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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.05.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-05-19
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-189805196
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18980519
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18980519
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-05
- Tag 1898-05-19
-
Monat
1898-05
-
Jahr
1898
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 19.05.1898
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11VN. .1b0.b06. nvn. «6-XS9.SL r.p.I./7.98 >»VN. r»rv87: l-.- ki.e »ttvD. N. ok klsrk »IX ick llitik <t.k203S6. Bez«gSPreiS ?n der Hauptexpedition oder den im Stadt« bezirk und den Vororten errichteten ?lus« aabestellen ab geholt: vierteljährlich ^l4.öO, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins HauS 5.50. Durch die Post bezogen für Teutfchland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandiendung ins Ausland: monatlich 7.50. Die Morgen-Au-gabe erscheint um '/,? Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Nedaction und Expedition: AohanncSaassc 8. Die Expedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis Abends 7 Uhr, Filialen: Ltto Klemm'» Tortim. (Alfred Hab«), Universitätsstraße 3 (Paulinum), LouiS Lösche, katharmeustr. 14, Part, und Königsplatz 7. 25«. MMr.TaMatt Anzeiger. AmtMatt -es Königlichen Land- und Ätnlsgerichtes Leipzig, -es Rnltjes und Nolizei-Ämles -er Ltadt Leipzig. Donnerstag den 19. Mai 1898. Anzeigen.PreiS - die 6 gespaltene Petitzeile 2V Pfg. Reklamen unter dem RedactionSstrich (4g»« spalten) 50/H, vor den Familiennachnchte» (6 gespalten) 40 «L- Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz - nach höherem Tarif. - —— Extra'Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderuag?' ü0.—, mit Postbeförderuug 70.—. AnnahMschluß fir Anzeigen: Abeud-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr, Morgen- Ausgabe: Nachmittag- 4 Uhr. Bet den Filialen und Annahmestellen je ein, halbe Stunde früher. Anzeige« sind stets au die Expedition zu richten. Druck uod Verlag vou L. Polz in Leipzig. 92. Jahrgang.. Der Fehler der Aerzle vor Gericht. vr. 8. In dem jüngst zu Braunschweig verhandelten Proceß der Assistenzärzte deS dortigen herzoglichen Kranken banses gegen die Brüder Museumsdirector vr. Paul und Schriftsteller Heinrich Seidel wegen Beleidigung ist ein llrtheil von seltener Weisheit gefällt worden, nämlich ein solches, mit welchem beide Theile Wohl zufrieden sein können. Die Beleidigung, wegen welcher die beiden Herren angeklagt waren, wurde in deren Behauptung gefunden, die Assistenz ärzte hätten in böswilliger oder rachsüchtiger Weise ihren Bruder, welcher Chefarzt des Krankenhauses war, der Ver nachlässigung seiner Pflichten und zahlreicher Kunstfehler wahr- heitswidrig beim berzogl. Staatsministerium beschuldigt und ibn dadurch in den freiwilligen Tod getrieben. Da die Staats anwaltschaft die Verfolgung der Beleidigungsklage Namens der Assistenzärzte in die Hand nahm, weil ihres Erachtens ein öffentliches Interesse vorlag, so fand die Verhandlung nicht wie bei Privatklagen vor dem Schöffengericht, sondern vor der Strafkammer des Landgerichts statt. In der Ver handlung wurden zahlreiche Leiter von anderen Kranken häusern, besonders Universitätskliniken, als Sachverständige verhört, und es stellte sich die sonderbare Thatsache heraus, daß das, was die Assistenzärzte, die erst seit wenigen Jahren von der Universität entlassen sind und dort gelernt hatten, welche Vorsichtsmaßregeln und Methoden bei Operationen anzewendet werden sollen, von den Herren Sachverständigen in den wichtigsten Puncten bedeutet wurden, daß sie ganz falsche Ansichten hätten. Es ist für einen Laien schwer, die Frage zu entscheiden, welcher Seite ein Vorwurf zu machen ist, ob nämlich einer seits die Assistenzärzte die ihnen auf der Universität vor getragenen Lehren falsch verstanden haben, oder ob die Herren sachverständigen in menschlicher Schwäche und in der Be fürchtung, daß auch ihnen möglicherweise einmal eine Außerachtlassung der erforderlichen Verhaltungs- und Vorsichts maßregeln versehentlich passiren könnte, zu einem besonders milden Urtheil unwillkürlich bestimmt worden sind. Charak teristisch hierfür ist die auf die Frage 12 des Gerichts: Ist dem Professor Seidel vom ärztlichen Standpunkt auS ein Vorwurf zu machen, daß er wiederholt auf die Operations liste gesetzte Kranke weder sich vorstellcn ließ, noch operirte? erthcilte Antwort: Ein Vorwurf ist nur dann zu machen, wenn daraus ein Nachtheil für den Patienten entstanden ist. Ein fast unglaublicher, sicher nicht allgemein getheilter Standpunkt. Das Gericht hat die Frage, ob der Verstorbene sich schwerer Verfehlungen gegen die anerkannten Regeln der Hcilkunst habe zu Schulden kommen lassen, nicht entschieden; die Auffassung der Assistenzärzte, daß dieö bejaht werden müsse, ist ebenso wenig bestätigt, wie der Wunsch der Ange klagten Gebrüder Seidel erfüllt ist, dies verneint zu sehen. Mit Recht hat der Herr Vorsitzende gemeint, eS würden im Publicum Wohl nach wie vor die Meinungen getheilt sei», ob der Verstorbene seine Pflicht gethan habe oder nicht. Die Gebrüder Seidel erhielten eine Genugthuung aber dadurch, daß sie freigesprochea wurden, also die schweren Be leidigungen gegen die Assistenzärzte ungestraft aussprechen durften. DaS Gericht erklärte, eS sei der Beweis nicht erbracht, daß sie eine andere Absicht gehabt hätten, als die Ehre ihres Bruders zu retten, insbesondere sei nicht erwiesen, daß ihnen die Absicht der Beleidigung innegewohnt habe; ob der von ihnen eingeschlagene Weg der richtige gewesen, möge ihrer eigenen Beurtheilung überlassen sein. DaS Ge richt hat sogar den Angeklagten für die Energie, mit der sie für die Ehre ihres Bruders eingetreten sind, mit Recht seine Anerkennung ausgesprochen. Es ist der bekannte Begriff der „Wahrnehmung berechtigter Interessen", der hier in selten weit gehender Weise in Anwendung gebracht ist. Den Assistenz ärzten giebt das Gericht eine Genugthuung, indem es erklärte, die von ihnen erhobenen Beschuldigungen seien vielleicht wahr, aber die Wahrheit sei nicht erwiesen; keinesfalls könne aber davon die Rede sein, daß sie als Denuncianten gehandelt haben und in böswilliger Weise vorgegangen seien. Mit dieser Anerkennung können auch sie vollkommen zufrieden sein. Die Betheiligten sind also zufriedengestellt, nicht aber die Unbetheiligten. DaS öffentliche Interesse ist nicht gewahrt, das große Publicum kann mit dem Ergebniß nicht zufrieden sein. Oder glaubt Jemand, daß jetzt noch ein Assistenzarzt eines Krankenhauses oder auch ein fremder Arzt, welcher wahrnimmt, daß die auch seiner Obhut anvertrauten Kranken in dem Krankenhause unter Verletzung der an erkannten Regeln der medicinischen Wissenschaft behandelt werden, eS wagen wird, die vorgesetzte Behörde um Abhilfe trauriger Zustände anzurusen? Wer solche Anzeige erstattet, kann möglicherweise ein Denunciant sein, wenn es eigennützige oder gar rachsüchtige Motive sind, die ihn leiten. Der Beweggrund kann aber auch ein warmes Mitgefühl für die unter fremder Pflichtvergeffenheit leidenden ihm mitanvertrauten Patienten und deren Angehörige sein. Woher soll ein Assistenz- oder ein Außenarzt den Muth dazu hernehmen, nachdem ein Gericht nach Anhörung erster Chirurgen eine pflichtwidrige Handlungsweise des ArzteS nicht für erwiesen angesehen hat, obwohl festzestellt war, daß er eine Operation mit brennender Cigarre im Munde vorge nommen und seine Hände nicht immer vorher deSinficirt bat? So sehr man mit den Beschlüssen der Aerztetage sym- pathisiren muß, eine Hebung ihres durchweg beliebten und hvchangesebenen Standes insbesondere dadurch herbeiznsühren, daß die häßliche Form des geschäftlichen Wettbewerbs fern gehalten wird, daß ein Arzt den andern nicht als Con currenten, sondern als College» ansieht, so sehr muß man andererseits eine Ueberspannung der Standesehre darin er blicken, wenn bei gerichtlichen Streitfällen die Antworten vom Standpunkte deS wohlwollenden College», statt von dem des unparteiischen Gutachters, dem Berather deS Richters, abgegeben werden. Ebenso wie dem einen Arrte gegen den andern muß aber auch den Patienten und ihren Angehörigen die Lust benommen werden, gegen den Arzt, der nach ihrer Ansicht seine Pflicht verletzt hat, wegen des herbeigeführten Schadens, z. B. der Verminderung der Erwerbsfähigkeit, klagbar zu werden. Die Aussicht für solche Processe war schon immer nicht günstig, weil sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der ärzt lichen Behandlung und dem eingetretenen Erfolg nur sehr schwer nachweisen läßt, da sich der anfängliche körperliche Zustand nachträglich nicht mehr feststellen läßt. Unser Strafgesetzbuch bedroht zwar die fahrlässige Tödtung und die fahrlässige Körperverletzung dann mit einer schweren Strafe, „wenn der Thäter zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amts, Berufs oder Erwerbs besonders verpflichtet war". Diese Vorschrifft trifft bekanntlich nicht nur Aerzte, sondern Jedermann, der ein Amt, Beruf oder Gewerbe ausübt, besonders ost die Bauhand werker. Für die Ausübung der Heilkunde hat das Reichsgericht folgenden Grundsatz — eS handelte sich um eine Anklage gegen einen Kurpfuscher — ausgesprochen: „Wer die Heilkunde ge werbsmäßig betreibt, hat Fehler gegen anerkannte Regeln der Heilkunde ebenso zu vertreten wie eine geprüfte und approbirte Medicinalperson. Es ist einerlei, daß früher und auch jetzt noch von einzelnen Aerzten das vom An geklagten eingeschlagene Verfahren als zweckmäßig angesehen worden ist. Da nach dem heutigen Stande der Wissen ¬ schaft dieses Heilverfahren erfahrungsgemäß als schlechthin schädlich erachtet wird, so war es die Pflicht des An geklagten, wenn er sich auf daS Heilen von Krankheiten ge werbsmäßig legt, auch solche angeblich neuere Erfahrungs grundsätze zu kennen und anzuwenden. Verabsäumt er dies, so kann unbedenklich schon hierin strafbare Fahrlässig keit im Sinne des § 232 Absatz 2 des Strafgesetzbuchs ge funden werden." Im Uebrigen geht unsere Rechtsprechung davon aus, daß der Heilkundige nicht verantwortlich ist, wenn er ein Ver fahren nicht anwendet, welches nur als nützlich, nicht aber als nothwendig anerkannt ist. Für den praktischen Arzt ist eS allerdings kaum möglich, allen Fortschritten der Wissen schaft zu folgen; eine Unkenntniß neuerer Methoden wird ihm deshalb nur zur Last gelegt, wenn seine Unkenntniß als eine fahrlässige anzusehen ist. Dies wird bei wichtigen Fortschritten der Fall sein. Bei der Diagnose einer Krankheit wird nicht leicht ein Verschulden des Arztes angenommen, da selbst Auto ritäten hierin irren. Nur grobe Fahrlässigkeit würde auS- reichen, um das Vorhandensein einer Schuld anzunehmen. Wir wollen wünschen, daß viele BeleidigungSprocesse in dem versöhnlichen Sinne erledigt werden, wie der Braun schweiger Proceß, wir müssen aber hoffen, daß in Fällen, wo das Vorhandensein einer Schuld die Grundlage der za treffenden Entscheidung ist, das Gericht mit der Waage in der einen und dem Schwerte in der andern Hand sein Urtheil fällt. Deutsches Reich. 8. Annaberg, 18. Mai. Der Wahlausschuß der ver einigten Nationalliberalen und Conservativen im 2l. Reichstagswahlkreise erläßt einen Aufruf zur Wahl des von ihnen gemeinsam aufgestellten Candidateu, Amtsrichters vr. Esche m Dresden. Ebenso hat sich der Bund der Land- wirthe für die Person des Herrn vr. Esche entschieden. Die deutsch-sociale Reformpartei und die freisinnige Partei werden voraussichtlich diesem Beispiel folgen. (-) Berlin, 18. Mai. Die deutsche Kreuzerflotte erfährt in allernächster Zeit eine recht ansehnliche Ver stärkung. In wenigen Wochen werden nämlich drei der großen zur Zeit im Bau befindlichen Kreuzer unter die Flagge treten und nach Beendigung der erforderlichen Probe fahrten zum activen Flottendienst herangezogen werden. Es sind dies die Kreuzer „Freya", auf der kaiserlichen Werft in Danzig, „Hertha", beim Vulcan in Stettin, und „Victoria Louise", auf der Weserwersl in Bremen erbaut. Die drei Schiffe sind 1897 vom Stapel gelassen. Sie haben ein Deplace ment von 5630 t und Maschinen von 10 000 Pferdekräften, welche den Schiffen eine Fahrtgeschwindigkeit von 19 See meilen in der Stunde geben. Die Besatzung besteht auS 447 Mann. Die drei gleichzeitig in Angriff genommenen Kreuzer sind größer als die beiden jetzt im asiatischen Kreuzer geschwader vereinigten Schwesterschiffe „Prinzeß Wilhelm" und „Irene", da diese nur ein Deplacement von 4400 Tonnen und Maschinen von 8000 Pferdekräflen haben. Etwas größer ist dagegen der bekannte schnelle Kreuzer „Kaiserin Augusta", welcher 6050 Tonnen Deplacement mißt und Maschinen von 12 000 Pferdekräften besitzt. Dennoch haben die neuen Kreuzer einen weit höheren Gefechts werth als das letztgenannte Schiff, da sie eine viel stärke« und praktischer gruppirte Artillerie und den Vorth-il des Panzersckutzes für die Geschützstände, sowie Unterwasser- Lancirrohre für Torpedos haben. Der Kohlenvorrath der Schiffe ist so bemessen, daß sie bei einer Marschgeschwindig keit von 10 Seemeilen in der Stunde eine Strecke von 6600 Seemeilen zurücklegen können. Die Kosten für jedes der Schiffe, ausschließlich der Armirung, belaufen sich auf 7 360 000 „L X. Berlin, 18. Mai. Wegen der noch recht lückenhafte« Statistik der Miethpreise sind die„Bauberichle", weläxe die „Deutsche Daugewerkzeitung" in den ersten vier Monaten dieses JahreS veröffentlichte, von erhöhtem Interesse. Sir erstrecken sich auf etwas über 70 deutsche Orte, die meisten Feuilleton. Am die Erde. Reisebriese von Paul Lindenberg. Nachdruck verboten. Einst nach Peking und heute. — Die Eisen bahn. — Ankunft . . . . aber nicht in Peking! — AufdemWegezurKaiserstadt. — Endlichda! — Eine neue Welt. — Er sie Eindrücke. — Wo ist die Kaiser st adt? Peking, 12. März. Früher brauchte man zwei bis drei Tage, um von Tientsin nach Peking zu gelangen, und hatte die Wahl zwischen einem dem Fahrgaste die Knochen verrenkenden Karren oder einem den Pci-Ho hinauffahrenden Hausboote; man konnte die Kosten für jeden Reisenden auf ungefähr hundet Mark beziffern, heute legt man in fünf Stunden in einem auf das Eleganteste aus gestatteten Salonwagen, wie er in Europa nur Fürstlichkeiten zur Verfügung steht, dieselbe Strecke für zehn Mark zurück. Die im letzten Sommer eröffnete Bahn, welche der chinesischen Regierung gehört, verzinst sich gut und wird stark von den Chinesen benutzt; unserem Zuge mußten zwölf Wagen angehängt werden, da in Peking demnächst die großen Staatsprüfungen stattfinden, zu denen aus allen Theilen des Reiches 10 bis 12 000 Prüflinge zusammenströmen. Wie die Heringe gepökelt saßen die jungen Leute, von denen viele mächtige Brillen trugen, in den Waggons, ein gut Theil war auf offenen Güterwagen untergebracht worden, und auf den aus Hunderten von Stücken bestehenden Gepäckbergen flatterten lustig allerhand bunte Fähnchen, die Glück bringen sollten. Die Bahn geht durch flaches, meist baumloses Land, vielfach waren die Chinesen bei der Feldbestellung thätig, zwei Kulis zogen den hölzernen Pflug, der seit Jahrtausenden seine Form beibehalten, der Bauer lenkte ihn und streute die Saat aus. Nahe den ärmlichen Dörfern ziehen sich lange Grabfelder hin, Regen und Ueberschwemmungen haben diele der kleinen Erd hügel zerstört und die hölzernen Särge bloßgelegt; oft stehen letztere allein mitten auf den Feldern, vor Jahren, auch Jahr zehnten hingestellt, kümmert sich Niemand mehr um sie. Die Halteplätze der Bahn machen einen höchst bescheidenen Eindruck, aber es findet auf ihnen schon viel Verkehr statt; Säcke mit Mehl, mit Erdnüssen, mit Gemüse werden ein- und aus geladen, und halbwüchsige Zopfträger bieten Thee, Kuchen und Apfelsinen an. In der Ferne steigen Gebirgszüge auf, und bald haben wir den Endpunkt unserer Fahrt erreicht — vermuthlich Peking, nicht wahr? Weit gefehlt! Die stolzen Chinesen bewilligten wohl den Bau einer Bahn von Tientsin nach Peking, gestatteten jedoch nicht, daß eine so neumodische Erfindung der „rothen Barbaren" wir diese Dampfbahn, bis an die aeheilgten Mauern der Hauptstadt des Reiches der Mitte geführt werden dürfe. So mag denn der Reisende, der den unwiderstehlichen Drang in sich fühlt, Peking zu besuchen, sehen, wie er die zwei stündige Entfernung von der Station bi« zur Stadt zurück legt — in einem oder zwei Jahren wird er nicht mehr die Qual der Wahl haben, dann kann er sich der elektrischen Bahn bedienen, deren Bau (durch Siemens L Halske) in seiner energischen, den Chinesen gegenüber einzig richtigen Weise unser Gesandter in Peking, Baron von Heyking, kürzlich durchgesetzt hat und deren Arbeiten schon im Gange sind. Auf uns stürzte sofort eine Anzahl der Kulis zu, um uns und unser Gepäck in einige der mit je einem Pferde bespannten, von einem blauen Plantuche überdachten zweiräderigen Karren, von denen ein paar Hundert in einiger Entfernung von dem Stationsgebäude zusammenstanden, zu packen, aber hageldicht sausten sofort die Hiebe der Polizisten auf die eifrigen Lastträger herab, die schleunigst zurückwichen, so daß wir uns in Muße aus ihnen die uns am vertrauenswürdigsten scheinenden wählen konnten. Dann bildeten wir wieder die kleine Karawane, zwei Karren wurden mit dem Gepäck beladen, wir bestiegen jeder einen Esel und ritten achtsamen Auges neben den Karren her, da die Führer zuweilen Lust verspüren sollen, in dem völlig ver wirrenden Troß von Wagen, Pferden, Eseln, Mauthieren, Fuß gängern, der sich nach Ankunft eines Zuges nach Peking zu wälzt, mit dem ihnen anvertrauten Gut zu verschwinden; so erging's kürzlich einer von Tientsin gekommenen Dame, die einem Ball in der englischen Gesandtschaft beiwohnen wollte, in letzterer aber ohne ihren Feststaat anlangte, der mit dem übrigen Gepäck auf Nimmerwiedersehen abhanden gekommen war. In dem ungeheuren Trubel ritten wir dahin, neben, vor, hinter uns schreiende Fuhrleute, Reiter, die sich rücksichtslos ihren Weg bahnten, Eseltreiber, keuchende Lastträger, die ihre gleichförmigen Schreie ausstießen, um sich selbst anzuspornen und den Weg frei zu machen, der wieder einmal keiner war: durch Dick und Dünn, über Gräben und Hügel, durch Pfützen und Löcher ging's, bergauf, bergab, meist durch knietiefen Sand, der von dem Winde aufgewirbelt wurde, so daß Einem schon nach Kurzem die Augen schmerzten und man völlig mit einer starken grauen Staubschicht überzogen war. Und dazu vom Fieber geschüttelt und in diesem Zustande doppelt gepeinigt von dem Lärm, der Unruhe und Hast, dem entsetzlichen, Athrm benehmenden Staub und jenem schlimmen Geruch, den eine Anzahl Chinesen stets verbreitet, und von all dem Wider wärtigen, da» sich den Augen darbot, denn zahllose lumpen- umhüllte Bettler und furchtbar verheerte Aussätzige trieben sich allerorten umher und warfen sich vor uns, Gaben erflehend, in den Schmutz, den Kopf mehrmals zur Erde beugend oder mit Sand bestreuend. Wüstenei ringsum, gelegentlich eine Hütte, ein Häuschen, dann wieder Sand, Sand, Sand, von Peking nichts zu er blicken! Nach einer Stund« endlich, nachdem man einen Hügel erklettert, sieht man die Mauern der Stadt aufragen und erreicht schließlich, nachdem man eine über einen Graben führende Brücke passirt, eines der von einem breiten, dreistöckigen Wachthaus« überragten alterthümlichen Thorr. Aber in Peking ist man noch lange nicht. Eine halbe Stunde geht'« weiter, auf einem erhöhten, einst vielleicht ganz gut gepflastert gewesenen Damme, recht» und link» hohe Mauern mit kahlen Baumkronen dahinter, er sind die weiten Anlagen de« Tempels de« Ackerbau«» und jenes des Himmels, beide Fremden strengstens verschlossen. Wieder thürmen sich hohe Mauern vor un» auf, und eS geht durch ein Wohl 15 Meter starkes Thor, hinter welchem sich eine breite Straße öffnet, zu beiden Seiten von Holzbuden ein gefaßt, die ein Geschäft neben dem anderen bergen, und deren Fronten häufig durch einstmals vergoldetes Gitterwerk und hohe vergoldete Masten geschmückt waren, aber der unbeschreibliche Staub hat Alles schwarz und grau gemacht. Wir sind nun in der Chinesenstadt, die sich vor der Tataren stadt, in welcher wieder die kaiserliche Stadt völlig abgeschloffen liegt, ausbreitet. Ein richtiges Jahrmarksgetümmel umgiebt uns, überall wird gehandelt und gefeilscht, überall sind in den erwähnten Geschäften wie in vor ihnen auf der Straße er richteten Zelten und Bretterbuden, auf einzelnen Tischchen und auch auf der Erde tausenderlei Sachen ausgebreitet — prächtige Porzellanvasen und verrostete Schlüssel, herrlich gestickte Man darinengewänder und alte Schuhe, kostbare Pelze und zer schlissene Mützen, schön eingelegte Waffen und leere Weinflaschen, mit alten Stickereien verzierte Schabracken und Lampencylinder, von Meisterhand gemalte chinesische Bilder und zerbrochene Stühle, seidengewirkte Teppiche und vielfach gebrauchte eiserne Nägel, man fragt sich immer wieder, was Wohl hier nicht zu haben sein mag! Zwischen und vor den Läden wie Verkaufsständen haben Handwerker ihre Arbeitsstätten eingenommen, Tischler hobeln, Schmiede feilen, Rohrflechter regen die flinken Hände. Schuster hämmern, Weber lassen emsig das Garn über die Spulen laufen, Alle schaffen und wirken in vollster Oeffentlichkeit, entweder unter freiem Himmel oder in ihren luftigen, nach der Straße zu offenen Werkstätten, oft nur aus einigen Brettern oder Bambusstangen mit dazwischen gespanntem zermürbtem Zelt tuch errichtet. Unzählige fliegende Garküchen sind aufgestellt, unter den Kesseln bruffelt daS Feuer und in den Töpfen schmoren Gerichte, deren Bestandtheile ich nicht einmal ahnen möchte; Bäcker formen mit den Händen kleine Kuchen und schieben das Eisenbrett mit ihnen in einen aus losen Ziegel steinen errichteten Backofen, hier giebt's dampfenden Thee, dort heißen Samschu, da ein warmes Kohlgericht, Gruppen schmau sender Chinesen stehen um lodernde Feuer, in dichten Haufen umringen Neugierige Wahrsager und Zauberer, zwei be zopfte Jünglinge sind sich in die Zöpfe gerathen, und der eine sucht den anderen an dem Zopf zur Erde zu ziehen, jetzt macht sich einer von den Kämpfern frei und stößt mit einem derben Fußtritt den seinem Gegner gehörigen Theestand um, daß die brennenden Holzscheite flackernd umherfliegen, und, darüber empört, einige Zuschauer über den Missethäter verfallen und ihn wacker durchbläuen; rin Trupp geschminkter Schönen naht, auf die weiß angestrichenen Gesichter ist knalliges Roth auf getragen, auch die Lippen sind hellroth gefärbt, es sind mand schurisch« Damen, erkenntlich an ihrem fächerartigen Haarputz, den verstümmelten Füßen und den mitten unter den Schuh sohlen angebrachten hohen Absätzen; glöckchenbimmelnd naht ein langer Zug beladener Kameele, und auf zottigen Pferdchen kommen wohlhabende Chinesen, in schwere Pelze gekleidet, an getrabt, in der rechten Hand eine kurze Knute, mit der jene Landtleute, di« nicht au» dem Wege gehen, einen tüchtigen Denkzettel erhalten. . Auch hier natürlich wimmernde Bettler und Kranke, da» lange Haar wirr über den Kopf hängend, diese und jene wandernden Lumpenbündeln ähnelnd. Das Ganze ist von einer verwirrenden Fremdartigkeit und malerischen Buntheit, und die große Breite und halbstündig» Ausdehnung der Straße trägt dazu bei, daß sich die einzelne« Scencn und Bilder wirksam abheben. Hier fühlt man sich wirklich in einer völlig fremden Welt, im eigentlichen China, wo von europäischem Einfluß nichts zu merken ist, ebenso wenig wie man auf Nichtchinesen trifft. Nochmals eine neue hohe Mauer, wieder ein massiges Thor mit dreistöckigem Wachthause darüber, und wir sind nun in der Tatarenstadt angelangt, in der auch die fremden Gesandt schaften und die beiden einzigen europäischen Hotels liegen. Lärm und Getriebe auch hier, in eine schmälere Straße biegen wir ein, und während ich das Wort „Straße" niederschreibe, wundere ich mich, daß die Feder nicht zersplittert und das Papier nicht erröthet, denn diese „Straße" besteht aus jammer vollen Stein- und Lehmhäuschen, welche mit manchen Lücken zwischen ihnen einen „Weg" einsäumen, der aus von Jahr hunderte altem Schmutz zusammengewehten Hügeln und den entsprechenden Einbuchtungen, auS Pfützen und Morästen, in denen wohlig grunzend sich schwarze Borstenthiere umhertreiben, besteht. Jeden Augenblick drohen unsere Gepäckkarren umzu fallen und unsere Esel in den Abgründen zu verschwinden! Gewiß nur die Vorstadt, meinen wir, und die „Kaiserstadt" wird uns bald ihre Herrlichkeiten offenbaren. Da, nach einer Viertelstunde, halten unsere Karrenführer und weisen auf ein nur aus einem Erdgeschoß bestehendes Häuschen. Nun, was soll dar? Wir wollen doch nach dem einem deutschen Lands- manne gehörenden „Hotel Jmbeck"! Wir sagen, rufen, brüllen den Kerlen den Namen „Jmbeck" in die Ohren, da» Hotel soll ja in der Gesandtschaftsstraße liegen, aber die Bezopften weisen grinsend immer mit den Peitschen auf das Häuschen, und da iesen wir neben dem Eingänge zu einem Laden den obigen Namen. Heiliger Bimbam, sollte . . . Aber das ist ja un möglich! Ich gehe in den Laden und werde von dem chinesischen Verkäufer auf den Hof gewiesen, der von drei kleinen erd- schössigen, zehn Meter langen Häuschen begrenzt wird. Hier tritt mir ein hochgewachsener Herr entgegen. „Herr Jmbeck?" — „Jawohl." — „Und das ist hier Ihr Hotel?" — „Wenn Sie'S so nennen wollen — ich vermiethe neben meinem Laden geschäft einige Zimmer, genau wie's auch der französisch« Be sitzer vom „Hotel Peking" macht." — „Nun sagen Sie mir, bester Herr Jmbeck, find wir denn hier in der Gesandtschafts straße?" — „Gewiß, drüben die russische Gesandtschaft, dann die französische, fünf Minuten von hier die deutsche!" — Daß ich nicht gleich vor Erstaunen umgesunken, ist mir eines der unerklärlichsten Wunder l „Haben Sie noch Zimmer frei?" — „Gerade noch zwei." — „Gut, wir nehmen sie (und ich sehe hinzu, daß wir uns bei unserem liebenswürdigen Landsmann und seiner freundlichen Gattin ungemein wohl ge fühlt haben und noch fühlen) jedenfalls nur auf kürzeste Zeit, wenn das hier die vielgeriihmte Kaiserstadt ist, dann wird sie uns wohl nicht lange in ihrm vielfachen Mauern beherbergen!"
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