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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.06.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-06-23
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980623026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898062302
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898062302
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-06
- Tag 1898-06-23
-
Monat
1898-06
-
Jahr
1898
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4792 werden. Danach hätte Cassini geäußert, noch niemals seien die Sympathien zwischen Rußland und Amerika so herzlich gewesen wie jetzt. Er fürchte nicht, daß die Philippinenfrage eine Aenderung in den guten Beziehungen zwischen Amerika und Rußland verursachen könnte, e« sei ader nicht wün- schenswerth, daß vielleicht England Beherrscherin der Philippinen würde; denn dies würde da« politische Gleichgewicht in Ostasien in bedenklicher Weise verschieben. In ganz unqualificirbarer Weise hat der russische „General" Komarow auf dem mit der Palackyseier ver- dundenen Banket des slawischen Journalistencon- gresse« in Prag gegen da« Deutschthum gehetzt. Er bezeichnete das Auftreten der Deutschen Böhmens als das „Heranschleichen des FeindeS gegen Tschechen- und Slawenthum mit WolsSschritten". Seit tausend Jahren schon beherrsche das Germanenthum der Trieb, Alles zu verschlingen. „Nach dem nach der Niederlage der Franzosen", sagte Komarow wörtlich, „Germania wieder erstarkte, unternimmt sie abermal« einen Angriff gegen uns Slawen. Sie will uns überall ver treiben. Sie hat ihre Netze in Rußland, Polen, Böhmen und aus dem Balkan ausgeworfen; sie will uns ver nichten , und das erste Opfer dieses Angriffes sollen die Tschechen sein." Unbeschreiblicher Jubel folgte diesen Aus führungen des Vertreters Rußlands. Selbstverständlich hat die Rede Komarow'S bei der deutschen Bevölkerung Oester reich« eine scharfe Kritik hervorgerufen, aber auch die Regierung tritt diesem „Helden der Feder und des Schwertes" aus das Entschiedenste entgegen. So erhalten wir folgende Meldung: * Wien, 22. Juni. Eio im „Fremdenblatte" veröffent lichtes Eommuaiqu« hebt hervor, daß die höchst taktlose Rede des Generals Komarow bei Gelegenheit der Palacky-Feier in Prag heute die gesammte öffentliche Meinung Oesterreichs beschäftige. Redacteur Komarow könne durchaus nicht als ein Vertreter de: öffentlichen Meinung seines Landes gelten, er genießt vielmehr sammt seinem Blatte in den maß- gebenden Kreisen Rußlands die gründlichste Mißachtung. Dem genannten „General" wurde übrigens, wie das Blatt aus sichrer Quelle erfährt, von der Behörde nicht nur der Mißbrauch der Uniform vorgrhalten, sondern auch sofort nach dem Bekannt- werden der Rede sehr deutlich bemerkt, wie unstatthaft eS fei. Laß rin Fremder, Bürger eines befreundeten Reiches, eS sich herausnehme, derlei Reden in einem Lande zu halten, wo nationale Gegensätze herrschten, wo daher naturgemäß solche Aeußerungen den Charakter einer beabsichtigten Friedensstörung annähmen. Komarow danke es lediglich der traditionellen österreichischen Gastfreundschaft, daß gegen ihn nicht noch ganz anders vorgegangen wurde, und daß er noch innerhalb der schwarz^gelben Grenzpfähle verweile. Wir registriren diese Auslassung des officiösen „Fremden blattes" mit ganz besonderer Befriedigung. Zeigt sie doch, daß die österreichische Regierung einzusehen beginnt, wohin es führt, wenn sie das Deutschthum als Aschenbrödel behandelt und die slawischen Bäume rn den Himmel wachsen läßt. Ueber die Tragweite der Rede Komarow'S wollen wir nicht streiten. In Petersburg hält man nicht eben viel von den Nodomonladen dieses Herrn, aber zu denken giebt doch, daß Großfürst Constantin gleichzeitig mit der Rede Komarow'S im Namen der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Petersburg ein Telegramm nach Prag gesandt hat, in dem auf die Wiedergeburt, den Fortgang und die Selbstständigkeit des tschechischen Volkes hingewiesen wird. In amtlichen türkischen Kreisen wird zu den Vorgängen in Albanien folgende Erklärung gegeben: Von einer Seite, auf welcher offenbar das Bedürfniß vorliegt, auf der Baikanhalbinsel eine völlige Beruhigung nicht eintrelen zu lassen, wurde bereits im Januar und Februar d. I. ver sucht, eine aufständisch« Bewegung in Albanien hervorzurufen. Damals bemühte man sich, Mißstimmung gegen die Regierung zu erwecken und besonders die christlichen Albanesen in einen Gegensatz zu den türkischen Behörden zu bringen. Es wurde dabei sogar für einen Masfenübertrilt muhamedanischer Albanesen zur katholischen Kirche Propaganda gemacht. Diese Bemühungen hatten jedoch keinen Erfolg, da die große Mehrheit der Albanesen, gleichviel, ob sie Christen oder Muhamedaner sind, jede Beeinflussung von Außen zurückweist und in ihrem natürlichen Gegensatz zu dem Slawenthum gerade in der türkischen Oberhoheit die Sicherstellung ihrer in vielen Beziehungen bevorrechteten Nationalität erblickt. Gegenwärtig hat man deshalb einen andern Weg beschritten, um in Albanien einen Zustand der Unordnung zu schaffen. Es sind Personen fcstgestellt worden, welche den muhamedanischen Albanesen vorspiegeln, die tür kische Regierung befinde sich unter einem diplo matischen Zwange und wünsche ein schärferes Auftreten gegenüber den unberechtigten Ansprüchen der drei slaw i sch e n B a lka n- staaten Montenegro, Serbien und Bulgarien. Deshalb würde eS der Pforte sehr gelegen kommen, wenn die Albanesen durch Angriffe gegen die christlichen Einwohner deS nördlichen Albaniens und Makedoniens eine Art Kriegs zustand gegenüber den Balkanstaaten herbeiführen würden. Die türkische Regierung giebt sich jedoch der Hoffnung hin, daß eS auch diesmal gelingen werde, der Verwirrung der Gemüther vorzubeugen. Deutsches Reich. * Berlin, 22. Juni. Hand in Hand mit der Entwickelung deS deutschen SeehandelS und der Rhederei in Deutschland, o wird dem „Schwäb. Merkur" geschrieben, ist naturgemäß eine Steigerung der Leistungsfähigkeit der deutschen Schiffswerften, wie eine Vermehrung und Erweiterung der dem Seeschifffahrtsverkehr dienenden Hafenanlagen gegangen. An Schiffswerften besitzt Deutschland theils laatliche, theils private Anlagen. Die ersten sind die kaiser lichen Werften in Kiel, Wilhelmshaven und Danzig, von denen die beiden erstgenannten zu den größten und best eingerichteten der Welt zählen und alle Einrichtungen zum Neubau wie zu Reparaturen, abgesehen von den- zenigen zur In- und Außerdienststellung u. s. w., besitzen. Sie sind in der Lage, die größten für die deutsche Marine überhaupt in Frage kommenven Panzerschiffe in verbältniß- mäßig kurzer Zeit zu bauen. Die drei kaiserlichen Werften beschäftigen zusammen circa 13 000 Arbeiter. An großen privaten Werften für Kriegs- und Handelsschiffsbau besitzt Deutschland sieben, und zwar sind dies: die Actiengesellschast Weser in Bremen, die Actiengesellschast Vulcan-Stettin, Blohm L Voß, sowie die Reihcrstiegwerft in Hamburg, Schichau in Danzig, die Germaniawerft und die HowaldS- werke in Kiel. Alle bisher genannten Werften sind im Stande, mehrere große Schiff- und Schiffsmaschinenbauten gleichzeitig zu übernehmen. Der Aufschwung, den die ge nannten Werften genommen haben, ist nicht zum kleineren Theil der Ueberweisung deutscher KrirgSschiffSbauten zuzuschreiben. Ihre gesteigerte Leistungsfähigkeit hat sie dabei in den Stand gesetzt, erfolgreich mit dem Aus land im Bau fremder Handels- und Kriegsschiffe zu con- curriren, und jeder auf den deutschen Werften fertiggestellle Bau ist auf seinen Reisen ein werbender Zeuge für die Leistungsfähigkeit der deutschen Werften geworden. Während bis l879 die Tonnenzahl der für die deutsche Flotte im Ausland gebauten oder vom Ausland gekauften Handels schiffe die Tonnenzahl der auf deutschen Werften gebauten Schiffe bei Weitem überstieg, hat sich in den folgenden Jahren dies Verhältniß in sein directeS Gcgentheil verschoben und es stellt sich für 1895 das Verhältniß der in Deutsch land gebauten zu den vom Auslande gekauften Schiffen wie 8:5. Auch hinsichtlich der Docks hat sich auf den Werften die Leistungsfähigkeit bedeutend gesteigert. Durch ein in Hamburg im Jahre 1896 erbautes Schwimmdock von 17 500 Tonnen Hebekraft hat Hamburg auch die größten Schiffe in die Lage versetzt, an Ort und Stelle in« Dock zu gehen und damit die früher nolhwenbige Fahrt nach einem englischen Hafen zu sparen. In Bremerhaven ist gegenwärtig ein Dock im Bau, das Schiffe bis zu 20 000 Registertonnen aufuehmen soll. So zeigt sich denn, zum Theil durch die deutschen Kriegsschiffsbauten, die seit dem Jahre 1874 aus schließlich aus deutschen Werften erfolgten, veranlaßt und gefördert, ein beträchtlicher Aufschwung der deutschen Schiffs bauindustrie, die der deutschen Rhederei die besten Schiffe der Welt zu liefern und Zehntausenden von Werftarbeitern, sowie Hunderttausenden von Arbeitern im Binnenlaude in der Kohlen- und Metallindustrie wie in zahlreichen anderen Gewerben sichere Existenz zu bieten vermag. * Berlin, 22. Juni. Dem letzten Angriff des Herrn Klapper auf die Bromberger Mühlen setzt die General- direction der Seehandlungssocielät die bündige Er klärung entgegen, daß der von Herrn Klapper genannte Händler in D. niemals von den Bromberger Werken direct oder durch deren Agenten irgend einen Posten Mehl bezogen habe. In einem Schreiben an die „National-Zeitung" fügt die Direction ihrer Erklärung noch folgende Bemerkungen hinzu: „Nach den von uns veranlaßten Ermittelungen hat eine uns namentlich benannte Berliner Getreide-Firma, welche niemals Agenturgeschäfte für dir Brombcrgrr Mühlen abgeschlossen hat, dem seitens der „Agrarzritung" unS namhaft gemachten Händler in D. am 3. April dieses Jahres 2000 Crntner Bromberger Mehl, zu liefern bi- 1. April 1899, verkauft. Die verkaufende Firma hat vorher unterm 2. April dies- Jahres bei unserem Agenten an der Berliner Börse ungefragt, ob er ihr Weizenmehl Gelbband der Bromberger Mühlen per October-Septcmber 1898 liefern könne, darauf aber die Antwort erhalten, daß die Bromberger Mühlen so weitsichtige Geschäfte nicht machten. Sie hat daher anderweitig Deckung gesucht und gesunden. Mehl der Bromberger Mühlen, insbesondere da« „Grlbband", ist im Mehlhandel eine sehr bekannte, viel gehandelte Waare, die Jeder auch auS zweiter und weiterer Hand kaufen kann. Wir schließen diese Erörterungen mit der Erklärung, daß die Behauptungen der „Agrarzritung", die Bromberger Mühlen hätten im laufenden Frühjahre in märkischen Provinzialstüdten viele Tausende von Centnern Weizenmehl, lieferbar vom 1. April 1898 bis 1. April 1899, zu Preisen von 23 bis 29 ./L pro 100 contractlich ab ¬ geschlossen, völlig unwahr« sind und daß Schriftstücke, Inhalt- deren nach der Behauptung der „Agrarzritung" die Bromberger Mühlen direct oder durch Agenten dem uns benannten Händler in D. Mehl verschlossen haben sollen, nur auf Fälschung beruhen können." — Der belgische Justizminister Begerem, der gestern in Dre-den weilte, besichtigte beute die Irrenanstalt in Halle. Bon dort begiebt er sich über Frankfurt a. M., das er noch nicht kennt, nach Brussel zurück. Der Minister hat in den von ihm besuchten Irrenanstalten da« in Belgien noch nicht eingcsübrte System der Einzelpavillon« und ins besondere die Bewachung der Irren studirt und hat sich, der „Kreuz-Ztg." zufolge, über die gewonnenen Eindrücke und über die Aufnahme, die er auf deutscher Erde gefunden hat, l in hohem Grade befriedigt ausgesprochen. — Der erste CursuS zur Ausbildung von Lehrern an kaufmännischen Fortbildungsschulen wurde am 20. d. M. zu Berlin eröffnet. Im Auftrage des Ministers für Handel und Gewerbe begrüßte der Geheime Regierungs rath Simon die unberufenen Lehrer, indem er zugleich auf die Bedeutung der Lehrcurse für die weitere Entwickelung de« kaufmännischen Unterrichtewesen« hinwie«, und deren innere Einrichtung erläuterte. Einberusen sind 36 Lehrer aus allen Theilen Preußens. Die Vorträge erstrecken sich auf kaufmännisches Rechnen und Handelslehre, Buchführung, Handelsrecht, kaufmännische Correspondenz und Wechsellehre. Außerdem werden einige kaufmännische Fortbildungsschulen in Berlin besichtigt und DiScussionSabende über Themata aus verschiedenen Gebieten deS kaufmännischen UnterrichtS- wesens veranstaltet werden. * Landsberg a. W., 21. Juni. Der sechste VerbandStag der brandenburgischen Tischlerinnungen erklärte in einer Resolution als Haupterforderniß für die Erhaltung und Förderung des Handwerkerstandes die Vereinigung aller seiner Angehörigen auf dauernder und einheitlicher Grundlage. Zu diesem Zwecke empfiehlt derselbe die Bildung von ZwangS- innungen überall, wo dieselben möglich sind. * Neustadt a. Rübenberge, 21. Juni. Die „Leine-Ztg." bringt folgende amtliche Bekanntmachung: „Die unter dem 9. Februar 1894 ertheiite Bestätigung der Statuten des Kriegervereius Mariens»« ist wegen des statuienwidrigen Verhaltens der überwiegenden Mehrzahl seiner Mitglieder mittels Verfügung vom heutigen Tage zurückgezogen worben. Der genannte Verein hört infolgedessen von heute ab auf, ein Kriegerverein zu sein, und geht insbesondere des Rechts ver lustig, eine Fahne zu führen. Neustadt a. Rübenberge. Der Königliche Landrach. v. Woyna". Das Wahlergebniß ließ klar erkennen, daß die meisten Kriegervereinsmitglieder in Mariensee den Candidaten der welfischen oder socialdcmokratischen Umsturzpartei ihre Stimmen gegeben hatten. Wegen dieser unpatriotischen Haltung der Mitglieder wurde die Auflösung de« Vereins verfügt. * Minden, 21. Juni. In der „Köln. Ztg." lesen wir: Höchst bezeichnend ist die Art und Weise, wie die frei sinnige Partei in dem Wahlkreise Minden-Lübbecke für ihren Candidaten zur Stichwahl Stimmen zu erlangen sucht; dies geht am besten aus dem Verlause einer am Sonnabend hier abgehaltenen socialdemokratischen Versammlung hervor. Es wurde darin von einem hier führenden Genoffen mitgctheilt, daß der freisinnige Candidat sich mit dem Ham burger Parteiprogramm der Socialdemokraten einverstanden erklärt habe, zwar mit dem recht dehnbaren Vorbehalt, daß er für die Vermehrung der Militairlasten stimmen werde, wenn er dieses für unbedingt notbwendig erachte. Es wurde darauf beschlossen, für den freisinnigen Candidaten als daS kleinere Uebel zu stimmen. Mitgetheilt wurde noch, vaß das freisinnige Wahlcomits versprochen habe, in Zukunft bei den Wahlversammlungen das „bekannte Hoch" zu unterlassen, damit die anwesenden Social demokraten nicht in die Lage geriethen, mit dem Strafgesetz in Conflict zu kommen. Auch hat dasselbe Wahlcomitv sich erboten, den Socialdemokraten die Agitationskosten für die bevorstehende Stichwahl zu ersetzen. Mehr kann mau eigentlich von einer „Vorfrucht" nicht verlangen. * Hannover, 21. Juni. Der 21. Deutsche Fleischer- Verba ndStag stellte sich bei der Abstimmung über die Frage der Organisation in seiner großen Mehrheit aus den Standpunkt der freien Bereinigung. Der Referent Lautze- Darmstadt kritisirte eine Menge einander völlig wider sprechender Gutachten von vereidigten Sachverständigen und Chemikern über die Schädlichkeit verschiedener jetzt zur Ver wendung kommender ConservirungSmittel im Fleischer gewerbe und stellte folgende Resolution: „Der VerbandS- vorstand möge beim Reichskanzleramt darum ersuchen, daß seitens des Reichsgesundheitsamtes festgestellt werde, welche der seither gebräuchlichen ConservirungSmittel, bezw. welche Mengen derselben zur Conservirung von Fleisch, insbesondere als Zusatz zu Hackefleisch, zulässig sind. Da nach Ansicht eines großen TyeileS der Chemiker keine« der bis jetzt gebräuchlichen Mittel al« ganz unschädlich be zeichnet werben kann, wird der Verbandsvorstand gleichzeitig beauftragt, wenn nöthig durch Preisausschreiben, zur Her stellung eines wirksamen, unschädlichen Mittels aufzufordern." Der Antrag gelangte einstimmig zur Annahme. Ferner Tell, und wieder zürnt er sich im Stillen, daß er keine wärmeren, natürlicheren Worte zu finden vermag; „ich wäre auch sofort herausgekommen, aber die leidigen Amtspflichten hielten mich fest; erst heute konnte ich mich los machen." Er kommt sich wie ein ertappter Dieb vor; wird man ihm nicht die Lüge vom Antlitz ablesen? Die beiden Damen sehen ihn auch so eigenthümlich fragend an — mein Gott! hätte er sich nur nicht hierher begeben! In welchem Lichte muß er dieser Frau erscheinen, der er ihr Liebstes so schnöde hat rauben wollen? Aber seine Vermuthungcn sind doch wohl unbegründet. Frau von Brank berichtet jetzt, mit welcher Hingebung der gute Just ihren Gatten gepflegt habe; dieser Mann sei wirklich eine Perle; daS ganze Haus habe sich schon so an ihn gewöhnt, daß man an seine wahrscheinliche baldige Rückkehr nach Berlin noch gar nicht zu denken wage. Kann man denn so unbefangen mit Jemanden plaudern, gegen den man einen schweren Borwurf auf dem Herzen hat? Nein! Einer solchen Verstellung ist Frau von Brank nicht fähig. Tell findet sein Selbstvertrauen mehr und mehr wieder; er schüttelt ollen Zwang und alle Unsicherheit von sich ab und ist bei Tische ein munterer und liebenswürdiger Gesellschafter; nur Ellen schaut nach ihm, wenn sie sich un beobachtet wähnt — so wenigstens glaubt er zu bemerken —, mit heimlich musternden Blicken; aber auch sie nimmt Theil an der allgemeinen Unterhaltung, und sie lacht fröhlich ihr silbernes Lachen, wenn Tell einen Scherz erzählt oder Just ein drolliges Abenteuer aus seinem amerikanischen Nomadenleben zum Besten giebt. Nach der Mahlzeit begleitet der Staatsanwalt den Freiherrn auf einem Musterungsgange durch den Wirthschaftshof, die Stallungen und die Treibereien. Just ist im Schlöffe geblieben, um, wie er scherzhaft versichert, den Damen seine Dienste zu widmen. Der Staatsanwalt gewahrt zu seiner Ueberraschung, wie bereitwillig und ehrerbietig der Gutsherr von seinen Knechten und Mägden begrüßt wird, und er macht eine darauf bezügliche Bemerkung. „Knechte und Mägde?" wiederholt der Freiherr mit leise tadelnder Betonung. „Mein lieber Herr Staatsanwalt, für mich giebt es keine Knechte und Mägde mehr, ich kenne nur Arbeiter und Arbeiterinnen, denen ich ein möglichst freundlicher und kameradschaftlicher Arbeitgeber zu sein bestrebt bin. Meine Frau hat noch einige Mägde im Schlöffe; diese gehören aber zum Hausgesinde, zur Familie, und die besten und zuverlässigsten werden von ihr zur Auszeichnung noch mit „Du" angeredet, worauf diese Mädchen immer recht stolz sind." „Ihre Arbeiter scheinen Sie hoch zu verehren, Herr von Brank; eine Seltenheit in unseren Tagen." „Hier in Giesdorf keine Seltenheit. Obgleich die Hauptstadt so zu sagen vor meiner Thür liegt, habe ich doch noch nie über Arbeitermangel zu klagen gehabt." „Dann müssen Sie einen Zauberstab besitzen, mit dem Sie die freizügigen Leute zu bannen wissen." Brank lächelt: „Dieser Zauberstab heißt menschenfreundliche Behandlung. Ich sage: menschenfreundliche, nicht menschen würdige. Wie heißt es doch im Hamlet: „Behandelt jeden Menschen nach Würdigkeit, und wer ist vor Prügeln sicher?" Das Wort „menschenwürdige Behandlung" ist eine socialdemo kratische Phrase, unter der die Kurzsichtigkeit und Begehrlichkeit allerlei Contrebande über die Grenze des Vernünftigen einzu schmuggeln sucht. Aber menschenfreundlich behandle ich meine Arbeiter; ich gebe ihnen gesunde Wohnungen, guten Lohn, die besten Kartoffeln und das schönste Brodgetreide; die Frauen und Kinder meiner Arbeiter wissen, daß sie an meiner Frau und Tochter jederzeit Freundinnen und Helferinnen in der Noth haben. Das lohnen mir denn die Leute durch freudige Pflicht erfüllung und durch zähes Festhalten an den ihnen liebgewordenen Verhältnissen. Ich habe keine Strich- und Zugvögel unter ihnen. Ich möchte meinen Standesgenoffen keinen ungerechten Vorwurf machen; wenn ich aber von dem Arbeitermangel in gewissen Gegenden höre, dann frage ich mich immer, ob denn den Leuten dort auch immer und ausnahmslos eine menschenfreundliche Be handlung zu Theil wird." Gegen fünf Uhr kehrten Beide ins Schloß zurück. „Sie müssen vorlieb nehmen, Herr Staatsanwalt", sagt Frau von Brank, indem sie den Gast an den Theetisch cinladet, „wenn Sie hier wirklich nur eine Tasse Thee finden . . . ." „Und keine Schweinevesper", ergänzte lachend der Hausherr, „wie sie noch vielfach um diese Zeit eingenommen wird. Ich bin kein Nachäffer des Fremden, aber die Engländer sind hinsichtlich der Diät ganz verständige Leute, und meinen läv« o'dock toa lasse ich mir nicht nehmen. Etwas Orangenmarmelade gefällig? Echt schottische, kann sie empfehlen." Nach dem Thee — er ist im Gartensaale genommen worden — geht Ellen an den Flügel und fragt den Staatsanwalt: „Soll ich Ihnen ein Lied singen?" „Thu das, mein Kind", versetzte der Freiherr statt de« Ge fragten, mich aber entschuldigt, wenn ich Herrn Just in mein Arbeitszimmer entführe; er wird mir bei der Abfassung einiger Geschäftsbriefe gewiß behilflich sein." Bald sitzt Ellen am Flügel, Frau von Brank hat mit einer Häkelarbeit auf dem Rundsopha in der Mitte de» Saales Platz genommen und der Staat-gnwalt setzt sich unfern de« Flügels m einen Schaukelstuhl. „Ich komme vom Gebirge her", beginnt Ellen mit klangvoller, vortreflich geschulter Sopranstimme zu singen. Die Zauber weise des immer wirkungsvollen Schubert'schen „Wanderers", das tiefe Weh des unbefriedigten Sehnens, das aus diesen Tönen quillt, bewegt das Herz des andächtig Lauschenden. Im Geisterhauch iönt's mir zurllck: Dort, wo vu nicht bist, dort ist das Glück! Tell schauert unter der düsteren Schwermuth dieser Klänge zusammen, auch an ihm, wie an jedem Menschen, der nicht seelen taub ist, vollzieht sich das Wunder, das nur die Musik zu be wirken vermag: in der Tiefe seines Herzens brechen die Quellen neuer Gefühle auf, in seinem Hirn dämmern die Ahnungen neuer Gedankenreihen, die er sonst noch nie durchlaufen hat, die aus der gemeinen Wirklichkeit hinausführen in die Unendlichkeit des Ueberfinnlichen. Was keine Mathematik und keine Logik zu erschließen vermag, das erschließt uns die geheimnißvolle Macht der Töne: eine neue Welt losgelöst vom Satze des zureichenden Grundes, eine Welt der Entzückung, des wollüstigen Schmerzes, des himmelhohen Jauchzens und zum Tode Betrübtseins. „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück!" Gilt das ihm? Ruft ihm Ellen dieses vernichtende Wort zu? Ist er wirklich ein fried loser Mann geworden, verbannt aus dem Paradiese der Hoffnung und Liebeswerbung? Sie hat geendet und schaut nach ihm hinüber, wie um ihn zu fragen, ob ihm das Lied gefallen habe. Er nickt ihr schwer- mllthig zu; sein Herz ist so aufgewühlt vom Sturme der wider sprechendsten Gefühle, daß ihm das Wort versagt und er nur schweigend seinen Beifall ausdrücken kann. Ellen legt ein anderes Heft auf da« Notenpult. „Ich will ein paar Lieder von Schumann singen, er ist doch der Fürst unter den deutschen Liedercomponisten." Und nach kurzem Vorspiel be ginnt sie: Es ist schon spät, es ist schon kalt, Was reit'st du einsam durch den Wald? Tell kennt auch dieses „Waldgespräch", da« ihm «ine der schönsten Perlen deS deutschen Liederschatzes ist; gespannt folgt er dem ziemlich raschen, dramatisch bewegten Dortrage, und wie Ellen daS packende „Jetzt kenn' ich dich, Gott steh mir bei!" hinaussingk, da läuft es ihm kalt über den Rücken, und wie sie mit der unheimlichen, vernichtenden Verkündigung der Hexe schließt: „Kommst nimmermehr au- diesem Wald!" da hat er wieder die Empfindung, al- ob er selbst der Verstoßene, der Lod bedrohte sei, und die Wucht diese- düsteren SchickfalSspruchrS legt sich jhm crntner schwer auf die Seele., wurde in der heutigen Sitzung der Antrag de« Bezirk-Verein« Thüringen: „Der Verband möge bei der Reich-regierunz und dem Bunde-rarhe auf entsprechende gesetzliche Besteuerung der Consumveretne hinwirken, wie e« bereit« einige Bunde-staaten tbun, und womöglich auf die Einführung de« Bedürfnißnachweise« Hinweisen und denselben erstreben", nach eingehender Debatte angenommen. * Guten, 22. Juni. Der Streit de« Prinzen Schvnaich- Carolath mit dem Bündlerthum hat eine überraschende Wendung insofern genommen, al« der Vorstand de« con- servativen Verein« für die Stadt und den Landkreis Guben bekannt gemacht hat, daß er, da ein Sieg des con- servativen Candidaten von Hehdebrand, der mit dem Prinzen Schönaich-Carolath in Stichwahl steht, ausgeschlossen sei, eS den Wählern überlasse, ob sie in der Stichwahl von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollen oder nicht. . * Eisenach, 2l. Juni. Heute Nachmittag 3'/, Uhr trafen der Großberzog und die Erbgroßherzogin-Wiltwe mit dem fahrplanmäßigen Scknellzuge hier ein, am Bahnhofe von dem Prinzen Bernhard Heinrich von Weimar und den Spitzen der hiesigen Civil- und Militairbehörden empfangen. Nach kurzem Aufenthalte begab sich die großherzoglichc Familie im offenen Viererzug nach Schloß WilhelmSthal, wo unser Landesherr in stiller Zurückgezogenheit seinen 80. Geburtstag verleben wird. Die Straßen zeigten bereit- prächtigen Festschmuck. — Der Herzog-Regent und I. H. die Herzogin Johann Albrecht von Mecklenburg treffen morgen hier ein. Von WilhelmSthal wird sich der Herzog-Regent am 27. d. M. direct zur Hauptversammlung der Deutschen Colonial-Gesellschaft nach Danzig begeben. * Weimar, 20. Juni. Die städtischen Behörden zu Weimar werden zu dem 80. Geburtstage des Großherzogs eine Glückwunsch-Adresse überreichen, deren Text in altgothischer Schrift kalligraphirt ist. Rechts zeigt sich das großberzogliche Schloß, link« da« Landes- und Stadtwappen mit Krone über Veilchen, den LieblingSblumen des Jubilars, darunter ist daS Stadthaus zu Weimar ersichtlich. Die Adresse ist mit landesfarbener Schnur in einer Mappe von blauem Seidenplüsch befestigt. Die Adresse lautet: Durchlauchtigster Großherzog! Gnädigster regierender Lande«- fürst und Herr! Eurer Königlichen Hoheit, dem weisen und ge- rechten Regenten, dem Beschützer der Künste und Wissenschaften, dem in selbstloser Liebe zu dem deutschen Vaterlande Seiner Majestät dem deutschen Kaiser als treuer Rathgeber zur Seite stehenden ältesten deutschen Fürsten, dem Protector de- „Evangelischen Bundes" und erlauchten Erhalter und Schützer evangelisch-lutherischen Glaubens, dem Wiedererbauer der Wartburg, dem allverehrten Landesvater, der die Verfassung, die Sein hoher Ahne gegeben, fest und getreulich gehalten in Stadt und Land, Gewerbe, Kunst und Landwirthschaft gefördert und die in Seiner Haupt- und Residenz- stadt vorhandenen Schätze der Kunst in dem herrlichen Bau des Museum- vereint, dem edlen Fürsten, der ungeachtet der schwersten SchicksalSschläge, die Ihn im Alter betroffen, im Ver- trauen aus Gott mit seltener Selbstbeherrschung nach wie vor die Pflichten Seine- hohen Berufe- freudig sortersüllt und Seinem Volke ein leuchtendes Beispiel von Goltvertrauen und treuer Pflicht erfüllung gegeben hat, beehren sich die städtischen Behörden der Haupt- und Residenzstadt Weimar zugleich tm Namen der Bürger schaft die ehrerbietigsten Glück- und Segenswünsche zu dem hohen Geburtstage in größter Dankbarkeit und mit dem Wunsche darzu- bringen: Gott der Allgütige wolle Eure Königliche Hoheit noch lange zum Heile de- Lande- in Kraft und Gesundheit erhalten! In tiefster Ehrerbietung u. s. w. * Hof, 21. Juni. Aufsehen erregt nach dem „Fr. K." der Rücktritt des Bürgermeisters von Markl-Redwitz, dessen wahrscheinlicher Grund der Umstand ist, daß in den Wählerlisten 99 Namen gefehlt haben. * Nürnberg, 22. Juni. Der demokratische „Nürnberger Anzeiger" wurde wegen Abdruck« eine« Artikel« der „Zukunft" beschlagnahmt, der bereit« uuter die Anklage wegen Majestätsbeleidigung gestellt ist. * Karlsruhe, 21. Juni. Hier war zur ReichStagSwahl am 16. d. M. auch ein Flugblatt verbreitet worden, in welchem die Abgabe eine« beigegebenen Wahlzettels mit den gedruckten Worten: „Ich wähle nicht", al« Ausdruck der Unzufrieden heit bei gleichzeitiger Erfüllung der Wahlpflicht empfohlen war. In vielen Wahlbezirken wurden derartige Wahlzettel in großer Anzahl abgegeben. * München, 21. Juni. DaS endgiltigeWahlresultat auS den 48 bayerischen Wahlkreisen stellt sich folgender maßen dar: Im ersten Wahlgange gewählt 30 Abgeordnete (22 deS CentrumS, 3 deS Bauernbundes, 2 der Socialdcmo- kratie, 1 der Conservativen, 1 der nationalliberalen Partei und 1 Wilder); in 18 Wahlkreisen finden Stichwahlen statt, an denen betheiligt sind: 11 Candidaten deS CentrumS, 9 der nationalliberalen Partei, «8 der Socialdemokratie, 4 des Bauernbundes, 1 Liberaler (Schwarz), 1 Candidat deS Bundes der Landwirthe, 1 der Conservativen und 1 der deutsche» BolkSpartri. Oesterreich-Ungarn. Die Unruhen in Galizien. * Lemberg, 23. Juni. (Telegramm.) In den Bezirken Gorlice, Jaslo und Storzyzow herrscht heute völlige Ruhe. Bessere Bevölkerungsschichten sind nirgends von der Bewegung mitgerissen worden. Die Sängerin schweigt, dann wendet sie einige Seiten des Heftes um und hebt von Neuem an: Ich kann wohl manchmal singen, Als ob ich fröhlich sei . . . Auch dieses Lied hat sic schon früher einmal dem Staats anwalt vorgesunaen, aber den Eindruck, den es heute aufi ihn macht, hat er in solcher Stärke damals nicht empfunden. Mein Gott, denkt er, wie ergreifend kann dieses Mädchen singen. Sie muß wohl selber den Schmerz kennen, um ihn so wahr und überwältigend auszudrücken. Aber, fragt er sich zweifelhaft, was sollte einer Ellen von Brank, dem verwöhnten Liebling des Hauses, dem Schooßkinde des Glückes, schon Schmerz bereitet haben? Doch keiner fühlt die Schmerzen, 2m Lied das tiefe Leid . . . In einem schwermüthigen Ritardando hat sie diesen Schluß hingehaucht, er klang wie das unwillkürliche Bekcnntniß einer sonst streng verschlossenen, einsam trauernden Seele. Bis ins Innerste des Herzens fühlt sich Tell erschüttert, aber diese Erschütterung ist zu gleicher Zeit — welch wunderbare Wirkung der Musik — so süß und wohlthuend, daß er um keinen Preis dem Strome dieses tönenden Ergusses Einhalt thun möchte. Trotzdem bittet er Ellen: „Nichts Trauriges mehr, gnädige« Fräulein, es erdrückt mich." „Dann soll Sie der Sonnenschein wieder aufrichten", tönt es munter zurück, und Ellen hebt an: O Sonnenschein, o Sonnenschein, Wie schaust du mir ins Herz hinein! Anmuthig und schalkhaft, wie ein neckender Liebe-gott, trägt sie die herzige Weise im Volkstöne vor, und au« der Seele de« Staatsanwaltes schwinden die trüben Wolken und das goldene Licht deS Hoffens und der Zuversicht geht ihm wieder triumphi- rend auf. Ein silbernes Lachen fügt sie als improvisirtes MeliSma dem Schlußaccord an, dann steht sie auf und fragt in ungesuchter Einfachheit: „Isis nicht ein herzige« Lied?" „Da» wirkt kräftiger al» vier Wochen Sommerfrische!" er widert Tell voll aufrichtigen Danke-. „Sie haben mir einen hohen Genuß bereitet." (Fortsetzung folgt.)
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