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Die Morgen-A««gabe erscheint nm '/,? Uhr, dir Abend-Ausgabe Wochentags um b Uhr. Ne-action »nd Lrve-itionr JohanneSgaffe 8. Lk Expedition ist Wochentag» ununterbrocheK geöffnet von früh 8 bi« Abend» 7 Uhr, Filialen: ttt» Klemm'» Lortim. (Alfrel HahnX» UniversitätSstraße 3 (Paulinum), Loni» Lösche, Katbarinenftr. pari. und Lönigsplatz 7. BezugS-PreiS HP her tzauptexpedition oder den i« StaK. bezirk und den Vororten errichteten Aus gabestellen abgebolt: vierteliührlich.44.b0, »ri zweimaliger täglicher Zustellung in» Laus 5.bO. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: viertrstährlich S.—. Directe täglich« Kreuzbandirndung in» Ausland: monatlich 7.bO. 183. Morgen-Ausgabe. MpMcrIaMatt Anzeiger. Amtsblatt -es Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Mathes «nd Nalizei-Nmtes der Ltadt Leipzig. Mittwoch den 1?j April 1898. AnzcigenPreiS bie -gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamen unter dem Redactionsstrich l4gw spalten) LO^j, vor den Familirnnachrichtrn (S gespalten) 40^. Gröbere Schriften laut unserem Preis, verzeichnitz. Tabellarischer und Ztffrrnsatz nach höherem Tarif. Extra-veilagen (gefalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbefördrrung 60.—, mit Pvstbesörderung 70—. Annahmeschluß Anzeigen: Ab end-Ausgabe: Vormittag» 10 Uhr- Morge n-AuSgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Lei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anreige« sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von L. Polz in Leipzig. 92. Jahrgang. Die Arbeitslosigkeit im Deutschen Reiche. i. Dr. A. Wenn auch im letzten Winter die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht den Umfang angenommen hat, wie in früheren Jahren, so ist ihre Bedeutung kür das Gemeinwesen darum nicht beseitigt. Die durch beschäftigungslose Arbeiter in Italien hervorgerufenen Unruhen haben es uns auch in diesem Jahre nahe gelegt, der Arbeitslosenfrage unsere Auf merksamkeit zu erhalten. Die Arbeitslosigkeit ist für den davon Getroffenen ein Uebel, das ihn wirthschaftlich durch die Lahmlegung seiner Arbeitskraft und Verminderung seiner Einnahmen, social durch den Verlust der Stellung und sittlich durch Ent ziehung des in der Arbeit ruhenden moralischen Halts herab drückt. Jndcß nicht jede Art von Arbeitslosigkeit zeitigt jene nachtheiligen Folgen. Es giebt Personen, die zwar aus irgend einem Grunde nicht arbeiten, aber noch in einem Arbeits- und Dienstverhältnitz stehen: So der Commis, der krankheitshalber dem Geschäft mehrere Tage fernbleiben muß; das Dienstmädchen, das von seiner Herrschaft für einige Zeit Urlaub erhalten hat. Diese Personen sind zwar arbeitslos, haben aber noch eine Stellung (Beschäftigung). Sie sind von den übrigen Arbeits losen, die Arbeit und Stellung verloren haben und im Gegensatz zu jenen Arbeitnehmern als Beschäftigungslose bezeichnet werden, zu scheiden. Eine weitere besondere Gruppe bilden die Arbeitslosen, die freiwillig ihr Arbeits- oder Dienstverhältnitz gelöst haben, um in anderer Weise thätig zu werden. Der Eine von ihnen hofft eine günstigere Arbeitsgelegenheit zu finden, der Andere wünscht sich durch Begründung eines eigenen Geschäfts selbstständig zu machen, wieder ein Anderer will als Handwerksbursche die Welt durchwandern, um Kenntnisse zu suchen. Dazu gehört Zeit, um passende Gelegenheiten auszukundschaften. Alle diese Per sonen sind zwar außer Arbeit, aber durchaus nicht unthätig im eigentlichen Sinne. Ihre Handlungsweise ist wirthschaftlich rationell, denn die Früchte ihrer gegenwärtigen Bemühungen sollen ihnen in späteren Zeiten reifen. Zu den Arbeitslosen im engeren Sinne gehören ferner nicht die Vagabunden und Arbeitsscheuen. Menschen, die nicht arbeiten wollen, auch wenn sie Gelegenheit finden, die bettelnd und land streichend das Reich durchziehen, hier und da einmal vorüber gehend eine Beschäftigung aufnehmen, im Allgemeinen aber ein unproduktives Element der Bevölkerung darstellen, das von den übrigen Erwerbsthätigen ernährt werden muß. Diesen wirth- schaftlich und sittlich meist tief gesunkenen Individuen kann mit socialpolitischen Maßnahmen nicht geholfen werden, weil ihnen Arbeit und Ordnung zuwider ist; sie gehören in das Sanatorium des Arbeitshauses. Anders verhält es sich mit der unfreiwilligen, auf gezwungenen Arbeitslosigkeit. Sie nimmt unsere An- theilnahme für sich in Anspruch und läßt ein Ein greifen der Staatsgewalt gerechtfertigt erscheinen. Die Schrecken der Arbeitslosigkeit sind für den Arbeitnehmer am furchtbarsten, wenn sie unerwartet eintritt. Sie trifft den älteren Mann empfindlicher als den jüngeren, und ist den Per sonen, welche für Weib und Kind oder sonstige Angehörige zu sorgen haben, fühlbarer als den alleinstehenden Arbeitnehmern. Nur den Arbeitgebern bringt die Arbeitslosigkeit unter Umständen wirthschaftlich« Vortheile. In Folge der stärkeren Nachfrage nach Arbeit und deS dadurch bedingten Lohndrucks tritt eine Verbilligung der Arbeitskräfte und damit der Produktionskosten ein. Dieser Vortheil wird aber wieder ausgewogen durch die Gefahren, die eine übermäßige Herabsetzung der Arbeitslöhne mit sich bringt, welche die Arbeitnehmer in eine wirthschaftlich unhaltbare Lage, in die Streiks und in das Lager der Opposition drängt. Die durch die Arbeitslosigkeit erwachsenden wirthschaftlichen, socialen und politischen Mißstände legen es dem Staate, der die sociale Reform auf sein Banner geschrieben hat, nahe, auch die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu seiner Aufgabe zu machen. Ihre Lösung ist nicht einfach. Das beweisen schon die bisherigen Ausführungen, aus denen sich die praktischen Schwierigkeiten für die nothwendige Scheidung der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit von der freiwilligen ohne Weiteres erkennen lassen. Bekanntlich ist die Arbeitslosigkeit im Winter am stärksten, weil eine große Zahl von Betrieben (Baugewerbe, Schifffahrt, Landwirtschaft u. s. w.) in jener Zeit ruhen. Da dies aber eine regelmäßige Erscheinung ist, so trifft die Arbeitslosigkeit die Arbeitnehmer in jenen Berufsarten weit weniger als in den Erwerbszweigen, welche während des ganzen Jahres eine Arbeits- und Ein kommensquelle erschließen. In den einen Theil des Jahres ruhenden Betrieben pflegen auch die Löhne so hoch bemessen zu sein, daß sie den sorgsamen Arbeiter bei einiger Sparsamkeit über die arbeitslose Zeit hinweghelfen können. Besondere Be achtung verdient schließlich die unfreiwillige Arbeitslosigkeit, welche wegen Krankheit eintritt. In einer großen Anzahl von Fällen genießen die davon Betroffenen bereits die Wohlthaten der socialen Kranken- und Unfall-Gesetzgebung. Personen, die weder der Kranken- noch der Unfallversicherung unterliegen, werden dagegen von dieser Art der Arbeitslosigkeit besonders hart berührt, weil sie neben dem körperlichen Leiden in der Regel auch den Verlust der Einkommensquelle zu beklagen haben. Maß nahmen gegen die Arbeitslosigkeit, die gerecht und gleichmäßig wirken sollen, müssen alle derartigen Verhältnisse berücksichtigen. Von einer gänzlichen Beseitigung der Arbeitslosigkeit kann leider nicht die Rede sein. Jede Volkswirthschaft bedarf einer genügend starken Reservearmee von Arbeitnehmern, die im Be darfsfälle sofort herangezogen werden kann. Wollte man diese notwendigen, flüssigen Arbeitskräfte der Volkswirthschaft ent ziehen, so würde ein Theil der Arbeit liegen bleiben müssen oder nur mit unverhältnißmäßigen Kosten erledigt werden können; auf der Seite der Arbeitnehmer aber würde jedes Streben nach Arbeitsgelegenheit und möglichster Bethätigung der Kräfte, wie es nur der Concurrenzkampf hervorbringt, unter bunden sein. Auch die Frage, welche Maßregeln gegen die Arbeitslosigkeit zu ergreifen seien, ist eine schwierige und keineswegs unbe strittene. Von der einen Seite wird die Ausgestaltung einer einheitlichen Arbeitsvermittelung für große Wirthschaftsgebiete gefordert, in die womöglich alle Staaten durch internationale Vereinbarungen einzubeziehen sind. Andere glauben durch eine allgemeine, gleichmäßigere Vertheilung der Arbeitsgelegenheit, durch Einführung eines Normalarbeitstages dem Uebel zu steuern. Eine dritte Gruppe will die Arbeitnehmer während der erwerbsthätigen Zeit einem Sparzwange unterwerfen, durch den die Ansammlung eines Guthabens ermöglicht wird, auf das während der Arbeitslosigkeit zurllckgegriffen werden kann. Eine weitere Theorie will das Recht auf Arbeit anerkannt wissen und der Arbeitslosigkeit durch Inangriffnahme von Nothstands- arbeiten in den einzelnen Gemeinden abhelfen. Endlich verlangt man vom Staate die Einführung einer Arbeitslosenversicherung. Für welchen Vorschlag man sich auch entscheiden mag, die Grundlage aller dieser Maßnahmen ist eine genaue Kenntniß der Zahl und der Verhältnisse der Arbeitslosen, wie sie auf Grund einer zuverlässigen Statistik der Arbeitslosen gewonnen werden kann. Eine solche Statistik besitzen wir in Deutschland leider noch nicht. Auch andere Culturstaaten haben auf diesem Gebiete noch nichts oder nur sehr wenig geleistet. Der Versuch einer zifscrmäßigen Erforschung des Umfangs der Arbeitslosigkeit wurde allerdings in Deutschland zuerst bei Gelegenheit der all gemeinen Berufs- und Gewerbezählung am 14. Juni 1895 ge macht und unter Anwendung der gleichen Erhebungsmethode bei der am 2. December 1895 vorgenommenen Volkszählung wiederholt. Beide Erhebungen erstreckten sich auf die männlichen und weiblichen Arbeitnehmer (d. h. Arbeiter, Tagelöhner, Gesellen, Gehilfen, Dienstboten) sowie Hausindustrielle und Heimarbeiter, ferner auf Angestellte aller Art mit Ausschluß von angestellten Beamten des bürgerlichen, kirchlichen, militairischen u. s. w. Dienstes, sowie von Personen, die aus Reichs-, Staats- oder Communalcassen Pension beziehen, und von Empfängern einer Invaliden- oder Unfallrente, sofern letztere wegen dauernder Er werbsunfähigkeit gewährt wird, ferner mit Ausschluß von Ehe frauen oder Haushaltungsangehörigen, die nicht hauptberuflich, sondern nur nebenberuflich thätig waren. An jene Personen wurden folgende Fragen gerichtet: a. Ob gegenwärtig in Arbeit (Stellung)? Mit ja oder nein zu beantworten. b. Wenn nein, seit wie viel Tagen außer Arbeit (Stellung)? o. Ob außer Arbeit (Stellung) wegen vorübergehender Arbeitsunfähigkeit? Mit ja oder nein zu beant worten. Man sieht, daß mit diesen Fragen nur hat ermittelt werden können, wer am Zähltage arbeitslos gewesen ist und seit wie viel Tagen dieser Zustand gewährt hat, nicht aber, wer im Jahre überhaupt arbeitslos gewesen ist und wie lange die Arbeits losigkeit bei ihm gedauert Hai. Mit anderen Worten: Als Er- gebniß ist eine Augenblicksaufnahme der Arbeitslosigkeit beab sichtigt gewesen, die besondere Bedeutung dadurch erhält, daß sie einmal im Sommer und einmal im Winter desselben Jahres erfolgt ist, also zu Zeiten flotten und flauen Geschäftsganges. Von den verschiedenen Gründen der Arbeitslosigkeit ist nur einer bei der Erhebung erfragt, nämlich die vorübergehende Ar beitsunfähigkeit, d. h. Krankheit von begrenzter Dauer. Das gewonnene Material ist in dem amtlichen Quellenwerke des kaiserlichen Statistischen Amtes, in der „Statistik des deutschen Reichs", Neue Folge, Bd. 102, S. 262 ff., sowie mit einer sehr gründlichen Erörterung in den gleichfalls vom kaiser lichen Statistischen Amt herausgegebenen „Vierteljahrsheften zur Statistik des deutschen Reichs" (Jahrgang 1896, Ergänzung zum vierten Heft) veröffentlicht worden. Ohne begründeten Widerspruch fürchten zu müssen, kann behauptet werden, daß der Versuch gescheitert ist und gelehrt hat, daß eine allgemeine Volks zählung (und etwas Anderes ist ja auch die Berufszählung nicht) zu einer Erhebung über den Umfang der Arbeitslosigkeit Feuilleton. Am -ie Erde. Reisrbriese von Paul Lindenberg. Nachdruck «erboten. Das europäische und chinesische Shanghai. — Straßenleben. — Am Bund. — Shanghais Handelsbedeutung. — DasDeutschthum. — Was ein st Shanghai war und was es jetzt ist. — Die Stadtverwaltung. — Allerhand Erwar tungen. — Der Kaiser von China und die Post. — Chinas Kaufmarkt. Shanghai, 18. Februar. Europa in China — dies dürfte das bezeichnendste Schlag wort für Shanghai sein. Wenn man den „Bund" hinunter schlendert, diese breite und lange Quaistraße, die sich in einer Ausdehnung von über tausend Metern am Whangpoo-Flusse hinzieht und deren stattliche Handels- Bank- und Consulats- Gebäude sowie villenartige Wohnhäuser nach durchaus euro päischem Muster gebaut, sind, wenn man in eine der Nebenstraßen einbiegt und in deren ersten Theilen auf zwei- und dreistöckige Wohnhäuser mit vielen englischen Inschriften und Firmen trifft, wenn man die hochgewachsenen englischen Polizisten in ihren dunklen Uniformen bemerkt und in den mit flinken PonieS bespannten Equipagen blondlockige Damen und hübsche zarte Kinder an sich vorüberrollen sieht, wenn plötzlich das bekannte Helle Klingeln ertönt, und wir flugs einem Trupp flotter Radlerinnen und Radler ausweichen müssen und dort einig« wettergebräunte Hrrren auf schaumbedeckten Pferden von der Jagd zurückkehren, so könnte man sich, falls man für gewisse Dinge die Augen schließt, völlig nach irgend einer Stadt Old- EnglandS versetzt glauben. Aber diese „gewissen Dinge" sorgen eben dafür, daß man doch häufig recht lebhaft an China erinnert wird, auch hier in den europäischen Settlements, wie die englische Bezeichnung für „Niederlassung" lautet. Kaum treten wir auf die Straße hinau», so stürzt eine Schaar von Ricksha-Männern, deren Shanghai einige Tausend beherbergt, mit ihren kleinen Wägelchen auf un» zu und Einer überschreit den Anderen, um uns an zulocken; die Leute sind erbärmlich gekleidet, auf dem unteren Rücken tragen sie die Nummer ihre» Wagens in arabischen und chinesischen Zifsern, den Zopf verwenden sie oft höchst praktisch, in dem sie mit demselben ihre schäbige Mütze festbinden. Werden diese Ricksha» außer von den Europäern auch von wohlhabenderen Chinesen benutzt, so bedienen sich die weniger bemittelten Zopf träger und noH mehr ihre Frauen und Töchter der Schiebkarren, wohl deS originellsten Beförderungsmittels der Erde: ein fast nur von Lumpen umhüllter Chinese stößt den schweren Karren vor sich her, neben dem in der Mitte befindlichen, ziemlich großen Rade sind zwei Sitzbrrtter angebracht, aus denen oft vier, fünf Männlein bezüglich Wriblrin sitzen oder auch einzeln hocken mit schweren Lasten, so daß man am liebsten die Betreffenden wegen Menschenquälerei sogleich verhaften ließe, denn nur schritt weise und keuchend kommt der Schiebkorrrnmann vorwärt», während dicke Schweißtropfen von seiner Stirn perlen. Jene uns begegnenden Chinesen in ihren schön verzierten geschlossenen Sänften haben ein bessere» irdische» Loo» ge zogen; über ihren Pelzen tragen sie reiche Seidrngewandungen, und selbst ihre Sänftenträger sind in Helle Seid« geNeidet; höchst würdevoll schreiten ander« Chinesen zu Fuß einher, ihre langen seidenen Röcke sind stark wattirt, die Ohren find durch herz förmige Ohrenklappen geschützt, den Kopf und Nacken bedeckt ein von der als Kopsbedeckung dienenden Kappe herabfallendes, baschlickartiges buntes Tuch. In geschlossenen Wagen fahren chinesische Ladies an uns vorüber, durch die breiten Scheiben kann man die kostbaren Gewänder und blitzenden Schmucksachen bewundern, ebenso reich sind schon die Kleinen angeputzt, die mit höchst ehrpusseligen Mienen auf dem Polster sitzen. Die bezopften Kutscher und Diener dieser Equipagen sind mit großen, faltenreichen Radmänteln versehen, ganz nach russischem Muster, und hinten auf dem Wagen steht noch ein Page in bunter Tracht, der über dem einen Arm die wollenen Pferdedecken trägt, die den scharf ausgreifenden Thieren bei einem Halt als Schutz gegen die kalte Witterung dienen. Erstaunt ruhen unsere Augen plötzlich auf zwei Chinesen, deren lange Zöpfe lustig im Winde baumeln; wie aber stimmen die Hellen Augen und blonden Bärte zu der Tracht und den Zöpfen? — Europäische Missionare sind es, welche hoffen, in der Anpassung von chinesischen Sitten größere Erfolge in ihrem Belehrungswerk zu erzielen. Das regste Leben und Treiben herrscht auf dem „Bund" selbst, der an seinem einen Ende auch den kleinen, sorgsam gepflegten Stadtgarten aufweist. Zahllose Schiffe kommen den breiten Strom herauf und herunter, und von früh bis spät wird ein- und ausgeladen; schreiend und sich gegenseitig antreibend, schleppen Hunderte von Kulis schwere Lasten herbei, und kreischend arbeiten die Dampfwinden der mächtigen Schiffe, die direct am Quai anlegen können. Im vorletzten Jahre bezifferte sich die Ein- und Ausfuhr Shanghais auf die Kleinigkeit von nur 760 Millionen Mark, und mehr als die Hälfte des ganzen Außenhandels Chinas sällt auf diesen Handelsreichen Platz. Unser deutsches Vaterland nimmt auch hier eine Achtung ge bietende Stellung ein; mehrere der hiesigen Weltfirmen weisen deutsche Namen auf, und 470 Dampfer ließen 1896 die deutsche Flagge im Hafen wehen, d. h. auch hier kommt Deutschland mit seinem Schiffsverkehr sofort hinter England. Unter den hier ansässigen 8000 Ausländern finden wir 400 Deutsche und Oesterreicher, die ihren behaglichen geselligen Mittelpunkt im deutschen Club haben, der auch hier als echte und rechte Ver tretung deS DeutschthumS bezeichnet werden darf und allen nur vorübergehend anwesenden Landsleuten die liebenswürdigste Gastfreundschaft bietet. Und was war die» Shanghai noch vor fünfzig Jahren! Neben der schmutzigen, durch Mauern und Graben abgeschlossenen Chinesenstadt eine kleine europäische Ansiedelung mit einigen Dutzend Bewohnern. Sechs Jahre vorher, im sogenannten Opiumkriege, am 19. Juni 1842, hatte der englische General Hugh Goud Shanghai nach kurzem Widerstand genommen, und em Jahr später war der Hasen al» „offen", d. h. dem europäischen Handel zugängig, erklärt worden. Gleichzeitig hatte die chine sische Regierung den Engländern ein unterhalb der chinesischen Stadt gelegene» „Settlement" angewiesen, unter der Bedingung, ihr für jedes zu bebauende Stück Land eine gewisse Entschädigung — mehr eine Trundstücksteuer — zu bezahlen, die ungemein niedrig war und — da der Vertrag für alle Zeiten abgeschlossen wurde — noch ist, etwa 18 <-/!( für einen Acre, Dem englischen Settlement schloß sich allmählich rin amerikanisches und ein französische» an, bei dem amerikanischen ist das deutsche be- theiligt. Heute umfaßt die gesammte europäische Niederlassung einen Flächrnraum, dessen bebauten Landwrrth man auf nahe 100, den Waarenwerth aber auf 120 Millionen Mark schätzt. Die im Laufe der Jahrzehnte wiederholt auch Shanghai berührenden mancherlei inneren kriegerischen Kämpfe ließen immer mehr Chinesen sich im europäischen Settlement, da» sein eigenes, tüchtige» Freiwilltgencorp» gebildet hatte, anfiedeln, da sie sich dort sicherer und von den eigenen Machthabern weniger bedrückt fühlten, als in der chinesischen Stadt. Mit jedem Jahre wuchs die Zahl dieser eingeborenen Ansiedler, die erheblich den Verkehr belebten und einen bedeutenden Absatzmarkt für europäische Maaren bildeten, und ihre Zahl beläuft sich heute auf 293 000 Köpfe, während die eigentliche Chinesenstadt nur 120 000 Einwohner birgt. Das englisch und deutsch-amerika nische Settlement bilden zusammen eine eigene Verwaltung, welche sich musterhaft bewährt hat; der Stadtrath besteht aus neun Mitgliedern, die jährlich von den eine bestimmte Steuer entrichtenden Europäern — ausgenommen die Franzosen, die eine eigene Verwaltung besitzen — gewählt werden. Diesen Europäern wird am Anfang jedes Jahres Bericht erstattet, bei besonders wichtigen Anlässen können sie zu gemeinsamen Be- rathungen berufen werden. Der Stadtrath hat durchaus die Pflichten wie jede deutsche Stadtverwaltung, er muß Straßen, Brücken, Parkanlagen in Ordnung halten, muß für Beleuchtung, für eine Polizeitruppe, das Feuerlöschwesen rc. Sorge tragen, und ihm standen hierzu im vorletzten Jahre an zwei Millionen Mark zur Verfügung, welcher Betrag noch um etwas überschritten wurde; kostete doch allein die Polizeitruppe (50 Europäer, 80 Indier und 400 Chi nesen, zu denen noch 40 Europäer und 70 Chinesen der Fran zösischen Colonie kommen) an 350 000 <^<, die Instandhaltung der Wege rc. an 750 000 Wie erwähnt, sondert sich das französische Settlement gänzlich ab; die Ausgaben seiner Ver waltung beliefen sich 1896 auf 480 000 Die Franzosen haben auch ihre besondere Gerichtsbarkeit, während die übrigen Nationen den „Gemischten Gerichtshof" besitzen, in welchem dem chinesischen Richter ein Europäer zugefügt ist; es gelten hier chinesische Gesetze, verboten ist jedoch die Tortur; der Gerichts hof nimmt auch Klagen von Europäern gegen Chinesen an, die Klagen der letzteren gegen erstere werden vor den betreffenden Consulatsgerichtshöfen, bei denen Vertreter der chinesischen Re gierung anwesend sein dürfen, ausgetragen. Die einzelnen größeren fremden Nationen, wie die englische, die deutsche, fran zösische, russische, nordamerikanische, japanische, haben ihre eigenen Postämter; müssen wir eS noch besonders hervorbeben, daß das deutsche das am wenigsten repräsentabele ist, so stattlich auch das Gebäude unseres Generalkonsulates, in dessen einem Eckchen die Post untergebracht ist, ausschaut. Aber schließlich ist das ja nur eine Kleinigkeit, wenngleich sie häufiges Kopfschütteln erregt; die Hauptsache ist, daß sich daS deutsche Element in stetem Wachsthum und in jährlich mehrendem An sehn hier befindet, daß der deutsche Handel erheblich zunimmt und daß sich unser deutscher Generalkonsul vr. Stübel wie der Diceconsul I)r. Zimmermann nicht nur in den deutschen, sondern auch in den ausländischen Kreisen aufrichtiger Beliebtheit er freuen; sagten mir doch Angehörige anderer Staaten: „Wir wären froh, wenn wir so tüchtige Vertreter hätten." Die Entwickelung Shanghais aus den kleinsten und un scheinbarsten Anfängen unter Ueberwindung hartnäckiger Schwierigkeiten zeigt, was bei eifriger Zusammenarbeit der verschiedenen Völker aus einem günstig gelegenen chinesischen Platze zu machen ist. Diese kaum ein halbe» Jahrhundert um fassende Geschichte de» europäischen Shanghais enthält eine Fülle guter Lehren für die Zukunft Kiaotschaus, das ja gleich falls dem kaufmännischen und industriellen Wettbewerbe aller Völker geöffnet werden soll. Die Lage deS Stückchens „Deutsch- China" ist so vortrefflich, daß der Ort mit seiner Umgebung einer großen Bliithe rntgegengehen und für den Ein- wie Aus fuhrhandel eine schnell wachsende Bedeutung erhalten wird. Hot ei mit der von mancher Seite vorausgesagten „Auf- theilung Chinas" auch noch gute Wege, so dürfte wahrscheinlich die wirthschaftliche Erschließung des Riesenreichcs in dem nächsten Jahrzehnt größere Fortschritte machen wie in dem ganzen nun bald abgelaufcnen Jahrhundert. Wie ich von best unterrichteter, zuverlässiger Seite vernahm, tagt es nun doch allmählich auch in den Regierungskreisen Pekings, daß es mit dem bisherigen Abwarte- und Verzögerungssystem und der krampfhaften Abgeschlossenheit vieler volkreicher Provinzen nicht mehr weitergeht; die Folgen des japanischen Krieges, die ent schlossene Besitzergreifung Kiaotschaus, nicht zuletzt auch der gute Ertrag der ersten Eisenbahnstrecke in China (von Tientsin nach Peking) sollen einiges aufklärendes Licht selbst in die härtesten Mandarinenköpfe gebracht haben, und besonders dem Kaiser von China sagt man nach, daß er sympathisch den ver schiedenen europäischen Einführungen gcgenüberstehe. Als vor mehreren Monaten sich die Kaufmannschaft von Canton direct an den Kaiser wandte mit der Bitte, den schlimmen Uebelständen der „Kaiserlich chinesischen Post" in Canton doch abzuhelfen, da forderte der Herrscher sofort den Vicekönig Tang, einen alten Mummelgreis, dessen letze Stunde seiner Vicekönigsschaft dem nächst geschlagen hat, zur Berichterstattung auf. Tang ant wortete, daß er die (erst kürzlich in den Hauptstädten Chinas eingeführte) Post als ein Hineinpfuschen in den Willen der Götter ansehen müsse, daß es früher auch ganz gut mit dem brieflichen Verkehr gegangen sei und er keinen Nutzen in der neuen Einrichtung erblicken könne; der Kaiser kümmerte sich um den thörichten Bericht nicht, beauftragte Sir Robert Hart, den Generalinspector des gesammten Zollwesens, mit Abschaffung der Uebelstände — und als ich vor wenigen Wochen die Post in Canton besuchte, da hatte in derselben ein Engländer die Ober aufsicht in Händen und belehrte zwei chinesische Postbeamte in dem Verkehr mit dem Publicum und in der Ausgabe der Post werthzeichen; mehrere an meine eigene Hoteladresse aufgegebene Briefschaften waren nach einer Stunde in meinem Besitz. Nach dem oben hervorgehobenen guten materiellen Erfolge der Bahn von Tientsin nach Peking dürften auch die Arbeiten an der schon in Angriff genommenen Linie von Peking nach Hangkan, am mittleren Äangtse - Kiang, energisches Fortschreiten und schließlich diese Bahn ihre Verlängerung von Hankan bis Canton finden. Wo jedoch erst das Dampfroß hindringt, da folgen auch Handel und Wandel mit europäischen Maaren, und das uralte Wort „China für die Chinesen" wird dann schnell zu Schanden gemacht werden. Welch einen mächtigen Kaufmarkt aber China bildet, erfuhr ich in Wutschau, das ich mittels zweitägiger Dampferfahrt von Canton aus auf dem Si-Kiang (Westfluß) erreichte. Der Ort ist erst im Sommer des abgelaufenen Jahres „eröffnet" worden, nur kleine Dampfer verkehren zweimal in der Woche zwischen ihm und Canton, und der Handel hat noch nicht die richtigen Wege dorthin gefunden, zudem zählt die Stadt nur 50 000 Bewohner, und das Gefallen an europäischen Artikeln ist noch im ersten Entstehen, aber in den unsagbar engen und schmutzigen Gassen, in denen man noch al» richtiges Wunderthier angegafft wurde, fand ich unter den offenen Kaufmannsauslagen schon Berliner Petroleumlampen, englische Taschenuhren, eine Reihe Flaschen Odol, deutsche Margarine in Blechbüchsen und amerikanische vernickelte Bestecks! Blo» drei Europäer waren hier ansässig und wohnten auf Hausbooten im Fluß, zwei in der Zollverwaltung beschäftigte Engländer und ein als Hafen meister angestellter, aus Hamburg stammender Deutscher; der sich kürzlich ein allerliebste» junges Weibchen au» England mit gebracht hatte. Kurz nach der „Eröffnung" Wutschau», im Juli, betrugen dir Zolletnnahmrn 48 000 -4k, im September bereit« 240 000 Die» Eine läßt einen Schluß auf da- übrige China zu, wenn erst überallhin europäischer Handel hindringen kann!