Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.03.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-03-18
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980318012
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898031801
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898031801
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-03
- Tag 1898-03-18
-
Monat
1898-03
-
Jahr
1898
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezugs-Preis Sl d« H>«ptexpedtttou od« den i« Stadt» bezirk und de« Vororte« errichtete« Au«- aavrstrllrn abgebolt: vtrrteljührlich^lLckO, tri zweimaliger täglicher Zustrllaug in« Hau« L.üO. Durch dir Post bezogen für Deutschlaud und Oesterreich: vterleliShrlich S.—. Direkte tägliche Kreuzbandiendung in« Au-land: monatlich 7.LO. Die Morgen-An-gab» erscheint um '/,7 Uhr, dir Abend-AuSgabe Wochentag« um b Uhr» Redartion »nd Erveditiou: Johanne«,affe 8. Die Trpedition ist Wochentag« ununterbrochech geöffnet von früh 8 bi« Abend« 7 UhL Filialen: Dtta Klemms Sortim. kAlfrel Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Knthariueuftr. 1«, pari. u»d Lönig-platz 7. Morgen-Ausgabe. KiMM Tagelllalt Anzeiger. Amtsötatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, -es Aatljes und NoNzei-Ärntes -er Ltadt Leipzig. Anzetgeu-PretS die 6 gespaltene Petitzeile 20 Psg. Reklamen unter dem Redaktion«strich («ge spalten) bO/H, vor den Familiennachrichtra (6 gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem Pret« verzeichniß. Tabellarischer und Ziffernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mlt Postbeförderung 70.—. Ännahmeschlvß fü^ Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen.Ausgabe: Nachmittags «Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halb« Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig Freitag den 18. März 1898. 92. Jahrgang. Radikalismus und Arbeiterjugend. i). 0. Unsere Gegenwart ringt nach neuen Lebensformen. Ueberall werden die alten Bahnen verlassen; in Kunst und Literatur kämpft die Gedankenwelt der alternden Generation mit dem jungen Geiste, die Wissenschaft tappt weniger als je auf den Kreuz» und Querwegen einer oft irrlichteUrenden Speculation, sondern sucht ihre Kraft auf dem Boden der Erfahrung. Doch aus keinem Gebiet macht sich der Drang einer neuen Weltanschauung mit größerem Nachdruck geltend, als auf dem der Socialpolitik. Ein Sturm kühner Ge danken rüttelt heute an allen staats- und privatrechtlichen Ueberlieferungen, an allen Gewohnheiten, nach denen sich von den Zeiten unserer Väter bi« in die jüngsten Tage herein das Verbältniß des Staates zu dem Einzelnen, veS Besitzenden zu dem Armen, des DienerS zu dem Herrn, deS Arbeiters zum Arbeitgeber gestaltete. Heute sind wir in eine Zeit eingetreten, die den ernsten Willen zeigt, die Forderungen der Arbeiter zu prüfen, zu sichten und zu gewähren, was nach dem Urlheil der Vernunft und Moral möglich ist. Eine Zeit ruhiger Untersuchung all' der zahlreichen Erscheinungen, unter denen die moderne Arbeiterbewegung sich äußert, ist gekommen. Handelt es sich doch auch für den Historiker darum, gewissermaßen die Ge burtsurkunde einer neuen geschichtlichen Epoche festzustellen, welche die hauptsächlichsten Grundlagen unser gejammten Eultur umzugestalten verspricht. Eine der beachtenswerthestcn jener Erscheinungen ist daS Hervortreten der jugendlichen Arbeiter in der politischen Agitation. Auf der Äugend ruht die Zu kunft. Die jetzt Heranwachsende Generation wird voraus sichtlich auf die Entwickelung der Arbeiterfrage in Deutsch land einen noch bestimmenderen Einfluß üben als die gegen wärtige. Es ist daher wichtig, zu wissen, welcher Art die politischen Anschauungen sind, in denen diese Arbeiterjugend aufwächst. Man darf sich darüber keinem Zweifel bingeben, daß diese Jugend die Trägerin eines Radikalismus ist, der so ziemlich mit Allem gebrochen hat, was unsere moderne Welt „im Innersten zusammenhält". Die eigentlichen Prak tiker der Agitation sind heute vornehmlich die jungen Arbeiter. Wie fest verbissen hängen sie an den oft sogar gänzlich falsch verstandenen Parteiprincipien! — Rück sichtslos bis zur äußersten Consequenz und ohne Scrupel, wo es dienlich erscheint, mit staunenswertber Beweglichkeit und Ausdauer sind sie überall auf dem Plan, wo es sich darum bandelt, für „die Sache" zu wirken. Sie sind die Vollstrecker der taktischen Maßregeln der Partei und nicht nur dieses. Auch unabhängig von der Parteileitung organi- siren sie nach eigenem Gutdünken den kleinen Krieg in den einzelnen Bezirken. Hier bilden die jungen „fortgeschrittenen" Arbeiter den Mittelpunkt der meisten Fachvereine, sie sind die Seele jeglicher Arbeiterbewegung in ihrem be sonderen Gewerk; sie halten die Unschlüssigen zusammen, reden und schreiben, gewinnen die Lauen und Zaghaften, feuern die Familienväter zum AuSharren an, streiten sich mit Behörden und politischen Gegnern herum, sammeln Gelder, regeln die Unterstützung streikender Genossen und büßen schließlich ihre meist nicht auSbleibende Strafe in dem Bewußtsein ab, ein „Opfer" der „Classenjustiz" zu sein. DaS sich aus solchen Verhältnissen unter dem Socialislengesetz ent wickelnde politische Märtyrerlhum hat namentlich unter der Arbeiterjugend derartig an Ansehen gewonnen, daß es von vielen als ein erstrebenSwerthes Ziel betrachtet wird. Es gab eine Zeit, wo der Drang nach ihm so stark war, daß die Blätter der Partei es als eine Thorheit bezeichneten, die Gefahr mutbwillig aufzusuchen. ES kann nicht wundern, daß sich auS einer solchen heiß blütigen politischen Betätigung der Jugend auch aus einem nickt unmittelbar politischen Gebiete höchst unerquickliche Ver hältnisse entwickeln müssen; am allerwenigsten ist bei der Jugend der politische Fanatiker vom übrigen Menschen zu trennen. Die Folge ist oft eine bedauernswerte Ungebührlich- keit, nicht nur gegen die Arbeitgeber, sondern gegen Alle, die einen besseren Rock als der Arbeiter tragen: eine oft geradezu empörende Verhöhnung und Geringschätzung anders denkender Männer, mögen sie auch noch so sehr Freunde der Arbeiter sein. Uns scheint, als ob dieser abstoßende Zug in der deutschen Arbeiterbewegung um so stärker hervorgetreten sei, je mehr die Jugend sich derselben bemächtigte. Und daS ist erklärlich. Die jammerhaste Einseitigkeit ihrer Weltanschauung läßt nickt Raum für andere Meinungen, als deren Quelle sie häufig bösen Willen und Heuchelei betrachtet. Um so stärker tritt dieser Charakterzug in die Erscheinung, da durch jene Be sonnenheit und Einsicht, welche auch dem Ungebildeten daS Alter lehrt, die mangelhafte Erziehung dieser Jugend nicht gemildert wird. „Aus ihrem beißen Kopfe nimmt sie keck Der Dinge Maß, die nur sich selber richten; Gleich heißt ihr Alles schändlich oder würdig, Bös' oder gut" — Aber auch in rein wirthschaftlicher Hinsicht, in Be ziehung auf die materielle Lebenslage einer derartigen Arbeiter jugend ist ibre politische Heißblütigkeit von schädigender Wirkung. Soll sie gewerbliche Tüchtigkeit sich zu eigen machen, wo das Handwerk doch mehr und mehr dem Großgewerbe zum Opfer fällt; soll sie fleißig und strebsam sein, da, fest wie die Eiche in der Erde, in ihrem Herzen die Ueberzeugung wurzelt, daß sie über ihre „Classenlage" doch nicht hinauskommen könne; soll sie die Gebildeten und Besitzenden lieben, da eS ihr wie ein Dogma unerschütterlich ist, daß diese ihre „Unterdrücker und Ausbeuter" sind; soll sie den „Classenstaat" und seine Gesetze mehr achten, als die Furcht vor Strafe lehrt, da sie in ihm den Schützer und Förderer all der wirklichen und vermeintlichen Uebel erblickt, unter denen die Besitzlosen leiben; soll sie sparsam sein, wenn man sie lehrt, daß sie ein unbedingtes Recht habe zum Genuß, daß es eine volkswirth- schaftliche Tugend sei, zu verschwenden? — Eine derartige einseitige Auffassung unserer Zeit und eine durch falsch verstandene balbe Wahrheiten bestimmte Lebensführung hindert jedes Fortkommen. Die Arbeitslüchtigkeit und mit ihr die Erwerbsfähigkeit leidet unter der Politik. Immer wieder kommen, wie wir schon früher berichteten, aus zahlreichen Erwerbszweigen die Klagen, daß die beruflichen Leistungen der Jugend geringer werden, je mehr dieselbe in die Wirbel der Tagespolitik gezogen wird. Dieser politisirenden Arbeiterjugend fehlt die ruhige Beständigkeit, di: Anhänglich keit an ein Geschäft und einen Meister, ohne die sich auch eine tüchtige gewerbliche Erziehung weder im Handwerk noch in der Großindustrie denken läßt. Sehr gering ist die Zahl solcher Arbeiter, die trotz ihres politischen Radikalismus und ihrer agitatorischen Tbätigkeit auch in ihrem Berufe von unzweifelhafter Leistungsfähigkeit sind. Solche Arbeiter sind meist älter und haben ibre Jugend fast in allen Fällen mebr zum ruhigen Lernen als zum Politisiien benutzt. Der junge politische Hitzkopf bringt es aber in seinem Berufe gewöhnlich kaum zu einer mittel mäßigen Leistungsfähigkeit, ihm ist selten die Ruhe der eigenen Werkstatt heilig, und er wird, namentlich unter heutigen Verhältnissen, meist bei erster Gelegenheit entlassen, weil man Ungelegenheilcn von ihm befürchtet. Ist er gar, wie eS jetzt der Brauch, noch als halber Jüngling die Ehe eingegangen, so wird die Politik zur herben Prüfung nicht nur für ihn, sondern auch für die Familie. Unsere heutigen wirthschaftlichcn Verhältnisse verlangen nicht nur Unter ordnung de« Arbeiters unter den Arbeitgeber und seinen Bevollmächtigten, eine Unterordnung, die vornehmlich von den jüngeren Leuten als starke Beeinträchtigung empfunden wird, sondern sie erfordern auch zum leidlich guten Fortkommen die ganze Aufmerksamkeit und Arbeitskraft, namentlich des jüngeren Mannes. Die Politik giebt jedoch dem Geiste des jungen Arbeiters vielfach eine ganz verkehrte Richtung. Er verläßt sich zu wenig auf die eigene Kraft, sondern erwartet bas Gute möglichst bald und vollständig vom Staat. Diesen zu seinen Gunsten umzugestalten, scheint ihm daher wichtiger, als die Nadel oder den Hammer zu schwingen. Die politische Idee läßt ihn vergeßen, daß es zunächst seine Pflicht ist, sich den nun einmal bestehenden und historisch gewordenen Zuständen anzupassen, auch unter ihnen» unbeschadet des erwarteten Besseren, als ehrlicher Mann sein Fortkommen zu suchen und nicht in ein selbstverschuldetes materielles Elend zu versinken, das oft die trübe Kehrseite der politischen Wühlereien jugendlicher Personen ist. Diese selbst üben häufig ihren wohlfeilen Spott an Arbeitsgenossen, die lieber hinter ihrem Werktisch stehen, als politischer Agitation nachgehen. Wir kommen hier auf ein Capüel, das gegenwärtig gleichfalls die Ocffentlichkeit andauernd beschäftigt. Namentlich junge Arbeiter sind es, die bei den Streiks vor den Fabriken Posten stehen, um ihren Kameraden den Fleiß zu verleiten; junge Arbeiter sind cs auch meistens, die über ihre Kameraden hersallen und sie mißhandeln, wenn sie sich zu streiken weigern, sie herabwürdigen unter der Arbeiterschaft und sie gewisser maßen gesellschaftlich boycottirtcn in ihren Kreisen. So sehen wir sie, auch wenn sie sich selbst nicht rednerisch oder organisatorisch in der örtlichen Arbeiterbewegung belhätigen sollten, doch überall als das belebende Element, überall fühlen wir ihren starken Einfluß, oft genug leider auch ihre bis zum Terrorismus gesteigerte Ueberhebung, durch die sie sich sehr unliebsam von den meisten älteren, wenn auch gleichfalls „principienfesten" Arbeitern unterscheiden. Bei alledem darf man nicht vergessen, daß diese Arbeiter jugend mit ihren beklagenswerthen Ausartungen auf dem Boden unserer gegenwärtigen Verhältnisse gewachsen ist. Vater, Mutter und meist auch die älteren Geschwister sind in den Jnvustriebezirken vielfach in den Fabriken beschäftigt; ohne jegliche Aufsicht, ohne vom Auge einer sorgenden Mutter beschützt und geleitet zu werden, bleiben die Kinder sich oft während der meisten Stunden deS TageS selbst über lassen. Sie verfallen dem verderblichen Straßeninvianer- thum. Aus diesem ungeregelten Straßenleben gelangt der Knabe in den industriellen Bezirken in die Fabrik. Hier nimmt er bald durchaus die Gewohn heiten seiner älteren Mitarbeiter an. Er lauscht ihren politischen Gesprächen, tbeilt ibre Plagen, lernt sich einfügen in den Fabrikorganismus, dessen Größe den einzelnen Arbeiter selbst an der Stätte feines täglichen Fleißes die ganze Nichtig keit der eigenen Person ost sehr eindringlich fühlen läßt. Sein Hirn füllt sich mit einem wirren Durcheinander erhorchter politischer Weisheit, von der er nur begreift, daß eS schlecht um ihn siehe, daß er Ursache habe, mit dem Schicksal und noch zwei anderen, ihm vorläufig durchaus mythisch erscheinenden Dingen zu hadern, die man „Staat" und „Capital" nennt und deren Wesen er sich vorstellt als einen unersättlichen Moloch, dem der Arbeiter seine Gesund heit und seinen Fleiß zum Opfer bringen müsse. Sebr bald gelangt er zu dem Gefühl, daß er ein armer Teufel sei, mit dem cs weder der Fabrikherr gut meine, noch sonst Jemand, der einen feinen Rock trägt und keine schwielige Faust bat; bäusig steigert sich dieses Gefühl bis zu dem unerschütterlichen Glauben, daß es überhaupt kein anderer als der Proletarier selbst mit ihm wirklich gut meinen könne. Der junge Bursche lernt sich allmählich fühlen als einen Arbeiter, der nur zu anderen Arbeitern zu halten hat; langsam prägt sich seinem Charakter jene herbe Verbitterung auf, jenes harte Clasfenbewußt- sein, das die Arbeiterpartei wie mit eisernen Bändern zu sammenschmiedet. Und ist daS nicht erklärlich? Sowohl in der Groß industrie als im Handwerk ist man in den beiden letzten Jahrzehnten sich immer weniger bewußt geblieben, daß man gegen die jugendlichen Arbeiter denn doch noch andere Pflichten hat, als sie das Gesetz und der Lchrcontract vor schreiben. Es sollte ganz unbedingt an dem alten Grundsatz festgehalten werden, daß der Lehrherr, möge er nun Hand werker oder Großindustrieller sein, die väterlichen Pflichten der Aussicht und Erziehung zu erfüllen bat, nicht nur in Beziehung auf die Berussthäligkeit deS Lehrlings, sondern auch aus sein gesaininteS Verhalten außerhalb derselben. Obgleich die Erfüllung solcher Pflichten im Handwerk auS naheliegenden Gründen unendlich viel leichter ist als im Großgewerbe, so liegen doch auch leider in jenem die Lehr- verhältnisse nach dieser Richtung sebr im Argen. Die Innungen haben bisher noch keineswegs die Hoffnungen er füllt, welche man bezüglich der Lehrlingserziebung in sie setzte ; auch sie verkennen vielfach gänzlich, daß sie auS den Lehrlingen nicht nur leidlich brauchbare Gesellen, sondern überhaupt tüchtige, charaktervolle Menschen zu bilden haben. Der Hand werksmeister betrachtet leider auch heule noch vielfach seinen Lehr ling— und man bat keine Ursache, bier einen Unterschied zwischen JnnungS- und NichtinnuogSmeister zu machen — als eine billige Arbeitskraft, die er widerspruchslos zu Allem ver wenden kann, als ein männliches Aschenbrödel. Eine höchst verderbliche L e L r l i n g S z ü ch t u n g hat sich in zahlreichen Gewerken entwickelt. Sobald die jungen Leute ausgeiernl haben und für ihre Arbeit bezahlt werden müssen, entläßt sie der Meister; sie stehen auf der Straße ohne Beschäftigung und meist auch ohne jene umfassende gewerbliche Bildung, die zum Fortkommen heute auch für den Handwerksgesellen er- tordcrlich ist. Um so eifriger wenden sie sich radikalen politischen Richtungen zu, je mehr sie schon als Lehrlinge Ursache hatten, sich über Behandlung und Ernährung, über ihre oft recht schlechten Schlasstätten, ihre Ausnutzung und mangelhafte Unterweisung zu beklagen. AuS schlecht be handelten Lehrlingen werden fast immer unzufriedene und unbotmäßige Gesellen. Der Lehrling soll zur Familie ge hören, der Meister soll ihn strenge, aber gerecht behandeln wie den eigenen Sohn; und ist er wirklich ein ehrenwerther Meister nach dem alten Schrot und Korn, so wird er dem Lehrling nicht nur seine Kunstfertigkeit, sondern auch einen Charakter auf den Lebensweg mitgebcn, der ihm schon in den Jünglingsjahren ein Schutz gegen die Wirbel öden politischen Klopsfeckterthums ist. Wer sich einen Raben erzieht, der wird Rabenlohn ernten. Die politischen Ausschreitungen unser Arbeiterjugend hängen eng zusammen mit ihrer Cbaraktererziehung. Auf diesem Gebiete hat auch die Volksschule noch nicht jene Leistungen aufweisen können, die sie erstreben muß, seit die Arbeiter familie vielfach nicht mehr in der Lage ist, die heilige Aus gabe der Kindererziehung zu erfüllen. Die Tbätigkeit der Schule ist von den Forderungen VeS Lebens nicht zu trennen. Je größer die Gefahr wird, daß eine der ordentlichen Häuslichkeit ent behrende, unbeaufsichtigt und ungeleitet Heranwachsende Jugend einem maßlosen politischen Radikalismus sich ergiebt, um so mehr soll die Schule in die Lage gebracht werden, die Stelle des Elternhauses bei den Kindern ausfüllen zu können. Die Schule arbeitet für die Zukunft. Ihre Arbeit hat mit der Politik direkt nichts zu schaffen, aber vorbeugend kann sie das Kind nach seinen guten Seiten entwickeln und den ersten Grund zu einer Festigkeit des Charakters, zu einer, später vom Lehrherrn weiter auszubildenden vernunftgemäßen Lebensanschauung legen, die in Fleiß, Spar sinn und Nüchternheit die Mittel des Erfolgs und gute» Fortkommens sieht. Deutsches Reich. X. Berlin, 17. März. Man empfängt von den Parlamen tariern oft den Eindruck, daß sie sich mit Vorliebe gerade in solche Streitpunkte verbeißen, die praktisch von geringer Bedeutung sind. Das war z. B. der Fall bei dem Streite, der sich um den tz 2 der Militairstrafproceßordnung darüber entspann, ob für Duelle der Officiere des Beurlaubtenstandes die Militärgerichte oder die bürger lichen Gerichte zuständig sein sollten. Der durch die Ab lehnung des Antrags Munckel, solche Fälle vor die bürger lichen Gerichte zu verweisen, geschlichtete Streit hätte von dem Antragsteller und seinen Freunden mit Recht so hart näckig geführt werden können, wenn diese Herren einen Grund zu der Annahme gehabt hätten, die bürgerlichen Gerichte gingen mit strengeren Maßregeln gegen das Duell vor, als die Militärgerichte, und trügen daher mehr als diese zur Verringerung der Zahl der Zweikämpfe bei. DaS ist aber nicht so, vielmehr sind in den weitaus meisten Fällen auch die Erkenntnisse der bürgerlichen Gerichte sehr milde, wozu außerdem häufig noch eine durch Begnadigung eintretende er hebliche Verkürzung der Strafzeit erfolgt. Der Werth also, der der Zuständigkeit der bürgerlichen Gerichte bei Duellen von Officieren deS Beurlaubtenstandes praktisch beizumesscn ist, ist nur böchst gering. Dazu kommt noch, daß es ganz logisch ist, wenn Diejenigen, die sich infolge der Entscheidung eines m i lit airif ch en Ehrengerichtes duelliren, auch von einem militairischen Gericht abgeurtheilt werden. Man könnte ja nun sagen, daß die Officiere des BeurlaubtcnstandeS eben nicht dem Militairehrengerichte unterworfen sein sollten, aber damit würde man ganz und gar nicht im Sinne der praktischen Gegnerschaft gegen daS Duell handeln; denn so unsinnige Duellhänvcl, wie sie in den Kreisen, die den mili- tairischen Ehrengerichten nicht unterworfen sind, nicht selten Feuilleton. Der Schildkrötenhandel. Eine gastronomische Skizze aus der Union. Bon Ernst Waldow. Nachdruck verbot«». Der Dank« ist ein passionirter Fleischefser, und fast bei keiner einzigen Mahlzeit fehlt das beliebte „Steak" auf dem Tische. Dabei ist er im Allgemeinen nicht sehr wählerisch. Ob das „Steak" weich oder zähe ist, beunruhigt ihn ganz und gar nicht. Ist es weich, so schneidet er es in größere, ist es hart, in kleinere Bissen, schluckt diese — kauen thut er nie viel — hinunter schickt ihnen etwa drei bis vier Löffel „mnslreck potettoes" nach, schlürft sein« vier bis fünf Tassen starken Kaffee, wozu er ein Stück Fruchtpastete, Kuchen oder ein Näpfchen mit Fruchtgelee oder Eingemachtem, welches nicht fehlen darf, hinzufügt, wischt sich den Mund und — geht an seine Arbeit oder ins Geschäft. Doch der Dank« ist auch «in großer Feinschmecker, und wenn er es irgend erschwingen kann, gönnt er sich, zumal am Sonntage, außer Wildpret besonders Austern und — ein« lecker hergerichtete Schildkrötensuppe. Der geneigte Leser wird ermessen können, in wie großer Beliebtheit die Schildkröte in der Union steht, wenn er erfährt, daß z. B. in Now Dort jährlich über ungefähr 6000 große Seeschildkröten allein — die kleineren Flußschildkröten gar nicht gerechnet, die im Lande selbst gefangen werden, — auf den Markt kommen und ihre begeisterten Abnehmer finden. London, das doch zur Zeit weit über dreimal so groß ist al» die Me tropole deS Westens, verbraucht nicht viel über 3000 in demselben Zeitraum. Die in London verzehrten Schildkröten kommen fast aus schließlich aus Jamaika. Doch hat sich diese Art in New Dort nicht einbürgern können, denn wenn die Thiere mehr als 150 Pfund etwa wiegen, ist das Fleisch dem Amerikaner, der in Feinschmeckereien entschieden wählerisch ist, bereits zu zähe und unappetitlich. Die für London bestimmten Thiere werden in der Umgegend von Kingston auf Jamaika im Ocean gefangen. Die dortige Schildkrötenflotte bc steht aus etwa 8—16 kleineren Schoonern mit einer Mannschaft von über 100 Köpfen, deren ganzes Ge schäft im Fang dieser kostbaren Amphibien besteht. Höchst originell ist die Art und Weise, wie die Schildkröten „dingfest" gemacht werden. Längs der nicht weit vom Gestade im Ocean befindlichen Korallenriffe werden Netze aus starkem, drei- drähtigem Hanfgarn, dem sogenannten „Durtls tvin", aus- gsspannt. Wollen die ermüdeten Thiere — was sie gewöhnlich thun — ein wenig vom Umherschwimmen ausruhcn, so wenden sie sich natürlich den Riffen zu und klammern sich mit Wohl behagen und „dankbarem Aufblick" zu ihren menschlichen „Wohl- thätern", di« ihnen diese Arbeit erleichtern, mit ihren „flipperg" oder schaufelförmigen vorderen Flossenfüßen an diese Netze fest. Hierbei verwickeln sie sich in den Maschen und werden von den „turtler," ohne große Mühe gefangen und auf den Schiffen nach Kingston an di« Küste geschafft. Hier werden sie in das sog. „kurtls vrarvl", ein aus Pfählen und starkem Reisigflechtwerk am Strande hergerichtetes Gehege hineingethan, welches bei der Fluth mit Wasser gefüllt, den Gefangenen da» Umherschwimmen gestattet und bei der Ebbe, wo es nahezu trocken gelegt wird, ihnen auch Gelegenheit zum Ausruhen gewährt. Da di« Thiere hier voraussichtlich längere Zeit gehalten werben müssen, so werden sie gefüttert, und zwar mit ein« Art Seepflanze, dem „lurtls «r«»»" (die Botaniker nennen es Tttalassi« terckuckiilum) und, je nach eintretendem Bedarf, entweder in Kingston selbst zum Verkauf gebracht oder nach London exportirt. Die für London bestimmten Schildkröten werden auf den Schiffen in einem mit Seewasser so weit an gefüllten Raume gehalten, daß sic bequem darin untertauchen können, ohne doch gezwungen zu sein, zu schwimmen, und werden auf der Reise mit Hafermehl und Salat oder sonstigem zarten Blattgemüse gefüttert. Sind sie des Herumplätscherns müde, so können sie sich auf einem trockenen Strohlager in der Nähe deS Bassins bequem ausruhen. Dennoch stirbt fast die Hälfte der Ladung auf der See fahrt, und von den Ueberlobenden verenden fast die Hälfte wieder auf der Eisenbahnfahrt von Southampton nach London, so daß von einer Schiffsladung von 120 Stück noch keine 40 lebend auf den Markt kommen. In der Union werden zwei Arten von Schildkröten gegessen, nämlich der große sogenannte „^Uixator tsrrapin" oder „simppinx turtle" (die Zoologen nennen sie „Ökel^ckra nor- pontina") und die kleinere grüne und schmackhaftere Suppen schildkröte (Otioloni» mickkuJ. Von diesen erreicht die erstere eine oft staunenswerthe Größe und ist „im Umgänge" sehr ge fährlich und hinterlistig, während die letzter« fast ganz gefahrlos zu behandeln ist. Die erstere kommt bis zum Gewicht von 300 Pfund und darüber auf den Markt. Ein Riesenexemplar von 6 Centnern Gewicht wurde von einem Menagericbesitzer er standen, der daS Monstrum eine Zeit lang für Geld sehen lieh, bis es dann auch den Weg alle» Schildkrötenfleisches, d. h. in den Suppentopf, ging. Die in New Dort gegessenen Thiere kommen von Key West, von der Küste Floridas. Womöglich noch origineller als der Fang der Schildkröte auf Jamaica ist die Art und Weise, wie man die Schildkröten hier «infängt. Di« Schildkröte ist nämlich eine anerkannt fleißige Eierlegerin, und da sie sie nicht selber bebrüten kann, so petitionirt sie bei der Sonne, welche ihr auch huldvollst ihre Unterstützung zusagt und das Brütegeschäft mit größter Selbstlosigkeit und Akkuratesse besorgt. Die einzige Mühe, die die Schildkröte Hat, und welche die Sonne ihr leider nicht abnehmen kann, ist die, die Eier nicht nur an passender Stelle abzuschen, sondern auch so zu verbergen, daß der nach Tchildkröteneiern leckere Mensch ihr nicht „ihre schönsten Hoff nungen" vernichtet. Zu dem Zwecke scheint ihr der lockere Sand boden der Küste von Florida wie geschaffen. „Wenn ihre Stunde gekommen ist",begiebt sie sich ans Land, kriecht „auf allen Vieren", um nicht aufzufallen, eine kleine Strecke weit land einwärts, macht an einer sonnig gelegenen Stelle ein entsprechend großes Loch im Sande, legt ihre Eier behutsam hinein und scharrt die Oeffnung so sorgsam zu, daß es für den Eiersucher äußerst schwer ist, dieselben, falls er das Thier nicht gerade „in klu»rrllnti", d. h. beim Eierlegen ertappt, aufzufinden. Hat sie ihre „Schuldigkeit gethan", so wendet sie und „geht" und zwar ziemlich schnell wieder dem Meere zu. Diesen Augen blick aber dürfen die amerikanischen „turils astcder" nicht un benutzt verstreichen lassen. Schnell wie der Blitz müssen sie aus ihrem Hinterhalt hervorspringen und die Thiere auf den Rücken legen. Ich sagte, schnell wie der Blitz, und mit Recht, denn ist der „Catcher" nicht hurtig genug und zeigt er sich der Schildkröte zu früh, so daß diese ihn kommen sieht, so eilt sie, so schnell sie kann, davon, wobei sie ihrem Verfolger dann eine solche Menge Sand in di« Augen streut, daß derselbe, völlig geblendet, von der Verfolgung absehen und sie entkommen lassen muß. Ist die Schildkröte aber erst umgedreht, so ist sie nicht im Stande, sich vom Fleck zu rühren. Alle» Zappeln hilft ihr nichts und sie ist hilflos ihren Peinigern prei«gegeben. Diese strecken dem wüthend um sich beißenden Thiere einen
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite