer in aller Welt könnte berufener sein, mit dem Ansprüche aufBeachtung in die politischen Wahlen einzugreifen, als die politischen Parteien und Vereine? Die letzteren sind eS ja fast aus schließlich, die ernsthaft und andauernd mit allen den Fragen sich beschäftigen, die in den parlamentarischen Körperschaften berathen oder von außerparlamentarischen Kreisen angeregt werden; sie sind cS fast ausschließlich, die Gelegenheit haben, die Männer kennen zu lernen, die durch besondere Kenntnisse und Gaben, Fleiß und Charakter zur Uebernahme eines Mandates sich eignen. Eine gewisse Einseitigkeit ist ja keiner politischen Partei und keinem politischen Vereine abzusprechen, aber können denn WahlcomitSs, die kurz vor Wahlen sich bilden, mit Recht behaupten, minder einseitig zu sein? Sie bilden sich in den meisten Fällen auS BerufS- genossen oder auS geselligen Kreisen, deren Mitglieder sich auch bei gelegentlichen politischen Gesprächen gut mit einander ver tragen, weil sie, ohne eS recht zu wissen, politische Gesinnungs genoffen sind. In allen diesen Fällen sind die erst zum Zweck des Eingreifens in die Wablbcwegung gebildeten Comitös mindestens ebenso einseitig wie die politischen Vereine. In diesen gelangt man zur Einigkeit und erhält diese nicht ohne lebhafte Kämpfe. Jede große rein politische, wirtschaftliche, sociale oder kirchcnpolitische Frage führt zu Debatten, bei denen verschiedene Auffassungen zu Tage treten. Am meisten ist dies naturgemäß bei wirtschaftlichen Fragen der Fall, bei denen die Auffassungen der Mitglieder ganz wesentlich von ihrer Berufsstellung abhängig sind; da klären sich dann die Ansichten über das, waö besscrungSbedürftig ist, wie über die Wege, auf denen eine wirkliche und im Interesse der Gesammt- bevölkernng liegende Besserung erzielt werden kann, ganz anders und besser als in den Kreise« von lauter Berufsgenossen oder geselligen Freunden, denen über dies gar häufig die umfassende Kenntniß der Gesetze, der parlamentarischen Einrichtungen, wie der Compe- tenzen der Volksvertretung und der Regierungen fehlen, Kenntnisse, ohne die der parlamentarische Neuling trotz aller Rednergabe zum Nachtheile seiner Wähler gar häufig eine recht klägliche Nolle spielt. Und sind die politischen Vereine mindestens nicht einseitiger als die lediglich zu Wahlzwecken ge gründeten ComitSS, so bietet eine Vereinigung verschiedener politischer Vereine auf einen Candidaten zumeist dir beste Ge währ gegen engherzige Parteibefangenheit eines solchen Can- divaten. Kein politischer Verein verzichtet gern auf die Auf stellung eines eigenen Candidaten; das liegt in der Natur eines jeden. Geschieht eS trotzdem, so ist daS in den meisten Fällen nicht nur der beste Beweis dafür, daß die sich einigenden Parteien in der Stimmenzersplitte rung eine Gefahr für den Wahlkreis und für Vas ganze Reich erblicken und deshalb auf die Erfüllung ihrer Sonder wünsche verzichten, sondern auch dafür, daß der betreffende Candidat kein engherziger Parteifanatiker, sondern ein Mann ist, von dem man eine unbefangene Prüfung der an ihn herantrctenden politischen Fragen und eine Entscheidung er warten kann, welche die rechte Mitte zwischen extremen Sonderwünschen einhält. Allerdings sind bei solchen Wahlbündnissen zwischen poli tischen Parteien und Vereinen Mißbräuche nicht ausgeschlossen. Immer öfter hört man in neuerer Zeil, daß „unnatür liche" Wahlbündnisse zwischen Parteien und Vereinen zu Stande kommen, die so gut wie gar nichts gemeinsam haben und von denen eine jede nur deshalb in einem Wahlkreise den Candidaten der anderen unterstützt, um sich dadurch für einen eigenen Candidaten in einem anderen Wahlkreise die Unterstützung der anderen Partei zu sichern. Aber gegen diesen Mißbrauch giebt es ein sehr wirksames Gegenmittel, und dieses ist genau dasselbe, daS überhaupt gegen Miß brauch des Einflusses politischer Parteien und Vereine sicher stellt: die B et Heiligung allerWähler am politischen Verein Sieben. Wie viel überflüssige oder doch nur dem flüchtigen Ver gnügen gewidmete Vereine bestehen bereits und erstehen täg lich ! Wie viel Zeil und Geld wird solchen Vereinen jährlich geopfert! Ein wie geringer Bruchtheil aller Vereinsmitglieder entfällt aber auf die politischen Vereine, ein wie geringer Bruchtheil der jährlich für Vereinszwecke geopferten Stunden und Millionen kommt den politischen Vereinen zu «Gute! Und doch sind diese Vereine nützlicher und nöthiger als die meisten anderen. Sich um Politik ernstlich kümmern und sich an politischen Vereinen rege betheiligen, heißt, sich lebhaft um daö Wohl des Vaterlandes nnd um daS eigene kümmern. Das wissen die Socialdemokraten ganz genau. Wie viel Zeit und Geld opfern sie ihren politischen Vereinen und Organisationen! Und wenn sie noch so beweglich über „Verelendung der Massen" klagen, so viel erübrigt der Aermste unter ihnen doch, um sich die Mitgliedschaft in einer Vereinigung zu sichern und für sie einen Beitrag zu leisten. Ihre Wahlsiege sind nicht zum geringsten Theile ihrer regen Vereinsthätigkeit, ihrer gar manchen bürgerlichen Wähler verblüffenden und ver blendenden Kenntniß der Gesetze und parlamentarischen Ein richtungen, ihrer in den Vereinen erworbenen rednerischen Schlagfertigkeit zuzuschreiben. Ihre Candidaten, sofern sie nicht blos als Zählcandidaten dienen sollen, sind fast ohne Aus nahme Leute, die in Parteiconventikeln den Beweis erbracht haben» daß sie sich nicht zu scheuen brauchen, an den Debatten im Reichstage sich zu betheiligen. Warum folgt daS Bürgerthum diesem Beispiele so wenig? Die kurz vor den Wahlen auftretenden Candidatenmacher antworten auf diese Frage gewöhnlich, die bestehenden poli tischen Vereine seien zu einseitig, zu engherzig und „sractions- verbissen" u.dergl. Daß sie selbst wesentlich vielseitiger wären, darf, wieschvn oben dargethan, zumeist bezweifelt werden. Aber gerade wenn sie vielseitiger und weniger engherzig sind, als alle die politischen Vereine, zwischen denen sie die Wahl haben, warum kommen sie mit ihrem weiteren Gesichtskreise nicht dem Vereine zu Hilfe, dem sie am nächsten stehen? Warum lassen sie nicht in ihm ihrem Thaten- und Reformdrange die Zügel schießen? Ebenso wenig wie man eine Kirche von außen her reformiren kann, vermag man von außen her einen politischen Verein, eine politische Partei in andere, breitere Bahnen zu lenken. Und wenn wirklich einem besonders bahnbrechenden Geiste keine der bestehenden Parteien und Parteivereinigungen als Basis seiner Bestrebungen dienen könnte, so sollte er wenigstens nicht erst am Ende einer Legislaturperiode den Versuch machen, eine neue Gruppe um sich zu schaaren und sie in den Mittelpunkt der Wahlbewegung zu rücken. Lange vorher sollte dies geschehen; lange vorher sollte Anhang ge sammelt, eine Organisation geschaffen, ein sorgfältig auf seine Durchführbarkeit geprüftes Programm aufgestellt, veröffentlicht und gegen Einwendungen vertheidigt werden. Dann wüßte der Wahlkreis genau, wen und was er vor sich bat; die übrigen Vereinigungen könnten wenigstens mit annähernder Sicherheit abschätzen, welchen Anspruch auf Berücksichtigung die Neubildung durch ihre Stärke, welchen Anspruch auf Bündnißfähigkeit sie durck ihre Ziele erheben darf. Es giebt ja einige Wahlkreise, in denen politische Vereine gar nicht bestehen und vor den Wahlen WahlcomitsS und Candidaten aus dem Boden gestampft werden müssen. Dort aber herrscht in diesen Zeiten babylonische Verwirrung; die Entscheidung bringt der Zufall oder das Schlagwort, der schlimmste Tyrann einer politisch ungeschulten Wähler schaft. Von ihm sich zu befreien, giebt eS kein anderes Mittel, als die Sammlung der Wählerschaft in politischen Vereinen, die, je mehr sie wachsen und je vollständiger sie die Wähler in sich zusammenfassen, deren Wohl thäter werden. Ver schwindet die Zahl der Glcichgiltigen und Parteilosen mehr und mehr, um so einfacher, ruhiger wird die Wahlbewegung, um so sicherer das Wahlresultai. Die Verhandlungen fallen ausschließlich in die Hände der Vcreinsdelegirten, zu denen nur die bewährtesten Männer auserwählt werden. Ihre Tbätigkeit gleicht dann der der Reichstagscommissionen, von deren Beschlüssen man meist auf die des Plenums schließen kann. In ihnen tritt weit mehr als im letzteren das Parteiinteresse hinter die sachliche Erwägung zurück. Dasselbe kann man zumeist beobachten, wenn vor Neuwahlen die Delegirtcn der politischen Vereine die Candidatenfrage erörtern. Und ist in den Vereinen die ganze oder doch die überwiegende Mehrzahl der Wähler vertreten, so kommt bei der Ausstellung der Candidaten der Wille der Wählerschaft reiner und klarer zum AuSdrucke, als bei jeder anderen Art der Candidatenaufstellung. Einigen sich gar die bürgerlichen Vereine auf einen einzigen Candidaten, so darf die ganze bürgerliche Wählerschaft sich zur eu-dlvo-Annahm: entschließen, denn sie kann «»nehmen, daß rie Männer ihres Vertrauens nach reiflichster Erwägung einen Vorschlag gemacht haben, dessen sie sich nicht zu schättieil brauchen. Lettisches Reich» -F- Leipzig, 8. Juni. Herr Reichsgericktsrath Dr. Rasso w tritt mit dem 1. Juli dieses Jahres in den Ruhestand. Der aus dem Dienst AnSscheidendc wurde am 2l. Februar 1826 zu Wolgast geboren. Nach absolvirtem Studium im Jahre 1847 kein: Kannncrgericht in Berlin vereidet, wurde er 1846 Assessor und Hilfsrichter in Alt-Landsberg, später in Stralsund, 1851 Kreisrichter in Bergen auf Rügen, 1867 Kreisrichter in Greifswald und später dort Appellationsratl», am 1. Dccember 1875 Obertribunalsratb in Berlin und vom 1. October 1879 ab Neichsgerichlsrath. In dieser Eigenschaft war I)r. Rassow öfter Stellvertreter des Vorsitzenden im V. Civilsenat. Unter allseitiger Tbeilnahme der Mitglieder des Reichsgerichts feierte Dr. Rassow am 23. October 1897 sein 50jäh riges D ien stjubiläum; aus Anlaß der Schluß steinlegung des NeichSgerichtsgebäudes wurde er zum Ehren- doctor der Universität Leipzig ernannt. Leipzig, 8. Juni. Die Aufstellung von 396 socialdemo kratischen NeichStagScandidaturen, die zum größten TheileZäblcandidaturen sind, ist der „Sächsischen Arbeiter zeitung" zu Kopfe gestiegen. Mit einem Protzenthum, bas an gewisse Scherze der „Fliegenden Blätter" erinnert, schreibt daS genannte Blatt: „Wir können es uns leisten, denn unser politisches Capital ist unerschöpflich, die bürgerlichen Parteien sind trotz der schein baren Macht, mit der sie prunken, durch und durch bankerott. Ein mächtiger Anlauf des Proletariats und die ganze bürgerliche Herrlichkeit purzelt über den Haufen." Wirft man einen Blick auf daS „unerschöpfliche politische Capital" der socialdemokratiscken Partei, so bemerkt man, daß der große August Bebel nickt weniger als 20 mal, ter Politiker Storch in Stettin — wer kennt den Storch nicht? — 13 mal, der Staatsmann Morawski 7 mal, der Staats mann Stolpe in Grünberg 5 mal candidiren. Mil diesen Beispielen mag es genug sein; sie reichen hin, um auch das blödeste Auge erkennen zu lassen, daß daS socialdemokratische „unerschöpfliche politische Capital" sehr schlecht fundirt ist. Ein classischeS Beispiel dafür, wie dieses Capital in kleine Münze umgesetzt nnd zur geistigen und sittlichen Ernährung des Volkes verausgabt wird, bringt der von Herrn Liebknecht geleitete „Vorwärts". Ihm muß die neueste Ermordung einer Prostituirtcn als Vorwand dienen, um eine seiner üblichen Anklagen gegen die Gesellschaft vorzubringen. Die Voraussetzung, von welcher der Leiter deS socialdemokratischen Centralorgans dabei auögeht, besteht itt der durchaus falschen Annahme, daß lediglich wirthschaflUche Noth die Ursache der gewerbsmäßig betriebenen Unzuckt sei. Wie unhaltbar diese für Agitationszwecke allerdings sehr geeignete Voraussetzung ist, beweist der „Vorwärts" selbst, indem er über die am Sonntag ermordete Frau Singer wörtlich schreibt: „Je mehr .... über die Ermordete bekannt wird, in desto un günstigerem Lichte erscheint ihr Vorleben. Sie hat ihrtn Mann gleich von der Eheschließung an betrogen und ist ihrer Liederlichkeit wegen von der Mutter, die sich ehrlich mit Cigarrenmachen ernährt, verstoßen worden." Der „Vorwärts" weiß also, daß eS schlechterdings nicht angeht, ohne jeden Vorbehalt wirthschastliche Noth für das «re Heimath verflicht. stigem Wetter sech»undvierzig Stunden; der erste Tag brachte Ja, ei» hat Mühe genug gemacht, hierher, nach Deutsch, «un» Regen, Kälte und Sturm, und der „olle Aeppelkahn", der da aus dem dunklen Schiffsbauche zum Vorschein: ein ganzer Palmenwald, jeder Baum sorgsam mit Bast umwunden, Schaukelstühle, Tische, Commoden, WirthschaftSsachen, Laternen, Bretter aller Art, Bücherständer, Kisten mit Konserven, Eis blocke und tausend andere Sachen mehr. Auch unsere beiden vierbeinigen Schiffsgäste, zwei chinesische Weiße Ponies, zappeln alsbald in der Luft und wurden mittels deS Krahnes in eines der Boote gelassen. Uns litt es nicht länger auf dem Schiffe, wir ließen alles Gepäck zurück, da wir ja erst unsere Einquartierung abwarten mußten, und fuhren an Land. Es war kaum 7 Uhr, aber überall schon herrschte regste militairische Thätigkeit: dort auf der linken Berghohe sah man einen Zug Artillerie sich lang bewegen, von der Ebene hinter dem Dorfe her erschollen aller hand Signale, und von da knatterte Kleingewehrfeuer herüber, mehrere Patrouillen zogen am Strand entlang und rechts sah man, wie schwere Feftungsgeschütze von je einem stärkeren Trupp Soldaten auf ein felsiges Plateau gezogen wurden. Dicht am Strande liegen die ersten Häuser des Dorfes Tsingtau, welches wir durchkreuzen. Wetter, was ist hier alles schon geschehen! Bor Allem fällt einem die Sauberkeit auf und der gute Zustand der Wege und Straßen, Laternen sind bereits errichtet und mit Baumpflanzungen ist der erste Anfang gemacht, überall wird gekarrt, geebnet, ausgebefsert, gemauert, gezimmert, ganze Schaaren Kuli» sind unter der Aufsicht von Soldaten thätig, Ofsiciere leiten den Bau von Häusern, die zu Verwaltungszwecken dienen sollen, — und wie freudig schlug einem das Herz, als man hier, im fernen Osten, unsere forschen Ofsiciere und braven Soloaten erblickte, man fühlte sich sofort heimisch und batte jedem Einzelnen die Hand drücken mögen. „Morjen, Lindenberg, Mensch, wo kommen Sie denn her?" — eine bekannte Stimme isi's, und auch den kräftigen Achsel schlag, der den Ausruf begleitete, kenne ich von früher her, Hauptmann v. B. ist'», mit dem ich I« Berlin und Potsdam manch' vergnügte Stunde verlebte. „Nun aber 'mal rafch in meine Bude, ich wohne hier ganz nah und habe noch ein paar Happen Zeit, ehe ich in den Dienst muß — Fritz, gieb schnell 'ne Flasche Erdener her, die Herren fallen mir sonst um vor Durscht!" — „Aber Herr Hauptmann, so früh . . . ?" — „Na, verstellen Sie sich man nich, hier machen Sie setzt ein Stück Feldzugsleben mit, und man muß früh die Maschine ölen. Um die Erde. Reisebriefe von Paul Lindenberg. Nachdruck verboten. Tsingtau-Fort, 4. April. „Wie liegen Sie?" — „Na, ich danke, es geht, ich komme nur immer dem Tischbein näher!" — „Verflixt, ich glaube, die Schiffskiste rutscht mir auf den Kopf!" — „Herr Stabsarzt, schlafen Sie noch nicht? Ich vermuthe, daß mir eben zwei Rippen zerknackt sind." — „Nun aber, «leine Herren", erhebt sich die Helle Stimme des Capitainlieutenants, „wollen wir 'mal versuchen, zu schlafen. Gute Nacht!" — „Gute Nacht!" Die Maschine ruckelt und rackelt, der Wind pfeift draußen, das Schiff schwankt ganz gewaltig, so daß ein fortwährende» Klirren durch die im .Schwebebrett über dem Eßtisch aufge hängten Gläset geht. Da — bauh! — ein dumpfer Fall, unser kleiner Teltgrapheninspector ist von den zwei Körben, auf denen wir ihn, der den ganzen Tag über schon „seetoll" gewesen, gebettet, heruntergefallen. „Lassen Sie mich nur blo» hier unten liegen", bittet er au» seinem Wulst von Decken herau», „ich fall' ja doch gleich wieder 'runter!" — „Natürlich, bleiben Sie liegen, wo Sie liegen", ruft der Stabsarzt, „aber daß Sie sich meinen Bauch als Kopfkissen autzgesucht, macht Ihrem Findertalent alle Ehre." — „Verzeihen Sie, verzeihen Sie — so, nun wird'» wohl besser sein." Einige Minuten Ruhe, dann erhebt sich vöm Sopha eine lange Gestalt und wankt ächzend zur Thür, e» ist unser ehr würdiger Missionar, der mit Neptun keine Freundschaft zu schließen verstand und arg leiden muß. Wir Anderen, die wir auf der« Erdboden um oen Eßtisch herum malerisch gruppirt liege«, hüllen uns fester in unsere Decken uttd danken dem Himmel, daß sich nicht noch zu allem Anderen die Seekrankheit bei un» gesellt, noch einige leise Verwünschungen über das harte Lager, von Nachbar zu Nachbar ein letztes verhaltenes „Gute Nacht!" und es wird still in der kleinen Cabine, in der nun der Traumgott seine Herrschaft antritt und in den Kreis seiner flüchtigen Phantasiegebilde auch lockende Erinnerungen an die theure Heimath der' glaubten, er müßte im nächsten Augenblick umkippen. Das Thermometer der Behaglichkeit sank unter Minus, und der heimlichen Verwünschungen über das Reisen auf dem Meer im Allgemeinen und diese Fahrt auf der „Swatow" im Besonderen mochte eine Legion sein. Aber der nächste Tag belohnte uns dafür desto reichlicher mit blauem Himmel und strahlendem Sonnenschein; im Umsehen war wieder mit neuem Appetit, der am Tage vorher sehr viel zu wünschen übrig gelassen, auch neue Reiselust vorhanden, und in anregendem Geplauder schwand die Zeit rasch dahin. Um die fünfte Stunde des dritten Morgens erscholl die Stimme des Capitains: „Meine Herren, wer die Einfahrt in die Kiautschau'Bucht sehen will, muß schnell 'raus!" — Eiligst flogen Tücher ünd Decken beiseite, in den Kleidern befanden wir uns ja schon, und nach wenigen Minuten standen wir auf Deck. Ein röthlicher Schein zeigte das nahe Aufgehen der Sonne an, deren glühender Ball alsbald hinter den Bergen auftauchte, von prächtiger dunkelblauer Färbung war das Meer, mit vio lettem Schein waren die Gebirgszüge übergossen, von denen einzelne Theile mit schroffer Zackung zum Himmel aufragen — in weitem Halbkreise öffnete sich vor uns die Kiautschau-Bucht, geschützt gegen die Tücken des Meeres und Dank einer schmalen, bergigen Landzunge zwei Häfen aufweisend, deren einen, den südlich liegenden, unsere Kriegsschiffe sich zum Ankerplatz ge wählt. In dem nördlichen Hafen — wenn man überhaupt diesen Ausdruck gebrauchen darf — gingen wir vor Anker, gegen über dem Dorfe Tsingtau (die Stadt Kiautschau, die dem ganzen Bereich den Namen gegeben, liegt zwei Tagemärsche von Tsingtau entfernt, in der deutschen Interessensphäre), über dessen Schieferdächern leichte Rauchwolken schwebten. Der flache Strand ermöglicht kleineren Fahrzeugen ein bequemes Landen, die Chinesen hatten aber, jedenfalls mit fremder Hilfe, bereits eine aus Stein und Eifert erbaute Landungsbrücke begonnen und ein gutes Stück in das Meer geführt, sie haben Uns dadurch viele Kosten und Mühen erspart. Auch mancherlei andere Ar beiten weisen darauf bin, daß Kiautschau zu einem chinesischen KriegShafen bestimmt war. Kaum war der Anker bei unserer „Swatow" gefallen, so ging es emsig ans Ausladen, denn einige Sampangs, eine mit der schwarz-weiß-rothen Fahne, hatten sich bereit» breitseit „ ... gelegt, um die Maaren ans Land zu schaffen. Was kam Alle» l also Prost und herzlich willkommen in Kiautschau! China, zu gelangen, und mancherlei Fährnisse waren zu Uber- j sehr wenig Ladung hatte, schwankte oft dermaßen, daß wir stehen, ehe wir den Fuß auf den Boden dieses fernen Stückes Deutschland setzen konnten. Meine letzten Berichte waren aus Peking datirt; von dem greulichen Schmutznest fuhren wir nach Tientsin und hatten noch auf dem vom Sturm aufgewühlten Pei-Ho eine schlimme Bootsfahrt, ehe wir mit Sack und Pack an Bord eine» chinesischen Dampfers kamen, der uns nach Shanghai brachte, wobei das Gelbe Meer seine ärgsten Mucken zeigte. Dann, nach zweitägiger Rast, die uns die Theilnahme an der schönen Bismarck-Feier int Deutschen Club ermöglichte, ging'» auf den von der deutschen Regierung gepachteten Dampfer „Swatow", der seine letzte Fahrt auf dieser Linie machte, da demnächst eine regelmäßige vierzehntägige Verbindung zwischen Shanghai-Kiautschau-Chefoo-Tiensin eingerichtet wird. Um nach Kiautschau zu gelangen, muß man die Genehmigung des commandirenden Admiral» zum Landen und diejenige des Commandanten der Streitkräfte zum Aufenthalt in dem neuen Gebiet haben; daraufhin erst erhält man vom Generalkonsulat in Shanghai die Erlaubnih zur Benutzung des genannten Dampfers, auf welchem man Gast der Regierung ist. ' Besagte» Schiff — „oller Aeppelkahn" wird e» von Vielen, die seine verschiedenen Vorzüge praktisch erprobten, genannt — hat nur eine Cabine, die van der jungen Gattin de» deutschen Dol metscher» in Kiautschau und ihrem drei Monate alten Söhnchen beseht war, die erste deutsche Dame übrigen», die sich hier häuslich niederläßt. Wir anderen sech» Herren, Ofsiciere, Aerzte, Be amte, Missionare rc., konnten sehen, wo wir uns zur Rübe aus- streckken, aber mit Hilfe von Decken und Benutzung von Sopha» wie de» Erdboden» in der Hauptcajüte ging e» ganz aut, und erledigte sich die Tchlaffrage, die un» erst allerhand Kopf zerbrechen gemacht, zu allseitigem Wohlgefallen. Zwei weitere Fahrgäste waren in der zweiten Tajllte untergebracht, der eine ein junger Kaufmann, wollte seine drei Jahre bei der Marine- Jnfantetie abdienen, der andere» ein Holzschneider, dachte sein Glück it, Kiautschau zu finde«; er hatte eine» schSNen Tage« die Heimath verlassen, war mit der „Bayern" al» Zwischen decker hetau»qekommen, hatte sein letzte» Geld in Shanghai ver braucht und dampfte nun mit seinem Sckchupftuchbilndel gute« Muthes dem Lande seiner Träume und Rosinen zu. Die Fahrt von Shanghai nach Kiautschau dauert bei gün-
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