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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 15.06.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-15
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980615019
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898061501
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898061501
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-06
- Tag 1898-06-15
-
Monat
1898-06
-
Jahr
1898
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Mit der Bank übernähme das Reich natürlich auch daS Risico. Es können in kritischen Zeiten Geschäftsverluste anstatt der Gewinne herauSkommen, und dann ist es möglich, daß das Reich, anstatt zu ver dienen, für die Verzinsung des Betriebskapitals noch Geld zulegen muß. Eine Minderung des Ertrages wäre jedenfalls sicher, denn der Staat wirtschaftet immer und überall theurer, als der Private, und bei dem ungeheuer complicirten Geschäfte ter Bank ist es ganz ausgeschlossen, daß eine reine Bureau- kratenwirthschaft daS leistet, was heute durch den Einfluß der Geschäftsbank von einem Central-AuSschusse der Bank ge leistet wird. Ein Mehrgewinn ist also ungewiß und er wäre in jeder Hohe zu theuer mit der Uebernahme großer Risiken bezahlt. Nun aber ist es den Befürwortern der Verstaatlichung in erster Reibe auch gar nicht um das Interesse der Reichscasse zu thun. Sie sagen, die Landwirthschaft, der Kleinhandel, das Handwerk würden bei einer reinen Staatsbank mehr und billigeren Credit erhalten. Dieser Behauptung geht nun die Versicherung voraus, die Bank behandle bei der Ge währung von Credit den Handel und die Großindustrie besser als die Landwirthschaft und das kleine Gewerbe. Für diese Beschuldigung ist aber niemals der Beweis erbracht worden und sie ist ganz unbegründet. Die Reichsbank mißt durchweg nach gleichem Maße, sie behandelt jeden Credil- suchenden nach gleichen Grundsätzen. Daß diese Grundsätze streng sind, ist richtig. Aber daß sie nicht streng sein müssen, kann nur Der glauben, der von der Aufgabe und Natur einer solchen Notenbank keine Ahnung hat. Man bedenke nur, daß die Reichsbank durchschnittlich eine Milliarde Bank noten in Umlauf hat und daß dazu täglich mehrere hundert Millionen Giroverbindlichkeiten kommen. Die Noten sind bekanntlich unverzinslich und müssen, wenn eS die Inhaber verlangen, jeden Augenblick in baarem Gelbe eingelöst werden. Da ist es ganz unmöglich, andere Rücksichten zu nehmen, als die auf die Sicherheit der Bank, d. h. die Ordnung des Geldverkehrs des ganzen deutschen Volkes. Weil die Reichsbank die ganz besondere Aufgabe der Negulirung deö Geldmarktes hat, so ist ihr Credit allerdings rem kleinen Manne nicht so zugänglich wie dem größeren Gewerbe treibenden. Das liegt aber an den Verhältnissen des kleinen Mannes. Er braucht gewöhnlich Credit aus längere Zeit, die Reichsbank kann nur „kurzsichtigen" Credit gewähren, denn sie muß, wie gesagt, die Noten, die sie dem Creditnehmer stellt, jederzeit und ohne vorherige Kündigung in baar wieder nehmen, wenn nicht über die ganze Geschäftswelt eine Krisis hereinbrechen soll. Eine Notenbank muß auch in Bezug auf die Sicherheit nach anderen Grundsätzen verfahren, als andere Credil- iustitute. Es kann Jemand an sich sehr creditwürdig sein und die Reichsbank kann doch die Pflicht haben, Wechsel von ihm nicht zu nehmen. Sie kann eben den kleinsten Betrieben nicht so nahe stehen wie den größeren, sie kann nicht so „hineinschauen". Deshalb ist eS gar nichts Ungeheuerliches, wenn in einem Jahre nur 5650 Stück Wechsel von nur iOO^l und darunter bei der Reichsbank genommen worden sind. Es kommt ja auch sonst im gewerblichen Leben ost vor, daß ein kleiner Geschäftsmann mit einem ganz großen nicht arbeiten kann, weil der große eben seine Credit- und sonstige Gebahrung auf die Größe seines Betriebes zugeschnitten hat. Und die Reichsbank ist, zum Unterschiede von jedem anderen Geschäfte, noch dazu dem ganzen Lande dafür verantwortlich, daß sie die größte Vorsicht walten läßt. Für den kleineren Verkehr fließen die Hauptcredit- quellen eben nicht bei der Reichsbank, sondern an anderen Stellen, vor Allem bei den genossenschaftlichen Cassen und Banken. Hier hat der kleine Mann eine berechtigte und erfüllbare Forderung an den Staat, der verpflichtet ist, den GenossenschastSverbänden unter den denkbar besten Bedingungen Mittel zugänglich zu machen. Jedermann weiß, daß in diesem Puncte neuerdings viel geschehen ist und noch geschieht. Aber merkwürdig: die verschiedenen Central- und LandeSgenossenschaftscassen sind durchweg auch keine reinen Staatsanstalten. Auch die größte nicht, die preußische Centralgenossenschaftscasse. Diese hat der Staat gegründet und für sie ein Betriebskapital von schon jetzt 40 Millionen hergegeben; aber eine pure Staatsanstalt wollte er nicht, erstens wegen des RisicoS, zweitens weil eine solche Anstalt der „notbwendigen Beweglichkeit entbehrt hätte". Also nicht einmal für den viel engeren Zweck dieser Anstalt bat man eS für praktisch gehalten, das zu schaffen, waS die Verstaat lichungs-Fanatiker auS der Reichsbank machen möchten. Und noch Eins, was hierher gehört. Wenn die Verstaat- zichungs-Freunde wirklich glauben, daß eine Notenbank die kleinen und kleinsten Creditbedürfnisse befriedigen könne, warum haben sie sich dann nicht gegen die Gründung von Centralgenossenschaftscassen erhoben und gesagt: „Wozu die neuen Institute, deren Betrieb doch auch wieder Geld für sich kostet?" Sie waren aber ganz zufrieden mit den neuen Cassen und auch damit, daß diese keine reinen Staatsanstalten wurden. Daß die Wechsel bis zu 100 bei der Reichsbank seltener sind, als die größeren Wechsel, liegt durchaus in der Natur der Sache. Die Gegner der Reichsbank aber erfinden dafür Gründe, die sich politisch verwrrthen lassen. Dabei widersprechen sie sich aber. So wurde B. dieser Tage hier in Leipzig gesagt, die Reichsbank könne dem kleinen Manne nur wenig nützen, weil sie einen zu großen Baar vorrath halte, und sie halte diesen, weil sie immer bereit sein wolle, bei größeren Finanzoperationen und in Geldkrisen den großen Bankinstituten zu helfen. Im „Conservativen Hand buch" aber schreibt ei» Verstaatlichungsfreund, in dem un zureichenden Goldbesitze der Reichsbank liege die Ursache, daß die Bank nicht alle Erwerbsclassen gleichmäßig berück- sichtigeu könne. Beide haben Unrecht. Der Mann im „Handbuch" weiß nicht, daß ein hoher Goldvorrath und ein niedriger DiScont sich nicht vereinbaren lassen. Dem ist aber so. Denn wenn der DiScont zu niedrig, das Gold der Reichsbank also zu billig ist, so wird es vom Jnlande, aber auch vom AuSlande auS der Bank herauSgezogen und der Goldvorrath schwindel. Dem Leipziger andererseits, der gesagt hat, den großen Banken zu Liebe entziehe die Reichs bank das Baargeld der Circulation im Volke, scheint es un bekannt zu sein, daß in Deutschland ungefähr doppelt soviel Gold circulirt als in Frankreich, denen Notenbank von den Gegnern unserer Reichsbank immer als Muster auf gestellt wird. Noch einmal: WaS eine Notenbank für den kleinen Ver kehr thun kann, geschieht von der Reichsbank. Wird sie verstaatlicht, so ist Zweierlei möglich. Entweder die Staats bank wirthschaftet solid und so, wie es ihrer Aufgabe entspricht, dann bleibt Alles beim Alten. Oder sie weicht aus der ihr vorgezeichneten Bahn, dann wird unsere Geldwirthschaft verwirrt, die Währung gefährdet und es tritt eine allgemeine, die kleinen Creditbedürfligen erst recht in Mitleidenschaft ziehende Landescalamität ein, gegen die die jetzigen Agita toren für die Verstaatlichung ganz gewiß nicht werden helfen können. Tie Gefahr einer parteiischen und leichtfertigen Credit- gewährung ist bei einer Staatsbank nicht gering. Wenn man bedenkt, welche tollen wirthschastlichen Experimente gewisse Parteien für durchführbar halten und dem Reiche aufdrängen wollen — Antrag Kanitz z. B. und die internationale Doppel währung, diese sogar ohne Englands Beitritt —, dann kann man auch die Möglichkeit nicht abweisen, daß solche phan tastische oder eigennützige Politiker ihre Ideen bei der Leitung einer staatlichen Notenbank durchsetzen; denn das ist das Leichtere. Für den Antrag Kanitz und die Doppelwährung braucht man nämlich ein Gesetz, den Reichstag. Für die Reichsbank, wenn sie einmal verstaatlicht ist, giebt es keine Schranke mehr gegen das Betreten gefährlicher Wege. Jeder mann weiß, daß unsere Wirthschasts-Abenteurer zum Theil im preußischen Staate und bei Hofeeinflußreiche Leute sind. Eben sowenig wird heutzutage Jemand bestreiten wollen, daß wir einmal eine recht schwache, gegen mächtige Stürmer und Dränger bis zum Aeußersten nachgiebige Regierung im Reiche bekommen können. Dann aber ist es möglich, daß eine einzelne Gruppe die Staatsbank zu ihrem Vortheil und zum Nachtheil des GesanimtwohleS beeinflußt. Hineingegriffen in die Riesen geldschüssel der Reichsbank ist ja leicht und es ist verführerisch, hinzugreifen, wenn man davor sitzt. Nur soll sich Niemand der Täuschung hingeben, daß es der Mittelstan d wäre, sei es der städtische, sei es der bäuerliche, der jemals an diesen guten Platz gelangen würde. Es wäre allerdings auch so wenig zu seinem Vortheil, wie eine falsche Bankpolitik zu Gunsten des Großgrundbesitzes diesem dauernd nützen könnte. Nur die Socialdemokratie handelt überlegt, wenn sie die Möglichkeit schaffen will, daß sich einmal eine Partei vor die bewußte Schüssel setzt. Wir wolle» eine Notenbank behalten, deren Verwaltung immer kühl ist und nicht in Versuchung gerathen kann, sei eS gegenüber einer geldbedürftigen Negierung, sei eS gegenüber einem einzelnen Stanke, einer einzelnen Partei. DaS ist unsere Reichsbank mit ihrer staatlichen Verwaltung und ihrem unabhängigen sachverständigen bürgerlichen Central» auSschuß. Daß die Reichscasse, entsprechend dem gesunkenen Zinsfuß, noch stärker als bisher an dem Bankgewinne be- theiligt werden muß, haben wir schon gesagt. Das versteht sich von selbst. Auch sonst ist vielleicht die eine oder die andere Aenderung erwägenSwerth. Aber die Einrichtung der Anstalt im Ganzen ist durchaus bewährt, und was da gegen gesagt wird, ist verworren und widerspruchsvoll. Auch in Frankreich halte sich vor einiger Zeit eine Agitation für die Umwandlung der Notenbank in eine Staatsbank erhoben. Als cs aber zur Entscheidung kam, stimmten alle Parteien für die Verlängerung des BaukprivilegiumS — ausgenommen die Socialdemokraten. Die Bürgerlichen und die Um stürzler haben dabei ihre wahren Interessen zu Rathe gezogen. Alle Mann auf Deck! Soll unser Leipzig, das in zehn ReichstaLSwahlschlachten seinen Ruhm als eine der reichstreuesten Städte in ganz Deutschland tapfer behauptet hat, dieses Ruhmes verlustig gehen und der Socialdemokratie anheimfallen? Das ist die Frage, die am 16. Juni zur Entscheidung steht! Bei der Reichstagswahl von 1893 ward die Spaltung, die im ersten Wahlgange unter den reichStreuen Parteien staltfand, ausgeglichen durch die patriotische Selbstverleugnung, womit die Wähler des im ersten Ganze unterlegenen Can- didaten für den darin siegreich gewesenen stimmten. DaS Gleiche steht wohl auch diesmal mit Zuversicht zu erwarten. Schon Hal der eine der ausgestellten mehreren Candidaten seinen Rücktritt erklärt, um die Zersplitterung der Stimmen möglichst zu vermeiden. Sämmtliche nicht socialdemokratische Candidaten gehören Parteien an, welche sich offen und rückhaltlos als aufrichtige Freunde einer monarchischen und nationalen Staatsordnung bekannt haben; die Wähler aus diesen Parteien können unmöglich ihre Stimmen dem Candidaten einer Partei geben, die noch in jüngster Zeit wiederholt durch die Ausführungen ihrer Wort führer im Reichstag und in der Presse sich als revolutionair, antimonarchisch und vaterlandslos bekundet hat. Sicherer freilich wäre der Sieg über diese vaterlands lose Partei, namentlich aber gewichtiger in seinen moralischen Folgen —und nicht für Leipzig allein —, wenn sogleich in der ersten Wahl, am 16. Juni, ein reichstreuer Candidat die absolute Mehrheit erhielte. Und warum sollte dies nicht möglich sein, wenn die ver einigten Ordnungsparteien, deren Candidat jedenfalls (nach allen bisherigen Erfahrungen) unter denen der Reichstreuen die meiste Aussicht auf eine Mehrheit hat, alle ihre Kräfte anspannten, um diese Mehrheit zu einer absoluten zu erbeben? Bei der Wahl von 1893 haben nur 82 Procent sämmt- licher Stimmberechtigten gewählt; eS sind also 18 Procent oder zwischen und >/s derselben von der Urne ferngebiieben. Bei der Wahl von 1890 fehlten nur 11,8, bei der von 1887 nur 10,3 Procent, dort nicht ganz >/g, hier nicht ganz aller Stimmberechtigten. » Sollte denn nicht von diesen der Stimmberechtigte» noch ein ansehnlicher Theil sich dazu aufraffen, pünctlich und rechtzeitig fein Wahlrecht, besser gesagt, seine Wahlpflicht zu üben? ES ist eine feststehende Thatsache, daß die socialdemokratisch' Partei in der Regel die ganze Masse ihrer Wähler schon beim ersten Wahlgange inS Gefecht führt. Jeder Zuwachs an Stimmen überhaupt kommt daher voraussichtlich ihren Gegnern zu Gute; jeder Ausfall an solchen ist ein Verlust für diese. Es nimmt folglich eine schwere Verantwortung aus sich, wer am Wahltage fehlt oder zu spät erscheint. Möge daher jeder reichstreue Wähler noch in den letzten Stunden vor dein 16. Juni nicht nur sich selbst bereit halten oder bereit machen, ungehindert an der Wahl Tbeil nehmen zu können, sondern auch seinen Freunden, Geschäftsfreunden, Bekannten das Gewissen schärfen, daß sie die Erfüllung ihrer höchsten Bürgerpflicht nicht versäumen! Alle Mann auf Deck! Das sei die Losung in allen Kreisen unseres reichstreuen BürgerthumS! X. L. vorurtheile und Thatsachen. Bei einem Theil — es ist Wohl kein allzu großer Theil — unserer Kleinhändler besteht ein eigenthümlicheS Vorurtheil gegen die nationalliberale Partei, das sofort schwinden würde, wenn sie sich nur die Mühe nehmen wollten, die Reichs- tagSverhandlungen einmal genauer daraufhin anzusehen, was diese Partei zu ihren Gunsten — nicht versprochen, sondern geleistet hat. Denn was zur Einschränkung des Fenrlleto«» Um die Erde. Neisebriefe von Paul Lindenberg. Nachdruck verboten. Ostern in Deutsch-China. — Zur Grenze. — Auf dem Marsche. — Die erste Station. — Wie Officiere und Mannschaften leben. — Ein Küchenzettel. — Fortsetzung des Marsches. — Herrliche Alpenlandschaft. — Ankunft und Unterkunft in del äußersten Grenzstation. Schat-se-kau, 12. April. „Wollen Sie einen Osterausflug in unser Grenzgebiet mit machen?" fragte mich vor wenigen Tagen Hauptmann von Bronikowski. „Ich will einem Theil meiner Leute, jenen, die noch nicht herausgckommen, eine kleine Osterfreude bereiten und sie etwas ins Land führen, natürlich verbindet sich auch eine militairische Aufgabe damit." — „Gewiß doch, mit größter Freude!" — „Na, dann nehmen Sie erst im Ostlager an unserer Casino-Einweihung Theil, schlafen bei uns, und Sonntag Morgen um 6 geht's los!" Alles entwickelte sich programmmäßig, nur mit dem Schlafen haperte es; mehr als zwei Stunden waren es nicht, die mir, dem man das weiche Deckenlager auf einer Lazarethbahre her gerichtet, zu diesem Zweck zur Verfügung gestanden, aber alle Müdigkeit war verschwunden, als man hinaustrat in den herr lichen Ostermorgen, der in sonniger Schönheit über Deutsch- China blaute. Unser Zug zählte dreißig Mann, welche die weißen Uniformen trugen und deren Gepäck den Rucksack wahrlich nicht angeschwellt hatte, eS ließ sich daher leicht mar- schiren, und fröhlich erklang das erste Lied: „Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus" — um so fröhlicher, als hier Keinem das Herz schwerer wurde durch den Gedanken an den zurückgelaffenen Schatz. . . .! Schön waren die Wege freilich nicht, die wir einschlugen, um an die „Grenze" zu gelangen, und unsere Psnies stolperten zuerst recht bedenklich, zumal da sie noch unruhig und ungelenkig waren, aber allmählich gewöhnten sie sich an die schmalen, dicht an zerklüfteten Abhängen hinführenden Pfade und nahmen alsbald alle Hindernisse mit Leichtigkeit. Unsere Soldaten aber marschirten in langer Linie flott vorwärts, ihre lustigen Marsch lieder erweckten daS Echo in den Thälern und iockten in den kleinen Dörfern, di« wir passirten. Alt und Jung herbei. Alles um uns war friedlich und freundlich, nirgends traf man auf finstere Gesichter. Manche der Zopfträger grüßten militairisch, Andere nickten uns lachend zu, die Dorfschönen trippelten zwar auf ihren Liliputfüßen eilig von dannen, aber nur, um desto ungestörter hinter den die kleinen Höfe der Häuschen begrenzenden Steinmauern die straffen Figuren unserer Weißröcke betrachten zu können. Auf den Feldern waren die Leute in reger Thätigkeit, um den Boden zu düngen und Un kraut zu entfernen; am meisten war Gerste angepflanzt, stets in kleinen Büscheln, dann verschiedene Gemiisearten, Alles war gartenmäßig mit unermüdlichem Fleiße und sorgsamster Aus dauer gepflegt. An den wenigen Bäumen jedoch nur der erste grüne Schimmer, an Weg und Steg aber dafür überall Veilchen in ganzen Sträußen, die uns an die ferne Heimath erinnerten, ebenso wie Meister Spatz, der hier genau so viel lärmte und sich dreist geberdete wie auf deutschen Fluren. Singvögel giebt es leider fast gar nicht, allerhand Raubzeug und die hier als heilig geltenden und daher sorgsam geschonten zahllosen schwarz weiß gefiederten Elstern lassen nichts aufkommen. Die Häuser in den Dörfern sind aus Felssteinen errichtet, an den winzigen Tempeln klebten noch die in chinesischer Schrift abgefaßten Pro klamationen von der Besitzergreifung des Gebietes, auf den Gassen wurden an Holzgestellen lange Bastmatten geflochten und Leinwandstreifen gesponnen, klingend nahten Esel-Kara wanen, meist Reisig und Holz als Last. Die Gegend war etwas eintönig, von fern winkten als unser Ziel schroffe Gebirgszüge, heiß brannte die Sonne herab — da, die zehnte Stunde war schon nahe, ein fröhlicher Ruf unseres Hauptmannes: mit stotzer Freude sahen wir dort vor uns lustig im Winde die deutsche Kriegsflagge wehen! Die erste Station haben wir erreicht, Tschangsun, einen kleinen Ort, in welchem in einem Gehöft ein Officier und dreißig Mann einquartiert waren. Soldaten saßen plaudernd vor der Thür und begrüßten ihre anmarschirenden Kameraden, die sofort die Gewehre zusammensetzten und sich schattige Ruheplätzchen aussuchten. Bald hatte auch Jeder seine Flasche Bier, vom Haupt mann gespendet, in Empfang genommen, für die meisten ein lange entbehrter Genuß, da der Preis hier ein ziemlich hoher ist. Uns bewillkommnete der Lieutenant und zeigte uns die Einzelheiten seine» kleinen Gebiete?: ein enger Hof, in dessen Mitte an der Frrnsprechstange ein langes Bambusrohr mit der Flagge befestigt war, vor den niedriges Gebäuden die ersten Gartenanpflanzungen aufdrn einen Fuß breiten „Beeten"; ein paar Kiefersprößlinge, zwei schwindsüchtige Bambushalme und einige Zwiebelgewächse, in einer Ecke im Freien die Fleisch- vorräthr hängend, die weißgetiinchten Wände der Wachtstube mit einer „Galerie schöner Frauen" verziert, kleinen Farbendrucken, die den von den Mannschaften viel gebrauchten amrikanischen Cigarettenpacketen bcigelegt sind, der Eingang zur Küche aber vor allzu wißbegierigen Nachforschungen durch einen Mattenvorhang geschützt, draußen an der Wand der Sonntags- Speisezettel angeschlagen, den ich wörtlich folgen lasse, damit man zu Hause steht, daß unsere braven Krieger hier draußen nicht zu hungern brauchen: „Morgens 7 Uhr: Java-Kaffee mit condensirter Milch und Zucker. Pro Kopf 5 Ostereier. Mittags 12 Uhr: Ochsensuppe mit deutschen Eiernudeln. Frische Kartoffeln mit Buttersauce, ff. Ochsenbraten. Back pflaumen mit Zucker. Pro Kopf eine Flasche Wilhelmshavener Actienexportbräu. Nachmittags 4 Uhr: Echter entölter Cacao mit Zucker. Abends 6 Uhr: Frisches deutsches Brod mit Prima Holsteiner Süßrahm-Tafelbutter. Kartoffelpuffer mit Zucker und Preißelbeeren. Pro Kopf eine halbe Flasche deutsches Bier aus der Actienbrauerei HeidmUhl bei Wilhelmshaven. Weine: Pumpenheimer zu jeder Tageszeit." Den Eingang zu der Officierswohnung hatten die Soldaten mit einer Fichtenguirlande und der Inschrift: „Fröhliche Ostern" geschmückt. Diese „Wohnung" besteht aus einem winzigen Burschengelaß, das zugleich als Vorrathskammer dient, und dem Lieutenantsgemach, das aus Bequemlichkeitsgründen Eß-, Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer vereint, sechs Meter im Ge viert und drei Meter hoch ist, ein einziges Papierfcnster enthält, während die mit chinesischen Bilderbogen köstlich verzierten Wände weiß getüncht sind, die Decke aus Lehm besteht, ebenso wie der Erdboden, dessen Schäden durch Matten milde verdeckt werden. In einer Ecke das Lager auf einem niedrigen Holz gestell, die Eigenschaften eines Bettes, Divans und Sophos zusammenfassend, in der anderen Ecke der niedrige Koch- und Heizofen, in der dritten auf einem Reisekoffer das blecherne Waschgeschirr, in der vierten ein kleiner Berg von Conserven- büchsen; die Stelle eines Schreibtisches ersetzt eine leere Vor rathskiste, eine zweite dient als Speisetisch; die Unterbringung deS Geschirrs macht nicht viel Mühe, eS sind ja nur acht Stück, darunter zwei Gläser, welche anspruchsvolle Besucher erhalten, die übrigen nehmen mit Obertassen vorlieb, ober wenn man einige Stunden im Sattel gesessen, so schmeckt auch aus diesen der Wein ganz famos! Ueber unser deutsches Gebiet sind jetzt acht solcher Detache ments vertheilt, sie dienen zur Sicherung der Gegend und vor Allem zur Aufklärung des Terrains, um nach den Skizzen der Officiere eine genaue Karte herzustellen, an der es bisher fehlt. Officiere und Mannschaften sind über solche Grenrabcomman- dirung sehr vergnügt; erstere freuen sich ihrer Selbstständigkeit, letztere sind dem Garnisonleben entrückt und lernen Land und Leute kennen; ihre Verpflegung ist vortrefflich, denn bei den billigen Preisen — ein Hammel 7 Mark, ein Ochfe 40—45 Mark — ist an frischem Fleisch nie Mangel. Nach einstündiger Rast ging's mit frischen Kräften wieder vorwärts, jetzt mehr bergan; durch ein weites Vorthal mit prächtigen Ausblicken auf die dahinter liegenden, immer schärfer hervortretenden Berge gelangten wir über einen niedrigen Höhen zug in ein zweites Thal von wahrhaft großartigem Alpen charakter: links ragten die schroffen, zackigen Felszüge des Lauschangebirges machtvoll zum wolkenlosen Himmel empor, von rechts schaute das Meer mit leichten Schaumköpfen herüber, weit vor uns breiteten sich fruchtbare Felder aus, die Regengüsse wegen terrassenförmig angelegt, und kleine Tempel lagen im Schatten ernster, breitkroniger Pinien: das Ganze von über raschend schönem und wohlthuendem Eindruck und von höchstem landschaftlichen Reiz. Dort am Sirande aber flatterte wiederum die deutsche Kriegsfahne, es war das Zollhaus von Schat-se-kau, der äußersten deutschen Grenzstation nach dem Luschau zu. Zur Mittagszeit waren wir da, für die Mannschaften waren bereits Räume hergerichtet, wir fanden bei dem commandirenden Premierlieutenant, dessen Zug vierzig Mann zählte, die gast freundschaftlichste Aufnahme. Auch hier dieselben bescheidensten Zustände, wie in Tschang sun, Alles eigentlich wie in einem Feldzuge. Die „Officiers- mcsse" war in einer schmalen Lehmbaracke untergebracht, die Wände mit Kalk beworfen, der Boden aus losem Sand bestehend, daß bei jedem Schritt der Staub aufwirbelte, die beiden Fenster mit Papier beklebt, neben den drei Stühlen noch einige Kisten zu Sitzgelegenheiten dienend, statt der fehlenden Oefen ver breiteten Holzkohlen in eisernen Becken behagliche Wärme. Zwei Porzellanteller und drei Gläser deuteten auf einen außerordent lichen Luxus hin, sonst wurde aus gewaltigen Blechnäpfen ge trunken und gegessen, aber ich kann versichern, es mundete uns ebenso gut wie von silbernem Geschirr. Den Klang der Osterglocken mußten wir freilich missen, dafür sang uns das nahe Meer sein ewig großartiges Lied, und als wir uns zu früher Stunde auf den in der Messe be findlichen Fremdenbetten, aus grobgefügtcn Holzgestellen mit einer Strohschicht und Decken darüber bestehend, niederlegten, da lullte uns das Brausen der Brandung in einen Schlaf, so fest und köstlich, wie ihn das weichste Daunenbett nicht besser und traumloser zu geben vermag!
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