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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,7 Uhr, die Abend-Ausgabe Wochentags um 5 Uhr. Filialen: Ltto Klemm s Sortim. lAlfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), Louis Lösche, Latharineustr. 14, pari, und Königsplatz 7. Re-artion und Expedition: JohauneSgasie 8. Die Expedition ist Wochentags ununterbrochen geöffnet vou früh 8 bis Abends 7 Uhr. BezttgS-PreiS tu der Hanptexprdition oder den Im Stadt bezirk und den Bororten errichteten Aus gabestellen abgeholt: vierteljährlich.^l4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Haus 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Tirccte tägliche Kreuzbandiendung ms Ausland: monatlich 7.50. Abend-Ausgabe. KipMer Tagtblall Anzeiger. AmtsAatt des königlichen Land- «nd Ämtsgerichtes Leipzig, des Ralhes «nd Nolizei-Ämtes der Ltadt Leipzig. Sonnabend den 9. Juli 1898. AnzelgeN'PreiS die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. Reclamen unter demRedactionSstrich (4ge- spalten) 50^, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40^. Größere Schriften laut unserem Preis« verzeichniß. Tabellarischer und Zissernsatz nach höherem Tarif. Extra-Beilage» (gefalzt), nur mit der Morgen - Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesürderung 70.—. Ilnnahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig. 92. Jahrgang. Der spanisch-amerikanische Krieg. Wir machten gestern zu einer amerikanischen Depesche, in welcher von einem in dem Berichte Dewey's „nicht er wähnten Zwischenfall mit Deutschland" die Rede war, die Bemerkung, daß man es hier wieder einmal mit einer gewohnheitsmäßigen amerikanischen ZeitungSverdäch- ligung Deutschlands zu thun habe. In der Tbat sind diese Verdächtigungen bisher mehr als übergenug aufgetreten und beinahe jedes panamerikanische Blatt und Blättchen hatte irgend eine Notiz auf Lager, durch die eS Deutschland etwas am Zeuge flicken oder es irgendwie verdächtigen, ihm eine unehrliche Handlungsweise andichten wollte. DaS sind die Blättermeldungen, von denen White in seiner Rede ge sprochen hat, die nach seiner Meinung nichts zu besagen haben, die aber das amerikanische Lolk systematisch zur Verhetzung zu treiben geeignet sind. Die ernsthafte, anständige Presse hat lange dazu geschwiegen, bis endlich die „New Dorker Staats-Zeitung" vor einiger Zeit den Muth fand, dwse lügenhafte Preßmache anzunageln und „es", wie sic sich ausdrückte, „eigentlich etwas monoton zu finden, so alle drei Tage allerhand Räubergeschichten zu dementiren, welche in die Welt gesetzt werden, um die Beziehungen der Bereinigten Staaten zu europäischen Ländern, vornehmlich Deutschland, zu trüben." Wenn das angesehene Blatt meint, daß die Lügengewebe von London ausgehen, so mag cs ja zum Theil Recht haben, jedenfalls waren die journa listischen Erfindungen für die amerikanische Presse ein ge fundenes Fressen. Daß die amtlichen Stellen in Washington nicht mit diesen Lügen identisizirt werden dürfen, ist selbst verständlich. Vom Kriege liegt nichts Neues vor. Nach wie vor wird officiöS ans Madrid versichert, daß die Minister nicht an Frieden denken, olwvhl schon recht ernste Vorfälle aus Spanien ge meldet werden. So protestieren in der Ortschaft San Martin Frauen gegen die Verabreichung von Lebensmitteln als Almosen, weil sie dieselbe für erniedigend hielten; sie ver anstalteten Kundgebungen und verursachten einige Beschä digungen. Schließlich stellten Polizei und Gendarmerie die Ordnung wieder her. Dies sind so kleine Vorfälle, aber sie sind symptomatisch für die Stimmung der spanischen Bevölkerung. Auch in Amerika denkt man nicht an Frieden, wenigstens versichert der amerikanische Bundessccretair, daß ihm keine Eröffnungen zngegangen seien. So bleibt denn also vor läufig noch Alles in der Schwebe. Es scheint in der Thal, als ob auch Amerika ziemlich geschwächt sei und als ob es Sorge habe, sich im Kampfe noch weiter zu engagiren. Die Beschießung Santiagos hat noch nicht begonnen, und wenn auch der Termin auf heute (Sonn abend) Mittag festgesetzt war, so unterliegt die Ver wirklichung immer noch berechtigtem Zweifel. Man will sich auch in Amerika nicht ganz ausgeben und hegt Mißtrauen gegen die zur Vertheidigung der Stadt aufgestellten starken Schiffsgeschütze, die Cervera in die Befestigungen schaffen ließ. So bat Präsident Mac Kinley selbst die Aufmerksam keit des Cabinets darauf gelenkt, daß Amerika sich in einer äußerst gefährlichen Lage den anderen Mächten gegenüber befinden würde, wenn es seine Flotte verlieren sollte. Das vor Santiago befindliche Geschwader wird daher nicht in den Hafen eindringen, um bei dem Angriffe auf Santiago mitzuwirken, ehe nicht die Forts am Hafen- cingange zerstört sind. Wenn das übrigens die Ansicht Mac Kinley's ist, so müßte cs noch gute Weile haben, bis Watson's Flotte die spanischen Häfen angreift. Trotzdem beschäftigt sich der spanische Ministerrath deshalb mit militai- rischen Maßnahmen. Man sieht, dieser Ministerrath thut immer etwas. Die kriegerische Unthätigkeit, die man in Cuba findet, findet man auch auf den Philippinen. Die nachfolgenden Telegramme geben darüber Auskunft: * LottVon, 5. Juli. (Telegramm) Wie dem „Reuter'schen Bureau" aus Manila vom 4. d. M. gemeldet wird, verharrt Dewey in Unthätigkeit; man glaubt, daß er die Ankunft Merritt's in drei Wochen erwartet. Madrid, 8. Juli. (Telegramm.) Nach einem Telegramm des spanischen Consuls in Hongkong hat die Mehrzahl der Aufständischen auf den Philippinen die dort eingetroffenen amerikanischen Verstärkungen feindselig empfangen und zwar deshalb, weil zahlreiche Neger sich unter denselben bc- fanden. Der Bericht fügt außerdem hinzu, daß die Aufständischen in Cavite sich gegen die Amerikaner erhoben hätten, die ein lebhaftes Kanonen- und Gewehrfeuer unterhalten hätten. Das Ergebniß desselben sei noch unbekannt. * New Aork, 8. Juli. (Telegramm.) Aus dem Haupt quartier des Generals Shaster vor Santiago wird unter dem 7. Juli gemeldet, General Linares habe dem General Shafter mltgetheilt, er habe keinen Telegraphisten, weshalb ein solcher abgesandt wurde, begleitet von dem englischen Consul Ramsden unter englischer Flagge. Obgleich das Feuer ein- gestellt sei, werde auf beiden Seiten die Arbeit fort gesetzt, um die Batterien und die Verschanzungen zu voll enden. Die Amerikaner hätten ihre Stellungen in den letzten 48 Stunden erheblich verstärkt. Ihre Batterien auf dem Abhang beherrschten die Stadt. Mittwoch Abend sei die Division Lawton um 600 m vorgerückt. Die Dynamitkanone der „Rough Riders" sei vortheilhaft ausgestellt. Es seien Brücken über die Flüsse geschlagen, welche die Ueberführung von Kanonen schweren Kalibers gestatten. Die Gesundheit der ameri kanischen Soldaten sei im Allgemeinen gut, und die Ruhe komme ihnen sehr zu Statten. Sollten die Feindseligkeiten erneuert werden, so sei der O p e r a t i o n S p l a n folgender: Admiral Sampson werde die Spanier aus den Forts am Hafeneingang vertreiben und nach Ausschiffung von tausend Mann die Forts besetzen. Boote mit Enterhaken sollen die Minen auffischen. Alsdann werde die Flotte in den Hasen einfahren, die Stadt bombardircn und den Sturm der Landtruppcn auf die Stadt unterstützen. Garcia erhielt Befehl, die Spanier während der Unterhandlungen nicht anzugreifen. Auf Befehl von Admiral Sampson haben die Cubaner hundert ans User geworfene Leichen bestattet. — Der Hilfskreuzer „Harward" ist gestern nach Portsmouth mit dem Rest der gefangenen Spanier abgegangen. Die Gesammtzahl der Gefangenen beträgt nunmehr 1750. * Washington, 9. Juli. (Telegramm.) Das Kriegsdeparte- ment erhielt die Nachricht, daß in der vergangenen Nacht elf nach Santiago bestimmte Leichterschiffe an der cubanischen Küste während eines schweren Sturmes gesunken sind. Menschenleben sind nicht verloren. * Rew-Nork, 8. Juli. (Telegramm.) 40000 Tons Kohlen sind von New Nork, Philadelphia und Baltimore für den Admiral Dewey unterwegs. Zum Schluß noch die unvermeidliche Mittheilung über die Flotte Camara's, des ewigen Juden zur See: * Kairo, 8. Juli. (Telegramm.) Ta das Geschwader Camara's den Suez-Canal zurllcksährt, um wieder nach Spanien zu gehen, wird ihm gestattet werden, Kohlen einzunehmen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 9. Juli. DaS Beileidstelegramm, das Kaiser Wilhelm II. anläßlich des Unterganges der „Bourgogne" an den Präsidenten der französischen Republik Faure gerichtet bat, wird in der ganzen civilisirten Welt als ein neuer Beweis der Hoch herzigkeit des Trägers der deutschen Kaiserkroiie und seines Bestrebens, das rein menschliche Gefühl auch in Fällen walten zu lassen, in denen alte politische Gegensätze sich trennend zwischen Beklagenswcrthe und Mitfühlende schieben, ausgefaßt und gewürdigt werden. Ob auch in Frankreich? Herr Faure scheint darüber in Zweifel zu sein; denn obgleich der Kaiser in seinem Telegramm ausdrücklich den Verlust, der „Frankreich" betroffen, erwähnt, dankt Herr Faure nur im eignen Namen und in dem der Familien, die durch das furchtbare Ereigniß in Schmerz versenkt worden sind. Er vermeidet es sichtlich, das Wort „Frankreich" auch seiner seits zu gebrauchen. Daß ihm ein Dank im Namen der Republik in Rußland verübelt werden würde, hat Herr Faure sicherlich nicht befürchtet, denn er weiß sehr wohl, daß der Zar die peinlichste Beobachtung der sprichwörtlichen fran zösischen Höflichkeit dem deutschen Kaiser gegenüber nicht als Raub an der demuthvollen Dankbarkeit der Republik gegen Rußland empfindet. Herr Faure kann also nur im Zweifel darüber gewesen sein, ob seine eigenen Landsleute damit einverstanden gewesen sein würden, wenn er im Namen Frankreichs für das Beileid gedankt hätte, das der deutsche Kaiser für Frankreich zum Ausdrucke gebracht hat. In Deutschland wird man sich diesen Zweifel nicht zu Herzen gehen lassen. Es ist Sache der Repub'lik, sich mit ihrem Präsidenten auSeinanderzusetzen wegen eines Zweifels an ihrer aufrichtigen Dankbarkeit für einen Beweis hochherziger Gesinnung des deutschen Kaisers und an ihrem Wunsche, gerade ihm gegen über die Pflichten der Höflichkeit auf das Peinlichste erfüllt zu sehen. Die Dreyfus-Jnterpellation in der französischen Kammer ist von einem eminenten politisch-psychologischen Werth. Nicht waS Herr Cavaignac vorgebracht hat, sondern wie es gewirkt hat, giebt dem Vorgänge seine hohe Be deutung. Politische Laien könnten sich vielleicht darüber wundern, daß die Socialisten und die Radikalen Ausfüh rungen über den Fall DreyfuS zugejubelt haben, die sie noch vor wenigen Monaten mit Murren ausgenommen haben würden. Was hat diese „Vertreter'der Gerechtigkeit" in ihren Anschauungen so umgestimmt? Nichts, als der Umstand, daß sie jetzt an der Regierung sind, und daß sie an der Regierung bleiben möchten, WaS in Frankreich nur möglich ist, wenn man mit der Volksstimmung geht. Deshalb haben sie den Drohungen der Presse nachgegeben, die, wie das „Petit Journal", schon wegen der ungeheuren Abonnentenzahl die Volksmasse für sich hat. ES ist, als ob Fürst Bismarck mit prophetischem Blicke die gegenwärtige französische Regierung vor Augen gehabt hätte, als er am 30. November 188l im Reichs tage sagte: „Diejenigen Regierungen, die für den Druck empfänglicher sind, als für Unterstützungen, taugen überhaupt nicht viel. Das sind die Höflinge der Majorität, die Registratoren der Majorität. Solche Leute können Sie in untergeordneten Schicht n finden, die blos fragen: Wie fällt die Majorität aus, der werte-- wir gehorsam sein ohne Kopfzerbrechen; es wird abgezählt — wa- dem Staate nützlich ist, darüber bildet man sich kein Urtheil, das hängt allein von der Majoritätssrage ab. Es wird abgezähtt, das ist so ungemein bequem, dazu brauchen Sie keine Männer von Sachkenntniß, dazu brauchen Sie einfache Protokollführer d r Majorität, denn der Byzantinismus ist in unseren Zeiten nie so weit getrieben worden, als in der Anbetung der Majoritäten', und die Leute, die der Majorität unter Umständen fest ins Auge sehen, die finden Sie nicht sehr häufig, aber es ist immerhin nützlich, wenn der Staat einige davon im Vorrath hat." Frankreich hat offenbar solche Männer nicht im Vorrats»: die Radicalen, die jetzt am Ruder sind, treiben noch ärgeren Byzantinismus mit der Majorität als das vorangegangene Ministerium. Und eS liegt ja eigentlich auch im Wesen des Radicalismus, Anbeter der Majorität, d. h. der jeweilige,: Volksstimmung zu sein, — nicht nur in Frankreich. Und wenn die Vorgänge vom Donnerstag in der französischen Deputirtenkammer gerade von der deutschen radicalen Presse am allerschärfsten verurtheilt werden, so hat diese Presse eigentlich kein Recht dazu, denn der Vorgang hält ihr nur ihr eigenes Bild vor: knechtische Unterwürfigkeit gegenüber der sogenannten Volksstimmung. Und wer Las Wohl des deutschen Volkes im Auge hat, der wird aus dem innerlich würdelosen Verhalten der französischen Radicalen und Socia listen nur wiederum den herzlichen Wunsch schöpfen können, daß das deutsche Vaterland niemals in die traurige Lage kommen möge, von den Anbetern der Majorität, von den Protokollführern der Mehrheit regiert zu werden. Zwischen Lestcrrcich und Ungar» spitzt sich alles auf einen erbitterten wirthschaftlichen Kampf zu. Da, wie es scheint, an ein Fortbestehen eines einheitlichen wirthschaftlichen Gebiets nicht mehr zn denken ist, machen jetzt die Ungarn Ernst mit ihren Drohungen und stellen einen Zolltarif auf, der in jeder Weise Oesterreich schädigen muß. Wenn es auch noch gute Wege hat, ehe dieser Tarif in Kraft tritt, so ist doch schon die Veröffentlichung desselben, die Kundgabe der ungarischen Regierungsabsicht, geeignet, trüben Gedanken über die Monarchie Oesterreich-Ungarn Raum zu geben. Man muß es fast als ein Unding bezeichne», das; beide Neichshälften, die politisch nach außen zusammen gehören, die eine gemeinsame Armee haben, jetzt ihre Waffen schärfen, um sich wirthschafllich zu zerfleischen. Der ungarische Zolltarisentwurf enthält so hohe Sätze, daß die österreichische Industrie lahmgelegt werden muß; daS Be streben, aus einem Agrarstaat einen Industriestaat zu machen, tritt unverhüllt hervor. Die Zeche muß der natürliche Ver bündete, Oesterreich, bezahlen. Die österreichischen Blätter sprechen es daher auch unumwunden auS, daß Ungarn gar keine Verständigung will, daß die Quotenfrage nur den Schein grund gegeben hat, sich wirthschafllich selbstständig zu machen. „Der Entwurf des ungarischen Zolltarifes ist," so ruft die „Neue Freie Presse" aus, „wie selbst ungarische Stimmen zu unserer Freude anerkennen, der Ausdruck offenen, in solcher Gewaltsamkeit doch überraschenden UebelwollenS gegen Oester reich. Leicht ist über diese Ziffern nicht hinwegzugehen. Mögen sie als Drohung auSgedacht worden sein, so sind sie auch eine Verlockung für einen Kreis einflußreicher Menschen, die rasch in jedem Zollsätze den Gewinn auf spüren werden, der sich auf Kosten der Gesammtheit durch die Sprengung der wirthschaftlichen Einheit erhaschen ließe. Feuilleton. . -- Lauernblut. 27) Roman in drei Büchern. Bon Gerhard von Amyntor. (Dagobert von Gerhardt.) Nachdruck verboten. Adolf Dechncr war im Laufe des Nachmittags von Berlin herübergekommcn, um den im Grottensaal aufgestellten Concert- flüzel noch einmal nachzustimmen. Er hatte Friedrich Just, der gerade bei ihm gewesen war, um ihm eine Mittheilung über den verschwundenen und von ihm durch Sabinens heimliche Mit wirkung wieder aufgefundenen Peter zu machen, mit nach Pots dam genommen; da die Zeit knapp war, sollte Just unterwegs über Pcter's trauriges Schicksal noch eingehender berichten. Die Bctheiligung Peter's an dem Einbruch hatte Just streng ver heimlicht; er hatte nur das von Peter selbst erfundene Märchen weiter erzählt, daß die Polizei den Maurermeister Dechner wegen socialdemokratischer Umtriebe suche und daß sich dieser deshalb im Hause der Frau Meerholt versteckt hielte; der Erzähler hatte hinzugcfügt, daß Peter neuerdings dort erkrankt und wegen seiner gänzlichen Mittellosigkeit der Unterstützung mitleidiger Seelen dringend bedürftig sei. Adolf Dechner hatte sofort seine Bereitwilligkeit erklärt, dem Bruder zu helfen, und die Absicht ausgesprochen, ihn auch morgen heimlich zu besuchen; dann war er mit Friedrich Just von Station Wildpark nach dem Neuen Palais gegangen, um dort in dessen Mitanwescnheit (er hatte ihn als seinen Gehilfen ohne Weiteres mit in den Grottensaal genommen) den Flügel zu stimmen. Frau Mieseke, die Hof- fouriers-Wittwe, die nqch immer Beziehungen mit der kronprinz- lichen Dienerschaft unterhielt und neugierig nach dem Palais geeilt war, um eine heimliche Zuschauerin des Festes zu sein, hatte die beiden Männer zufällig dort getroffen und es bei dem betreffenden Hausofficianten vermittelt, daß sie alle Drei den Balcon des Marmorsaales heimlich betreten durften. Der Staatsanwalt, dem dieser Zusammenhang noch unbekannt war, blickte verwundert empor und glaubte zu bemerken, daß ihm Just zunickte und heimliche Zeichen machte; er konnte sich aber auch getäuscht haben, denn es war eine beträchtliche Höhe bis hinauf zu dem Balcon; deshalb zuckte er mit den Achseln und ging, das Haupt wieder senkend, langsam weiter. „Nun, essen Sie denn gar nichts?" fragte ihn eine freund liche Stimme; „die Pflege der Gerechtigkeit macht nicht satt." Es war der Kronprinz, der ihn so noch einmal anredet«. „Aber sie stärkt des Menschen Herz", erwiderte Tell, der nun glücklich den Bann, der auf ihm lag, abgeschüttelt hatte. Der Kronprinz stieß, indem er die Schultern hoch und die Stirn in krause Falten zog, einen leichten Seufzer aus: „Ja, ja! Gerechtigkeit wird von aller Welt gefordert; man mühte aber ein Gott sein, um sie auch immerdar üben zu können. Goethe sagt zwar, es liege nur am Kaiser, sie zu gewähren: Die höchste Tugend, wie ein Heiligenschein, Umgiebt des Kaisers Haupt, nur er allein Vermag sie gütig auszuüben: Gerechtigkeit! —Was alle Menschen lieben, Was alle fordern, wünschen, schwer entbehren, Es liegt an ihm, vcm Volk es zu gewähren. — Ich möchte aber hinzufügen: es liegt auch an allen Denen, die dem Kaiser dienen; auch an Ihnen, Herr Staatsanwalt! Keine Anklage wider einen Schuldlosen, wider einen nur halb Verdächtigen, gegen den keine zwingenden Beweise vorliegen; aber auch keine Schonung eines Schuldigen, er stehe so hoch, wie er wolle! Dann kommt uns auch die goldene Zeit, denn es giebt keine Gleichheit der Menschen, außer vor Gott und vor dem Gesetze." Er hatte es mit freundlichem Ernst gesagt und drückte nun dem Staatsanwalt, wie Einem, der ganz selbstverständlich der selben Meinung ist, mit einem leutseligen: „Auf Wiedersehen!" noch einmal die Hand zum Abschiede. In Tell's Seele hatten diese gänzlich unanzüglichen Worte einen Sturm des Aufruhrs erregt. Hatte der Kronprinz eine Ahnung von dem, was Tell wußte und bisher nur sich selbst gestanden hatte? Wollte er ihn ermahnen, nicht länger mit den Thatsachen hinter dem Berge zu halten? Doch das war ja geradezu unmöglich! Es mußte also nur ein sonderbarer Zu fall gewesen sein, daß ihn der hohe Herr unbewußt an die Aus übung seiner Pflicht gemahnt hatte! Oder gab es keinen Zufall? War es nicht ein Wink des Schicksals, eine Mahnung jener un begreiflichen ewigen Macht gewesen, die uns all« an unsichtbaren Fäden leitet? Mochte dem sein, wie ihm wollt«: sein innerer Zwiespalt war endgiltig beseitigt: er wollte wahr sein, wahr ohne jedes Bedenken, ohne irgend welchen Rückhalt! Was galt ihm noch die Meinung der Welt, die Werthung der Gesellschaft? Er wollte einfach seine Pflicht thun und in deren Ausübung seine Ehre finden; alles Andere mochte sich gestalten, wie es wollte; es sollte ihn nimmer vom rechten Pfad« ablenken! Ein schmerzhaftes Krampfen des Herzens schien ihn aber doch erinnern zu wollen, daß er mit diesem Entschlüsse Ellen wahrscheinlich für immer verlieren würde. Doch auch diesen Preis wollte und mußte er zahlen. Er durfte die Giesdorfer nie wieder durch seinen Besuch in Verlegenheit setzen; das schien ihm ein Gebot der Selbstachtung; wenn Ellen ihm aus den durch seine Wahrheitsliebe bekannt zu gebenden Thatsachen keinen per sönlichen Vorwurf machen wollte, dann mochte sie zuerst eine Annäherung an ihn suchen und die Wiederherstellung des früheren Verkehrs gewissermaßen von ihm als eine Gunst er betteln. Er vergaß, daß Ellen ein Weib war, daß auch ein Weib seinen Stolz und seine Selbstachtung besitzt, und daß es nicht Aufgabe des Weibes ist, um den Mann zu werben, auch wenn dieser Mann ein so thöricht-mißtrauischer und leicht ver letzter Sonderling wäre, wie er selber. Ohne irgend etwas genossen zu haben, drückte er sich, als sich der Hof zurückgezogen hatte und die „saure Mathilde" zu ihrem tödtlichen Verdrusse wiederum nicht beachtet worden war, eil fertig nach den Vorzimmern, wo ein Kleiderriegel hinter dem anderen stand und Lakaien bereit waren, den Herren und Damen in ihre Mäntel zu helfen. Vor einem Paare, das aus einem der Zwischenräume zwischen zweien solcher Riegel fertig eingehüllt herauskam, prallte er er schrocken zurück: es waren Ellen und der Lieutenant von Randen stein. Er ahnte nicht, was zwischen diesen Beiden eben ver handelt worden, so wie diese Beiden selbst keine Ahnung hatten, daß Friedrich Just, der, hinter den Kleidcrriegeln versteckt, auf seinen jungen Freund, den Staatsanwalt, ungeduldig wartete, ein unbemerkter Zuhörer ihrer kurzen Unterhaltung gewesen war. „Mein gnädiges Fräulein!" hatte Randenstein innig gesagt, indem er diensteifrig den schwanbesetzten Mantel über Ellcn's schöne Schultern legte, „geben Sie mir, ehe wir uns trennen, wenigstens den Trost mit, daß ich noch hoffen darf." „Bitte, Herr von Randenstein, kommen Sie auf dieses Thema nicht wieder zurück. So leid es mir thut, ich kann Ihnen keine Hoffnung geben." „Dann ist Ihr Herz nicht mehr frei! Wem haben Sie es geschenkt? O, sagen Sie es mir!" Sie hatte einen Augenblick gestockt; dann hatte sie ihr lieb liches, von weißer Kapuze umhülltes Gesichtchen emporgerichtet und den beharrlichen Bewerber gequält angeschaut: „Warum foltern Sie mich mitleidslos? Ich werde nie heirathen! Genügt Ihnen daS?" Der gegen seinen Willen zum Lauscher gewordene Just hatte noch bemerkt, wie Ellen mit dem Taschentuch ihre Wangen be tupft hatte, dann war sie zwischen den Riegeln hervorgetreten, und der lange Randenstein war ihr in seinem weiten Reiter mantel säbel- und sporenklirrend zur Seite geblieben, um sie bis zu ihren harrenden Eltern zu geleiten. Nun schlüpfte auch Just aus seinem Versteck hervor und gesellte sich im Ausgange des südlichen Schloßflügels in un auffälliger Weise zu dem Staatsanwalt. „Ich habe Ihnen Wichtiges zu melden", raunte er ihm leise zu; „lassen Sie uns nach der Station zu Fuß gehen, wir haben noch 28 Minuten bis zum nächsten Zuge." Tell nickte. Er hüllte sich fester in seinen Mantel, denn es war kühl geworden, und machte sich mit seinem Begleiter auf den Weg. „Was ist vorgefallen? Reden Sie!" „Hier noch nicht, Herr Staatsanwalt. Lassen Sie uns erst die andere Seite des Weges gewinnen, dort, bei der Gärtner- Lehranstalt vorbei, dort drüben sind wir ungestört." Sie überschritten den Fahrdamm, auf dem die laternen versehenen herrschaftlichen Wagen mit den Berliner Gästen vorüberrollten, und erreichten den einsamen Fußgängerweg auf der westlichen Seite der das Schloß mit dem Bahnhof ver bindenden Allee. „So, Herr Staatsanwalt", hob Just, sich umschauend, an, „hier sind wir sicher, hier kann ich berichten. Ich habe heute Peter Dechner erst ganz vergeblich gesucht." „Warum?" warf Tell scharf dazwischen. Just hob verwundert den Kopf und schaute zu seinem um vieles größeren Begleiter empor, konnte aber trotz den zahl reichen, an den Bäumen des Weges befestigten Lampen Tell's Gesichtszüge nicht deutlich erkennen. So erwiderte er etwas eingeschiichtert: „Ich wollte ihn nur sehen, um mich zu über zeugen, ob er den Verlust jenes Briefes nicht schon gemerkt haben möchte . . ." . „Und wollten ihn dann warnen", ergänzte Tell im Tone strengen Verweises, „ihm womöglich einen Wink geben, daß er sich dem Arme der strafenden Gerechtigkeit entziehen sollte. Doch das verbitte ich mir! Ich kenne keine Bedenken und keine Rück sichten mehr und werde pflichtschuldig gegen ihn einschreiten." Helle Freude verklärte das Antlitz des Anderen; es schien ihn mit hoher Genugthuung zu erfüllen, daß sein jüngerer Freund sich endlich aufgerafft hatte und muthig nur der Stimme seines Gewissens folgen wollte. Doch er hütete sich, diese Genug thuung zu verrathen, und betheuerte nur: „Ich wollte ihn gewiß nicht warnen, Herr Staatsanwalt, sondern nur sehen. Ich muß nämlich gestehen, daß mir immer wieder Zweifel kamen, ob ein Mann wie Peter, trotz seiner socialistischen Ver- ranntheit, sich wirklich zu einem so schmachvollen Verbrechen habe erniedrigen können; deshalb nur wollte ich ihn aufsuchen. In seiner Wohnung angekommen, erfuhr ich aber, daß er nach Hamburg abgereist sei. Das machte mich denn doch wieder stutzig,