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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.03.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-03-18
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960318020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896031802
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896031802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
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Jahr
1896
-
Monat
1896-03
- Tag 1896-03-18
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Monat
1896-03
-
Jahr
1896
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2062 Die „Köln. VolkSztg." zeigt sich natürlich hochbefriedigt von den neuerdings in der „Kreuzztg." häufig wiederkehrenden Versuchen, in Preußen ein allgemeine« BolkSschulgesetz nach dem Muster deS Zrdlitz'schen zu erzwingen. Das klerikale Organ nimmt aber eine gemeinsame parlamentarische Initia tive nicht in Aussicht, sondern erklärt die consrrvative Partei für verpflichtet, den Zlnfang zu machen. Ebenso natürlich. Denn daS Centrum hat keinen Grund, durch Aeußerlichkriten kenntlich zu machen, daß mit einer Schulvorlage, wie die deS IahreS 1892, lediglich ultramontanen Zwecken gedient wäre, während daSGrlingen einer auf ein solchesGesetz gerichteten kon servativen Action zwar ohne Zweifel einen taktischen Erfolg der conservativen Parteileitung, aber zugleich eine Schädigung des Protestantismus bedeuten würde. Vor vier Jahren ist denn auch keine evangelisch-kirchliche Partei in Preußen, selbst die Orthodoxie nicht, einmüthig in der Billigung deS Zrdlitz'schen Entwurfs gewesen, und die Herbeiführung einer einheitlichen Stellungnahme der conservativen Fraction hat große An strengungen gekostet, namentlich einem ihrer Mitglieder, dessen Dienste für die evangelischen Freunde eines klerikalen SchutzgcsetzeS heute nicht mehr in Betracht kämen. In der Fraction mögen sich ja allerdings gegebenen Falles Schwierigkeiten nicht mehr erheben, daß aber das Land sich jetzt bereitwilliger als vor vier Jahren, der Führung ver conservativen Partei in einem unter dem Schlachtrus „für Religion und darum für Sittlichkeit" geführten Kampfe ^»vertrauen werde, dafür sind keine Anhaltspunkte gegeben. Die „Kreuzztg." hat sich immer bemüht und thut es heute noch, die Bewegung, von der daS Zedlitz'sche Schulgesetz binweggcräunit worden ist, als eine künstlich gemachte und im Grunde schwache hinzustellen. Diese Behauptung stumpft ihre Wirkung je mehr ab, je länger sie beweislos vorgebracht wird. Run ist aber gerade der jetzige Augenblick überaus günstig, ihre Richtigkeit praktisch darzuthun. Der Wind, der die obligatorische Civilehe umstoßen soll, ist aus demselben Sacke gelassen, wie der, von dem die „Kreuzztg." ein reac- lionairesSchulgesetz auf den Tisch des preußischen Abgeordneten hauses geweht haben möchte. Bis zur Stunde spürt man, obwohl rie Kanzel in Anspruch genommen ist, von dem ersteren „kaum einen Hauch", vielleicht weil die Parteileitung noch nicht den inneren Zusammenhang der beiden Dinge und rannt die Gelegenheit erkannt Hal, den Ausgang der Krisis von 1892 als daS Ergebniß eines Irrthums erscheinen zu lassen. Nachdem wir hiermit den Betheiliaten den Staar gestochen, laden wir sie ein, mit einem Orkan gegen die Zivilehe die „Gegenprobe" auf die Stärke der Bewegung wider die codificirten Windthorst'schen Schulanträge zu machen. Inden programmatischen Erklärungendes y'abtnet« Rudint ist für uns in erster Linie die Versickerung reS Ministerpräsidenten, daß Italien seinen Bundesver- pflichtungen unerschütterlich treu bleiben wird, sowie der Um stand von besonderem Interesse, daß diese Erklärung mit warmen Beifallsrufen begrüßt wurde. Die Dreibundpolitik ist demnach in Italien noch ebenso populär wie vor Adna, waS auch auS einem Leitartikel der „Opinione" mit der Ueber- schrift „Die Traditionen der äußeren Politik" kervorgeht, in welchem auSgeführt wird, daß die auswärtige Politik Italiens nunmehr keiner Diskussion mehr unterworfen sei, da Ministerwechsel auf sie keinen Einfluß haben. Man betrachte in Italien jetzt den Dreibund als selbst verständlich; an der Spitze der Regierung stehe der Mann, der 1891 die Verträge erneuert hat. Marineminister sei gegen wärtig derMann.der diese traditionelle Politikfortgesetzt hat,und Minister deS Aeußern der Edelmann, der im Jahre 1893 durch daS Fest, daS er dem deutschen Kaiserpaarc gab, selbst den König überraschte. WaS die Afrikapolitik deS neuen Cabinets betrifft, so ist eS zunächst freudig zu begrüßen, daß dasselbe, wie wir voraussetzten, an einen überstürzten Frieden mil Melenik nicht im Entferntesten denkt, sondern nur bestrebt ist, einen Waffenstillstand herbeizufiihren, um während dieserZeit ein schlagfertiges Heer in Abessinien zu sammeln. Aus diesen Macht- sactor gestützt, würde dann im Herbst von Italien eine Ent scheidung herbeigeführt werden, die entweder, wenn Menelik auf einen für Italien ehrenvollen Frieden eingeht, in fried lichem oder im anderen Falle in kriegerischem Sinne auS- sallrn wird. ES ist nur die Frage, ob der NeguS so lange still zu liegen beabsichtigt. Da er mit der Ergänzung und Neuverproviantirung seines HeereS von der noch nicht auSgesogenen Provinz Tembien (südlich von Adua) auS fertig sein dürfte, ist es nicht ausgeschlossen, daß er noch vor Ein tritt der großen Regenzeit den letzten Gang wagt, da es sehr fraglich ist, ob es ihm gelingen wird, sein Heer, das bald wieder mit Verpflegungsschwierigkeiten zu kämpfen haben wird, bis zum Herbst zusammenzuhalten. Daß das Cabinet Rudini den Vertrag von Utschalli, oder wenigstens den das italienische Protektorat enthaltenden Paragraphen desselben ohne Weiteres preisgiebt, entspricht vollständig der Sachlage, da der Vertrag nach den Siegen Menelik'S rhatsächlich nicht mehr besteht und auch sonst zweifelhafter Natur war. Be denklicher erscheint unS der principielle Verzicht auf Tigre und somit auf jede Ausdehnung des afrikanischen Besitzes über die alten Grenzen von Erythräa hinaus. Begnügt sich Menelik mit der Räumung TrigreS, ohne entehrende Forderungen damit zu verbinden, so wird Italien Alles auf sich beruhen lassen und auf die Wiederherstellung seiner Waffenehre verzichten. Damit würde es sich freilich als kolonisatorische Macht bankerott erklären und sich zu einem Vorposten der englischen Macht im Sudan degradiren. Giebt man in Rom sich vielleicht der Hoffnung bin, daß man nach einem ehrenvollen Frieden mit dem Herrscher im Süden seinen Machtbereich nach Westen über Asmara und Kassala hinaus auSdehnen könne, so täuscht man sich gewaltig. Die Engländer haben ja nur darauf gewartet und vurch Versagung jeglicher Unterstützung mit darauf bin gearbeitet, daß Italiens coloniale Ader in Abessinien sich verblute, um dann an seine Stelle zu treten. Vor Adua war Italien für England ein sehr wohl zu respec- tirender Alliirter gegen die Mabdisten, dem man einen Theil der Beule am Ende eines siegreichen Feldzuges nicht hätte vor enthalten können. Jetzt aber glaubt England auch ohne Italien, von dem eS sich thatkräftiger Hilfe nicht mehr ver sieht, mit den Mabdisten fertig zu werden, und wenn dies ihm gelingt, wird Italien zweifellos daS Nachsehen haben, es wird Kassala an England zurückgeben müssen und so auch nach dem Westen hin einem rücksichtslosen: „Bis hierher und nicht weiter" begegnen. Wir hätten freilich gewünscht, daß Italien sich mit einer weniger be scheidenen Rolle begnügt und wenigstens den Beweis geliefert hätte, daß eS allein als Sieger über einen nicht zu schwachen Gegner hervorzugehen vermag, aber wir dürfen nicht italienischer sein wollen, als die Italiener selbst. Auch bleibt ja immer noch die Möglichkeit, daß die Friedensbedingungen Menelik'S unannehmbar sind und bleiben und daß Italien infolge dessen zu einer Fort führung des Krieges gezwungen wird. Geht dieselbe, wie wir zuversichtlich annehmen, für Italien siegreich zu Ende, dann wird immer noch Zeit sein, daS afrikanische „Abenteuer" nochmals auf die Tagesordnung zu bringen und die öffent liche Meinung Italiens abermals zu befragen, ob eS gut getban sei, auf Tigre zu verzichten. Schon jetzt sprechen sich vereinzelte dem neuen Regime sonst gewogene Stimmen tadelnd darüber aus. Letzter Tage wurde über eine kleine Scklappe der Niederländer, welche ihnen die Atjinesen auf Sumatra bei gebracht haben, berichtet. Eine 74 Mann starke Patrouille aus Anakgalung wurde überfallen, bei welcher Gelegenheit 1 Ser geant, 1 Corpora! und 6 Mann getödtet, 1 Lieutenant und 3 Mann schwer und 1 Capitaiu, 2 Lieutenants, 1 Assistenz arzt und 21 Soldaten leicht verwundet wurden. Die Atjinesen verloren 37 Todte, darunter 6 Stammeshäupter. Das Vorkomm- niß istnickt von großerBedeutungund giebt keineUrsache zu weiter gehenden Befürchtungen. Das kleine Gebiet, das die Holländer in Atjeb besetzt haben, wird immer wieder von den unabhängigen Eingeborenen angegriffen, und die Vertheidigungslinien sind darum auch in stetiger Veränderung. Anakgalung ist der äußerste südliche Posten der sogenannten concentrirten Linie; er liegt am linken Ufer des Atjeh-Fluffes, nur 9 Kilometer von der Mündung entfernt. Gegen Ende der 70er Jahre war Anakgalung der größte Benteng auf Atjeh. Es lag dort der Stab, ein Bataillon Infanterie, Artillerie u. s. w.; auch ein großes Lazareth befand sich dort. Die Sicherheit war damals unter General van der Heijden so groß, daß un bewaffnete Officiere mit ihren Damen Spaziergänge in der Umgegend unternahmen. Nach van derHeijden's Rücktritt wurde der Benteng verlassen, und die Atjinesen nahmen ibn in Besitz. Unter dem Regime des gegenwärtigen Gouverneurs, Generals Deijckerhoff, wurde die Wiederbesetzung für wünschenSwerth erachtet. Der befreundete Atjinesen-Häuptling Tuku Djohan, Panglima prang besaar empfing den Auftrag, neben anderen BentengS auch Anakgalung zurückzuerobern, und er löste diese Aufgabe, unterstützt durch niederländische Reichsthaler und Bajonnette. Gegenwärtig besteht die Besatzung Anakgalungö aus 1 Capitain, 3 Lieutenants, 1 Assistenzarzt (sämmtsich verwundet), 150 Infanteristen uud 12 Artilleristen. Im vorigen Jahre wurde Anakgalung ebenso wie die benachbarten Verschanzungen Senelop und Kroeng Goempong aus der seiudlichcn Nachbarschaft, sogar mit Geschützfeuer häufig be schossen. Die Grenzlinien müssen immerwährend von starken Patrouillen begangen werden, zumal da auch die Verthcidignng derselben zum großen Theil befreundeten Stämmen überlassen ist, und da ereignet es sich eben öfter, daß die Truppe von Eingeborenen, die sich im hohen Grase versteckt halten, über fallen wird. In Serbien ist eine schleichende Ministerkrisis vor handen, die znm Theil in der Frage der Verfassungsrevision, zum Haupttheil jedoch in den finanziellen Nötben ihren Ursprung hat. Der Finanzminister hat sich von der Monopol verwaltung eine halbe Million Francs „geborgt" und ser bische Staatspapiere als „Sicherheit" hinterlegt. Diese Art dcS Schuldenmachens ist echt serbisch; man bringt die Papiere, welche die europäischen Capitalisten nicht mehr annehmen wollen, doch an den Mann. Den serbischen Staatsgläubigern, denen die verpfändeten Einkünfte Sicherheit bieten sollen, ist mit dieser Art von Verwaltung allerdings nicht gedient. Ist daö gegenwärtige fortschrittliche Ministerium nicht in der Lage, einen zum Ziele führenden Ausweg aus den bedenk lichen Gcldnöthen zu finden, so liegt für den jungen König der Gedanke nahe, es einmal wieder mit der Negierung einer anderen Partei zu versuchen. So wurde denn auch der ehemalige Regent Ristitsch, der f. Zt. in gerade zu skandalöser Weise vom Könige in der Nacht von seinem Posten entfernt wurde, von Alexander empfangen, um Rathschläge zu ertheilea. Wie der „Boss. Ztg." auS Belgrad gemeldet wird, bringt man in dortigen politischen Kreisen diesen Vorgang mit dem Empfange der radikalen Führer Paschitsch und Patschu in Verbindung, wobei diese den» König ihre Ansicht über die Lage Serbiens aussvrachen. Die gleichzeitige Anwesenheit des radikalen BaucrnführerS Dimitrije Ka titsch in Belgrad bei den Be ratbungen des radikalen ParteiauSschuffeS wird eben falls mit einem bevorstehenden Ministerwechsel in Verbindung gebracht, der eintreten soll, wenn eS dem Finanzminster Popowitsch in Paris nicht gelingt, eine Anleihe abzuschließen. Zu allem Ueberfluß herrscht in Serbien starke Erbitterung wegen der rücksichtslosen Anwendung des sogenannten „HaiduckengesetzeS". Man zwingt die Bevölkerung zahlreicher Ortschaften, die verdächtig sind, Räubern Vorschub zu leisten, ihre Häuser zu verlassen und sich einzeln an anderen Orten anzusiedeln. Da das serbische Räuberwesen meist politischer Natur ist, ergiebt sich die Folgerung, daß man ganze Dörfer, die radikal wählten, nur ihrer Gesinnung wegen wirthschaft- lich vernichtet. Auf die Folgen dieser Politik haben die Radikalen den König schon aufmerksam gemacht, und die Stellung des Ministeriums bat sich dadurch nicht gerade be festigt. Allem Anschein nach wird bald ein sogenanntes Geschäftsministerium daS fortschrittliche ablösen, um dann einem radikal-liberalen Platz zu machen. Deutsches Reich. 42. Berlin, 17. März. Das Centralcomitö deS neu be gründeten „SchutzverbaudeS gegen agrarischeUeber- griffe" veröffentlicht einen Aufruf zum Beitritt. Er giebt uns zu keiner Bemerkung und nur zu der erfreulichen Mit- thcilung Anlaß, daß auch der gleich Herrn Siegle aus Stutt gart in der constituirenden Versammlung „gewählte" frühere nationalliberale Reichstagsabgeordnete Büsing aus Rostock nicht Mitglied des ComitöS ist. Herr Siegle hat, wie er innerlich, öffentlich erklären lassen, daß er eine solche Wahl anzunehmen nicht in der Lage sei. * Berit», 17. März. Auf Veranlassung des Reichsschatz amtes ist ein neuer Post-Zeitungs-Gedührentarif ausgearbeitet worden, der von den bisherigen Entwürfen wesentlich abweicht. Ursprünglich batte die ReichSpost- verwaltung eine Provision von 10 v. H. des Einkaufspreises der Zeitung und eine Gebühr von 25 jährlich für jede Nummer der Woche in Aussicht genommen, woraus sich eine Mehreinnahme von 800 000 jährlich für das Reich ergeben sollte. DieserVorschlag wurde vom ReichSschatzaml zurückgewiesen. Der zweite Entwurf fügte zu der ÄabreSgebühr eine Gebühr von 20 für je ein Kilogramm beförderter Zeitungen und sollte eine Mehreinnabme von vier Millionen Mark bringen. Der Reichstag bat indessen keinen Zweifel gelassen, daß er einer höheren Besteuerung der Presse nicht zustimmen werde. Jetzt soll der dritte, neueste Plan nur eine Mehreinnabme von etwa einer halben Million erzielen. Ueber diesen Plan weiß die „VolkSztg." zu melden: Nach dem Tarifentwurs würde in Zukunft die Postprovision sich zusammensetzen auS: u. einer Grundtaxe von 40 ^jährlich (10 vierteljähr lich) für jedes Exemplar, d. einer Jahresgebühr von 20 für jede Nummer der Woche, e. einem Gewichtporto von 10 für jedes Kilogramm beförderter Zeitungen. Die in dem früheren Tarifentwurs (der 4 Millionen Ueberschuß bringen sollte) bereits vorgesehenen Gebühren zu l>. und e. sind also von 25 bezw. 20 auf 20 bezw. 10 ermäßigt und die Provision von 10 vom Hundert des Einkaufspreises durch eine bei allen Zeitungen gleiche Gruudtaxe (a) von 40 ersetzt worden. Zeitungen, die seltener als einmal wöchentlich erscheinen, sollen ebenso taxirt werden, wie Wochenblätter. Berlin, 17. März. Der Polenführer Pfarrer vr. WolSzlegier (Wollschläger) forderte auf der Polen versammlung in Berlin am 8. ds. die Polen auf, „gleich den Socialdemokraten zu agitiren u. s. w." Die Polen sind aber bereits thatsächlich in den meisten ihrer Agitationskünste und -Kniffe den Socialdemokraten nicht nur überraschend ähnlich, sondern sogar bedeutend überlegen. Der Graudenzer „Gesellige" begründet diese Behauptung in eingehender Weise. Wir entnehmen seinen Ausführungen die nachfolgenden Sätze: „DaS Be streben sowohl der „zielbewußten" Polen, als auch der Socialdemokraten ist darauf gerichtet, die heute bei uns bestehende Ordnung zu zerstören, um auf den Trümmern derselben je einen eigenen Staat — hier den „berüchtigten" Zukunftsstaat, dort daS „berühmte" Polenreich — zu errichten. Als Hauptmittel zur Erreichung dieses ihres Zieles benutzen beide die „Religion", wenn auch auf grund verschiedene Art. Die Polen schieben die Confession in den Vordergrund, gruppiren alles Andere um dieselbe und schreien in alle Welt hinein, ohne die polnische Sprache gebe es keine, beziehungsweise keine „gute" katholische Religion und jeder wahre Katholik müsse polnisch sprechen und — Pole sein. Die Socialdemokraten wiederum stellen die Religion ganz und gar in den Hintergrund, entbinden ihre Genoffen von den .lästigen" ReligionSvorschristen, erklären die „Religion" vollständig als Privatsache und suchen auf diese Weise auf die Leichtfertigkeit der Massen einzuwirken. Polen und Socialdemokraten sind beide im Boykott groß. Die Socialdemokraten wenden die Berrufserklärungen sehr häufig an, wenn eS gilt, sich an mißliebigen Personen zu rächen oder für nach ihrem Codex „strafbare" Handlungen Vergeltung zu üben. Genau dieselbe Kampfesweste beobachten die Polen. Gegen alle Diejenigen, die nicht an ihrem Strange ziehen, — daS sind vornehmlich alle Deutschen — erklären sie bei jeder passenden Gelegenheit, auf Versammlungen und dergl. den Boykott. .Kauft nur bei polnischen Kaufleuten!" „Laßt nur bei polnischen Handwerkern arbeiten!" „Unterstützt nur eure StammeSgenoffen!" „Sprecht nur polnisch!" rc. rc. Wehe aber jenem Polen, der der Abtrünnigkeit verdächtig ist, der sich einfallen lassen sollte, dem Deutschthum näher zu treten. Den behandeln die „echten" Polen in einer Weise, daß sich dagegen die Socialdemokraten wie wahre Waisen knaben vorkommen müssen." — Der Kaiser trug bei dem Diner in der russischen Botschaft die Uniform seines 85. Wyborg'schen Infanterie- Regiments. DaS Kaiserpaar war in heiterster Stimmung und nahm lebhaft an der Unterhaltung Theil. Nachdem dec Champagner servirt war, dankte der Kaiser dem Botschafter in herzlichen Worten und stieß mit ihm und der Gräfin v. d. Osten-Sacken an. Um 9 Uhr wurde die Tafel aus gehoben und im Ballsaale und dem anstoßenden Salon der Kaffee eingenommen. Gegen >/z11 Uhr kehrte daS Kaiser paar nach dem Schlöffe zurück. — Die „Nat.-Lib.-Corr." schreibt: „Gegen Schluß der heutigen ReichStagösitzung verbreitete sich im Hause die Nachricht, der StaatSsecretair im Reichsschatzamt Graf von PosadowSky habe sein Entlassungsgesuch ein gereicht. Der Beweggrund wird in dem Umstand gesuckt, daß die verbündeten Regierungen von seiner in der Budgetcommission kundgegebenen Zustimmung zu dem Finanz antrag Lieber überrascht sind." Dagegen wird der „Magdeb. Ztg." mitgetheilt, daß der zwischen dem Finanz minister Miquel und dem Grafen PosadowSky ausgebrochene Zwist wegen der Verwendung der Ueberschüffe des Reiches bei gelegt sei. Es werde beabsichtigt, ein Gesetz einzu bringen, daS die Angelegenheit nicht auf ein oder zwei Jahr«, sondern organisch regele. — Der BundeSratb dürste sich demnächst wieder mit einem Anträge auf Ausscheidung der Fleischereibetriebe aus der Nahrungsmittel-Berufsgenossenschaft und Bildung einer eigenen Fleischerei-Berufsgenossenschast zu be schäftigen haben. Da diesmal dem Vernehmen nach der Antrag durch ein vom ReichS-VersicherungSamt erstattetes Gutachten unterstützt wird, dürfte er Aussicht auf An nahme haben. — Der Seniorenconvent des Reichstags trat heute nach der Plenarsitzung zusammen. Man kam dabin überein, bis zum Freitag den Etat in zweiter Lesung zum Abschluß zu bringen. Dieser Tag soll sodann Wahlprüfungen ge widmet werden. Am Sonnabend, wo zur Feier der Erinnerung an die erste Sitzung des Reichstags vor 25 Jahren das Banket stattfindet, fallt die Sitzung aus. Am Montag und Dienstag nächster Woche soll der Etat in dritter Lesung passiren, eventuell mit Zuhilfenahme einer Abendsitzung, und am Mittwoch — der ohnehin katholischer Feiertag — sollen die Osterferien beginnen und sich bis zum 16. April er strecken. Doch soll in nächster Woche Donnerstag und Frei tag und nach Ostern bereits zwei Tage vor Wiederaufnahme der Plenarsitzungen die Commission für das Bürgerliche Gesetzbuch Sitzungen abhalten. Nach den Ferien wird das Plenum der Reihe nach in die dritte Lesung der Vorlagen über den unlauteren Wettbewerb, die Zuckersteuer, das Börsengesetz, das Depotgesetz, das Genoffenschaftsgesetz und das Margarinegesetz eintreteu. — Die Zuckersteuercommission deS Reichstags nahm mit 12 gegen 9 Stimmen den Antrag der Conservativen an, die Zuckersteuer auf 21 statt 24 der Vorlage fest zusetzen. Dagegen stimmten die Socialdemokraten, die Frei sinnigen und drei CentrumSmitglieder. Zu § 72, welcher den BundeSratb zur Aenderung der AuSfubrzuschußsätze ermäch tigt, sobald andere rübenproducirente Länder ihre Export prämien ändern, wurde gegen die Stimmen der Conservativen ein Antrag Richter angenommen, wonach der BundeSrath im Falle der Herabsetzung der Zuckerprämien gleichzeitig eine entsprechende Herabsetzung der Zuckersteuer anordnen soll. Die Paragraphen 73 und 74, betreffend den Höchstbetrag der jährlichen Zuschüsse und Einziehung zu viel gezahlter Beträge, wurden gestrichen. — Die vorzeitige Veröffentlichung deS kaiser lichen Gnadenerlasses durch den „Vorwärts" wird am 19. d. vor der 132. Abtheilung am Amtsgericht I. zur Verhandlung kommen. Gegen die drei Personen, welche ein Exemplar des betreffenden DruckstückeS bei der Firma Mittler L Sohn entwendet haben, um es dem „Vorwärts" zuzustellen, wird, was bisher beim Amtsgericht noch niemals der Fall war, der Erste Staatsanwalt am Landgericht I Oberstaatsanwalt Drescher die Anklage selbst vertreten. impvnirt. Im Grunde verstehen die meisten Anderen ja auch nicht-. Aber beileibe nur nicht eingestehen! Ich bin ja allein des Gesanges wegen hier, oder sagen wir noch ehrlicher: Sennfeldt'- wegen? DaS Uebriae ist die reine Tortur. — UebrigenS, Du, Deine Thea ist hübsch, — ein ganz pikantes, feine- Köpfchen. So schon wie die Mutter wird sie nie werden, aber sie wird de» Männern gefährlich, darauf wett ich. Zum Glück ist sie ja wirklich vorläufig noch ganz Kind, eine unentwickelte Knospe, — eS hat immer so waö Rührendes, find ich. — Na, Gott sei Dauk! DaS Erste ist überstanden." DaS „Ave Maria" war zu Ende, man klatschte Beifall und die Vortragende» verneigten sich geschmeichelt. „War das nua wirklich hübsch?" fragte Asta naiv. Marcella mußte zugeben, daß die Ausführung mangelhaft gewesen war und der Beifall wohl mehr dem guten Willen und der guten Absicht der Spieler galt. „Na, siehst Du?" triumphirte Asta. „Ich dacht «s mir doch. Sennfeldt liebt daS übrigens, in Coucerten aufzutreten, wo außer ihm lauter Mittelmäßigkeiten mitwirken. DaS giebt ihm Relief. Be rühmte Bühnenkünstler machens ja auch nicht anders. Da kommt endlich Frau von Sennfeldt. Natürlich bloS so spät, um Aufsehen zu erregen. Die Mutter des Sangers! soll jetzt alle Welt sich zuraunrn. DaS schmeichelt ihr. Für nachher hab ich übrigen- eiuen Tisch im Restaurant für uns Alle belegen lasse», dann mack, ich Euch bekannt miteinander; — sie ist eine interessante Person, sag ich Dir, nur ihre Affenlieoe für Harry geht ein bischen weit." „Guten Abend, liebe Frau von Sennfeldt! Ja, natürlich, dieser Sessel ist für Sie reservirt. Charmant, daß Sie da sind. Und Harry? Natürlich hinter den Coulissen, — trinkt rohe Eier, nimmt ein Bock'schrS Pectoral — man kennt daS." Frau von Seaufrldt war eine hohe, vornehme Erscheinung. Sie hatte schneeweißes Haar, ihre Züge waren scharf und hager» daS ganze Gesicht hatte etwa« Spitzes. Die Augen, die e» beherrschten, trugen einen klugen, kalten Ausdruck. Ihre Toilette war auffallend reich und geschmackvoll. Als sie sich in der Reibe vor Asta auf einem frei gehaltenen Sessel niederlirß, reicht« sie dieser mit einem Kopfnicken und balbem Lächeln zwei schmale Finger herüber. Dann ging ein Schatten über ihr Gesicht. „Ja, denken Sie nur", sagte sie, ohne ihre Stimme sonderlich za dämpfen, obgleich jetzt das Trio auf dem Podium begonnen hatte, „Harry „Das ist er ja aber immer, wenn er singen soll", schaltete Asta mit unwillkürlicker Bosheit ein. Fran von Sennfeldt beachtete den Einwand nicht. „Er bat natürlich wieder zu viel gesprochen", fuhr sie fort, „sein Organ ist eben gar zu zart. Und alle Welt erbebt ja An sprüche an ibn. ES ist eben doch eine Art von Verhängniß, eme solche Stimme zu haben, — ein Danaergeschenk. Ich bin sehr besorgt." „Am Ende wird er gar nicht singen?" fragte Asta. „Wo denken Sie hin! DaS Beste wärs gewiß für ibn. Er opfert sich ja auf. Und den wahren Begriff von seiner Kunst kann ohnehin Niemand bekommen, der ihn heute hört. Aber sein Pflichtbewußtsein läßt das ja nicht zu. Er nimmt Mittel über Mittel, nm nur die Stimme einiger maßen wieder berauSzubringen. Jetzt ist er schon zur Homöopathie übergegangen. Der Junge richtet sich noch zu Grunde." Die unwilligen Blicke, die den beiden Damen von einigen Umsitzenden zugeworsen wurden, veranlaßten sie nun doch, das Gespräch nicht fortzusetzen. Erst als auch das zweite Musikstück beendigt war, sagte Frau von Sennfeldt, sich halb zurückbeugend: „Sehr dilettantenhaft! Man hätte Harry wahrhaftig in eine würdigere Umgebung placiren können. Er ist so gutmüthig, jeder Aufforderung Folge zu leisten, er wirft sich geradezu weg. Wenn ich nur wüßte, wie eS ihm jetzt geht." In dieser Art unterhielten sich die beiden Damen, weiter und Frau Marcella war im Grunde froh, daß Asta'S Be- dürsniß, sich auszusprechen, jetzt nack anderer Richtung hin befriedigt wurde und sie selber etwas von den Musikvorträgen zu hören bekam, die sich nun folgten. Nur Thea beugte sich einmal zu ihrer Mutter heran und flüsterte ihr mit ganz entsetztem Gesicht zu: „DaS ist eine schreckliche alte Dame, Mama. Vor der könnte man sich sürchteo." Dann gingen die Clavier- und Geigenvorträge zu Ende und die allgemeine Spannung im Saale wuchs. Harry von Sennfeldt, dessen Lieder jetzt beginnen sollten, erschien nicht. Allgemeine Unruh« trat riu. Frau von Sennfeldt rückte auf ihrem Sessel bin und her, ihr Riesensäcker be wegte sich ia immer heftigeren Schwingungen. „Natürlich ist er krank geworden", kam eS abgebrochen von ihren Lippen, „von all des Giften, die er einßeschluckt hat — wahrscheinlich ohnmächtig — ich muß nur gleich hinüber . . ." „Aber liebste, verryrtr Frau", fiel Asta «in, di« sie zurück hielt, „er macht eS ja eigentlich nie anders, der gute Harry. Das ist doch Alles nur zur Erböhung des Effekts. Man wird unS jetzt gleich sagen, daß Herr von Sennfeldt leider heiser geworden sei, aber trotzdem sein Wort halten wolle, um daS Programm nicht zu zerstören, und dann wird er kommen und so schön singen und so klar bei Stimme sein wie nie. Das kennen wir doch!" Und sie batte wirklich richtig prophezeit. Unter der sich steigernden Aufregung im Saale trat jetzt ein Herr im Frack aufs Podium und verkündete, daß Herr von Sennfeldt sich trotz starker Heiserkeit in liebenswürdigster Weise entschlossen babe, seinen Liedervortrag nicht ausfallen zu lassen, aber um die freundliche Nachsicht des verehrlichen Publikums bitten lasse, worauf sich schallender Beifall erbob. Derselbe steigerte sich noch, als nun nach einer kurzen Pause Harry v. Senn feldt selbst erschien. Er war kaum mittelgroß, aber schlank und elegant. Man konnte ihn schön nennen; nur daß dieser Kopf mit dem gekrausten Blondbaar und den hellblauen Augen etwas Glattes und Gelecktes hatte. Es spiegelte sich k.ine Seele darauf. Ein Zug von Müdigkeit, etwas Leiden oes lag augenblicklich darin ausgeprägt, aber man erhielt unwillkürlich den Eindruck des Gemachten oder doch wenigstens einer absichtlichen Zuthat. Ein bübscheS, etwas gelangweiltes Lächeln dankte nebst einer tadellosen Verbeugung für den stürmischen Willkommengruß. Frau v. Sennfeldt strablte. Ueber Thea'S Wangen aber war ein leises Roth gehuscht und sie hatte eine Bewegung deS Erstaunens gemacht, so daß Frau Marcella fragte: „Was hast Du, Kind?" „DaS ist er ja, Mama!" flüsterte Thea. „Der Herr aus dem Walde?" „Ia; — nun begreife ich auch ..." Sie verstummte. Am Clavier waren die ersten Töne der Begleitung erklungen, und jetzt setzte Harry von Sennfeldt em: „Du bist die Ruh'." Athemlose Stille war eingetreten, Aller Ohren waren ge spannt, Aller Augen auf den Sänger gerichtet. Schon bei den ersten Tönen mußte Jeder sich sagen, daß man ibm nicht zu viel versprochen habe. DaS war in der Tbat eine Tenor stimme, wie man sie nickt oft zu hören bekam. Es lagen eia Schmelz und eine Weichheit darin, welche unwiderstehlich biariffen. Dazu bewies der Sänger die feinste Schulung; jeder Ton war glockenreia und nicht« Gemachte«, nickt« Theatralische«, keinerlei Mätzchen, auf di, man nach der Art seiner Einführung hätte schließen können, störten den echt künstlerischen Genuß seines Vortrags. Man sah auch, daß der Sänger selbst mit ganzer Seele in seiner Kunst aufging. Seine Augen leuckteten, in sein Gesicht war ein verklärender Ausdruck getreten. Klar und mühelos quollen ihm die Töne auS der Kehle. Von irgendwelcher Beeinträchtigung de« Organs war nicht- zu verspüren. Ein rauschender Beifall erhob sich, als der Sänger ge endet batte, und löste den Bann, der auf der ganzen Zu- hörersckaft gelegen. „Ich habe eS zwar schon ein halbe« Hun dert Mal gekört", flüsterte Asta Frau Marcella zu, „deun er singt c« eigentlich immer — sein Repertoire ist nicht groß —, aber eS mackt mich jeveSmal vou Neuem ganz toll. Man könnte ibm dock gradezu um den Hals fallen, dem Menschen!" Frau Marcella blickte ihre Tochter au. Thea saß wie von einem Zauber gefangen, die Augen regungslos vor sich hinausgerichtet; sie schien die ganze Welt um sich her ver gessen zu haben und ihr entrückt zu sein. Als der Beifalls sturm sich gelegt hatte, begann der Sänger seinen zweiten Vortrag. Es war daS Schwanenlied aus „Lohengrio". Der Enthusiasmus, den er vorher erregt batte, mockte auf ihn selber seine befeuernde Wirkung auSüben oder da« Lied „lag" seiner Stimme noch besser als da« vorige. Er trug e« mit zündender Verve vor und setzte die Hände der Zuhörer, nachdem er geendet, ia noch heftigere Bewegung. Laute Bravorufe mischten sich dazwischen, hier und da verlangte man stürmisch eine Wiederholung. Den Sänger schien da- Alles aber nicht anzufechten. Er verneigte sich wiederholt mit seinem feinen, liebenswürdigen Lächeln, aber sichtlich ohne besondere Ueberrasckung; er mutzte Aehnliche« gewohnt sein und nahm es wie einen geschuldeten Tribut bin. Frau von Sennfeldt rückte sckon wieder unrubig aus ihrem Stuhl hin und her. „Er wird sich doch hoffentlich nicht bestimmen lassen, irgend etwa« cka capo zu singe» oder zuzugeben", stieß sie hervor, al« Asta sich gratuliread zu ihr berüberbeugte, „er rumirt sich ja total, bei feiaer Angegriffenheit!" „Aber, verehrteste Frau", warf Asta eia, „er war ja nie besser bei Stimme als heute. Und wenn er sich nie va« zumuthet, verpimpelt er sein Organ ja vollständig." (Fortsetzung solgt.)
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