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Auzeigeu-PreiS Sie 6 gespaltene Petitzeile LO Pfg, Nerlamen unter dem RedactionSstrich l4g» spalten- üO>H, vor den Familieanachrichtr« (S gespalten) 40 Größere Schnsten laut unjerem Preis» vrrzeichniß. Tabellarischer und ZiffrrnsaP nach höherem Tarif. Extra»Veilagen (gesalzt), nur mit des Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderun^ vO.—, mit Postbefördrrnng 70.—. > AnnahmeschluL für Anzeigen: Abend-Ausgabe: Bormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. Vei den Filialen und Annahmestellen je ein« halbe Stunde früher. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Druck uud Verlag von E. Polz in Leipzig 38. Sonnabend den 22. Januar 1898. 82. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 22. Januar. Wer die hetzerischen Reden verfolgt hat, in denen die socialdemokratischen Mitglieder des Reichstags in den letzten Tagen das den Schutz von Arbeitswilligen gegen den Terrorismus Streitlustiger betreffende Rundschreiben zu einem Versuche, den Arbeilerstand seiner wichtigsten Rechte zu berauben, zu stempeln trachteten, der mußte, wenn er diese Ueberzeugung nicht schon längst gewonnen hatte, der Ueberzeugung werden, vaß die Socialdemokratie von ihrem revolutionären Charakter nicht das Mindeste eingebüßt, sich nicht im Geringsten „gemausert" habe. Dieser Ansicht gab denn auch Graf Posadowsky Ausdruck, ohne im Hause von anderer als socialdemokratischer Seile ernsten Wider spruch zu erfahren. Um so grimmigeren erhebt nun die „Franks. Ztg.", die in der Behauptung deS Staatssecretairs eine unerhörte Beleidigung der socialdemokratischen Wahl bundesgenossen und den schlagenden Beweis dafür erblickt, daß Graf Posadowsky es nicht für nöthig halte, sich um die social demokratische Literatur und die in ihr enthaltenen Kund gebungen führender „Genossen" zu kümmern. Mit dem Hohne, den die Demokratie jedem Reichs- und Staatsbeamten geg:n- über für ihre Pflicht hält, rückt die „Franks. Ztg." dem Staals- secretair drei Auslassungen socialdemokratischer Größen vor, die den Beweis führen sollen, daß die Socialdemokratie nicht im Traume daran denke, „einen Putsch zu wagen", und nur glaube und hoffe, „daß ein communistiscber Staat durch die natürliche Entwickelung der Dinge über uns kommen werde". Die erste dieser Auslassungen ist in einem Artikel enthalten, den Liebknecht unter der Ueberschrifl „Zukunfts staatliches" im letzten Hefte der „CoSmopolis" veröffentlicht hat, und lautet folgenderniaßen: „Zur Vermeidung von Mißverständnis sei bemerkt, daß das Wort Revolution für uns Socialdemokraten nicht die Bedeutung des gewaltsamen Umsturzes hat. Das Revolutionäre ist im Ziele, nicht in den Mitteln." Die zweite stammt von vr. Conrad Schmidt, der „anläßlich einer Buchkritik" sagt: „Die zu Beginn der Bewegung so natürlichen Hoffnungen, durch eine Revolution rasch und mit dictatorischer Gewalt das neue Reich socialer Freiheit einzufüdren, Hoffnungen, welche die social- de mokrctische Arbeiterpartei im Kampfe mit der harten Realität, ebenso natürlich, mehr und mehr abstreift, bieten einer feindseligen, recht antiqnirirten Kritik willkommene Anhaltspuncte." Die dritte endlich stammt von Ed.B ernste in (gleich Schmidt Mitarbeiter des „Vorwärts), der eine Artikelserie in der „Neuen Zeit" folgendermaßen beginnt: „In allen Ländern, wo die socialislische Partei zu politischer Bedeutung gelangt ist, beobachten wir die gleiche Erscheinung, Laß sich eine innere Wandlung in ihr vollzieht. Frühere lleber- schwänglichkeiten in Phrase und Argumentirung werden abgestreift, die Schwärmerei für Generalisirungen läßt nach, man speculirt nicht mehr über die Vertheilung des Bärenfells nach vollendetem allgemeinen Kladderadatsch, man be- schästigt sich überhaupt nicht allzuviel mit diesem interessanten Ereigniß, sondern studirt die Einzeln- heiten der Probleme des Tages und jucht nach Hedem und Ansatzpunkten, aus dem Boden dieser die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne des Socialismus vorwärts zu treiben." Das und Aehnlickes hält die „Franks. Ztg." für genügend, um den Staatssecretair ack adsru-ckuw zu führen: „Wer das nicht siebt, will nicht sehen, oder er bat einen Kopf, der die elementarsten Schlüsse nicht zu fassen vermag." Nun, Graf Posadowsky hat zunächst im Reichstage gehört, was die „Franks. Ztg." nicht gehört und augenscheinlich nicht einmal genau gelesen hat; er kennt auch wahrscheinlich die von dem Frank furter Blatte angeführten Citate, weiß aber, was dieses Blatt nicht zu wissen scheint, daß nämlich diese Citate aus Schriften stammen, die zumeist für Leser auS solchen „Bourgeois kreisen" bestimmt sind, die sich gern zu einer milden Auf fassung über die Zwecke der Socialdemokratie bekehren lassen, und endlich ist sein Gedächtniß jedenfalls nicht so löcherig, wie das der „Franks. Ztg.", die vergessen bat, in welcher Weise die socialdemokratische Parteileitung um die ZabreSwende sich an die ganze Genossenwelt wendete. In seiner letzten Nummer des verflossenen JahreS schrieb der „Vor wärts" des Herrn Liebknecht: „Der historische Kalender für 1898 ist der heutigen Nummer des „Vorwärts" beigefügt. Es ist bekannt, daß diesem Wandkalender alljährlich bei seinem Erscheinen eine Ehre zu Theil wird, die Produkten ähnlicher Art noch nie widerfahren ist. Fast die gejammte volksfeindliche Presse^erhebt uuisooo ein Mordgeschrei ob des auf ihm enthaltenen Verzeichnisses revolutionärer Gedenk- tage. Von der Stumm'schen „Post" bis zum hilflosesten Amts blättchen herab führt eine jede dieser Zeitungen mit einem stattlichen Aufwand von Druckerschwärze just aus der Ausstellung der historischen Kalenderdaten heraus den haarscharfen Beweis für die leibhaftige Existenz einer Thatsache, die gerade von unsereinem noch niemals bestritten wurde, den Beweis nämlich dafür, daß die Socialdemokratie revolutionär ist. Die guten Leute haben Recht, wenn sie schelten. Der Wandkalender des „Vorwärts" hat mehr zu bedeuten, als die gleichen Beigaben der liberalen, reaktionären oder unparteiischen Blätter. Tie historischen Gedenktage stehen auf dem rosafarbenen Carton vermerkt, um das Proletariat in schweren Stunden daran zu erinnern, daß es Muth zu schöpfen hat, Muth zum ferneren Kampfe, Muth und Ausdauer bis zum endgiltigen Siege über die alte kapitalistische Unordnung der Dinge. Und wenn nunmehr, wo die Erinnerungstage des Revolutionsjahres zum fünfzigsten Male wiederkehren, der 1848er Ereignisse mit besonderer Sorgfalt gedacht worden ist, so ist dies noch mit der aparten Bestimmung geschehen, daß das Proletariat auS den Fehlern der damaligen Bewegung lerne, die K'ügheit mit der Energie zu paaren Möge die Berliner Arbeiterschaft auch fortan ihrem Wandkalender ebensoviel Interesse entgegenbringen wie in früheren Jahren. Das reaktionäre Gelichter mag aber von Neuem sein belustigendes Geschrei erheben." Wir knüpften damals an diese Kundgebung folgende Aus lassung: „Aus der Jesuitensprache in ehrliches Deutsch übersetzt, heißt .Klugheit mit der Energie zu paaren" nichts Anderes als: Das Proletariat schreite erst dann zur Anwendung gewaltsamer Mittel, wenn die Aussicht auf Sieg sicher ist. Bis dahin soll das Proletariat aus den „historischen Gedenktagen" „Muth" schöpfen, d. h. mit revotutionär-gewaltthätiger Gesinnung sich erfüllen. Wie sehr die Auswahl der „historischen Gedenktage" diesen Zweck erfüllt, lehrt ein Blick in die Januar-Rubrik. Darin lesen wir: 12. Januar 1885 Rumpfs erdolcht. 21. - 1793 Ludwig XVI. geköpft. 30. - 1649 Karl I. von England g eköpst. Das bei jedem anarchistischen Attentat in der socialdemokratischen Presse vorgetragene Märchen, die Socialdemokratie verurtheile anarchistische Unlhaten, wird durch die Aufführung der Erdolchung des Polizeiraths Rumpff als einer „historischen" That, aus der das Proletariat „Muth" schöpfen soll, ebenso drastisch widerlegt, wie die Fabeleien der bürgerlichen Demokraten, die Socialdemokratie sei eine friedliche Reformpartei. Als in dieser Richtung aufklärend, kann der Kalender des „Vorwärts" auch bürgerlichen Lesern zur Lektüre warm empfohlen werden." Wir sollten meinen, die Empfehlung, die der „Vorwärts" dem „historischen Kalender für 1898" auf den Weg gab, die Behauptung in dieser Empfehlung, daß die Socialdemokratie ihren revolutionären Charakter niemals abgeleuznet habe, und die Auswahl der „historischen Gedenktage" in dem Kalender müßten beweisen, daß die von der „Franks. Ztg." angeführten Citate nichts seien, als Speck für blinde Bourgeoismäuse. Diese freilich haben „einen Kopf, der die elementarsten logischen Schlüsse nicht zu fassen verma g." Der auS Anlaß der Flottcnfrage im Zentrum hervor getretene Zwiespalt hat einen derartigen Umfang angenommen, daß die Centrumsleitung sich zu Kundgebungen genothigt sieht, um beruhigend und vermittelnd zu wirken. So theilt die „Germ.", wie der Telegraph kurz gemeldet hat, mit, daß die Centrumsfraction in ihrer am Mittwoch abgehaltenen FractionSsitzung „mit Rücksicht auf die seit der ersten Lesung der Marinevorlage hervorgetretenen schriftlichen und mündlichen Acußerungen einzelner Parteifreunde" sich abermals mit dem Flottengesctz beschäftigt habe. Ucber daS Ergebniß dieser Beschäftigung theilt die „Germania" mit: Die Fraktion ist dabei einmüthig zu dem Ergebnisse ge kommen, daß zur Zeit keine Veranlassung für sie vorliegt, von dem durch den Fraclionsredner der ersten Lesung, Herrn Abg. vr. Lieber, dargelegtcn Standpunkte abzugehen. Hiernach wird sie erst nach sorgfältiger Prüfung, zu der das Material noch lange nicht voll ständig genug vorliegt und die naturgemäß erst nach dem Er gebnisse der Commijsionsberathung stattfinden kann, zu der Vorlage im Einzelnen wie im Ganzen Stellung nehmen. Es ver- dient hervorgehoben zu werden, daß an dieser Beralhung auch die Abgeordneten Freiherr v. Heereman, Freiherr v. Heriling, Groeber, Fuchs, Müller-Fulda, Braun u. A. Theil genommen haben. Daß unter diesen „u. A." der Abgeordnete Schmitt aus Mainz nicht gewesen ist, ist mit Sicherheit anzunebmen. Zu den Abgeordneten dagegen, die an dvr FractionSsitzung '.heiln l'ii'kn, gehörte auch Herr Müller-Fulda. Dieser bat kürzlich eine von uns erwäonte Schrisr Uber cie Flotten vorlage veröffentlicht, die sich entschieden gegen die Vorlage wandte. Herr Müller erhält deshalb in einer weiteren, in der „Germania" veröffentlichten Kundgebung einen Rüffel. Dieser lautet: Einige Mitglieder der Centrumspartei des Reichstags haben sich zu dem Zwecke zusammengethan, Broschüren über sociale und politische Zeitsragen herauszugeben. Der Zweck dieses, die Fraktion selbst nicht berührenden Unter- nehmens war von Anfang an nicht aus die Behandlung aktueller und im Fluß begriffener Fragen gerichtet, sondern auf die nähere Darlegung solcher Fragen, die gesetzlich oder parla mentarisch zu einem gewissen Abschluß gelangt sind. Es beruht auch nur auf einem bedauerlichen Mißverständniß, wenn die neuerdings erschienene Broschüre des Abg. Müller-Fulda in diese Reihe von Referaten Aufnahme gefunden hat, in die sie weder nach Absicht des Verfassers noch nach ihrem ganzen Inhalte gehören sollte. Herr Müller scheint in dec Versammlung seine Bereit willigkeit ausgesprochen zu haben, diesen Rüffel ruhig ein zustecken. Herr Schmitt dagegen, dem die Absicht nach gesagt wurde, infolge eines Lieber'lchen Commandos nicht wieder zu candidiren, denkt zur Zeit noch nicht an Unter werfung, denn er hat eine Erklärung veröffentlicht, in der es beißt: Es sei zwar richtig, daß seine Rede gegen das Flottengesetz iu den Kreisen des Ccntrums um Lieber herum eine starke Ver stimmung gegen ihn erzeugt habe, er denke aber gerade des halb gar nicht daran, auf sein Mandat zu verzichten: im Gegentheil, er würde es als ein Verbrechen gegen seine Wähler ansehen, wenn er das thäte. Bestärkt werde er in seinem Verhalten durch eine Reihe von Zuschriften, die er auS Centrums kreisen erhalten habe, worin der Anerkennung und der Freude darüber Ausdruck verliehen sei, daß endlich einer der Cenirums- abgeordneten Len Muth gehabt habe, in dieser Angelegenheit den Mund aufzuthun und die Ansicht der Mehrheit der Centrumswähler offen auszusprechen. Hier wird der Gegensatz wider die Geneigtheit der Herren Lieber und Genossen, die Flotten-Verstärkung zu bewilligen, schärfer ausgesprochen, als es neuerdings selbst von Bayern her geschehen. Was aber die obige FractionS-Erklärung des Centrums betrifft, so ist sie nach Möglichkeit auf Schrauben gestellt; zuerst wird durch die Mittheilung, daß die Fraktion „einmüthig" an dem Standpuncte der Lieber'schenRede festbalte, der Eindruck principieller Zustimmung wenigstens zu den Ver stärkungs-Forderungen hervorgerufen; alsdann aber wird als die Bedeutung dieser Einmütbigkeit angegeben, daß die Fraktion — erst nach dem Abschluß der CommissionS- Berathung „im Einzelnen wie im Ganzen" Stellung nehmen werde. Hiernach gründet Herr Lieber seine Erwartung, die Gesammtpartei unter seinen Willen beugen zu können, haupt sächlich darauf, daß die Regierung in der Commission weitere Aufschlüsse geben werde, die es ihm ermöglichen, die Fraction von der „absoluten Notbwendigkeit" der Annahme der Vor lage zu überzeugen. An Aufschlüssen wird es die Regierung gewiß nicht fehlen lassen, ob sie aber genügen werden, auch Diejenigen zu überzeugen, die nicht überzeugt sein wollen, ist eine andere Frage. Der scharfe Ton, welchen Fürst Hohenlohe in der Mittwochssitzung des preußischen Abgeordnetenhauses gegen die Polen angeschlagen bat, ist in der deutschen Presse Oesterreichs sebr beachtet worden. Die „N. Fr. Pr." widmet der Rede des Reichskanzlers einen besonderen Artikel, welcher der Ueberzeugung Ausdruck giebt, daß dieselbe eine über die Grenzen Preußens hinausreichende Bedeutung habe, indem sie ^.s die in Oesterreich liegende Quelle der polnischen Gef.'br anspicle. Das stramme preußische Regiment brauche, so rührt das Wiener Blatt aus, vor der föde ralistischen Propaganda der preußischen Pvten nicht überängstlich zu zittern, falls diese nicht außerhalb des Landes ihren Ursprung und ihren Rückhalt habe. Bedenke man dies, so lasse sich der Gedanke nicht abweisen, daß Fürst Hohenlohe die preußischen Polen vor der Nachahmung des gefährlichen Beispiels, welches die österreichischen Polen geben, habe warnen wollen, indem er ihnen zu ver stehen gegeben, sie seien im Jrrtbum, wenn sie meinten, daß den Polen in Preußen glücken könne, was sie ander wärts erreicht hätten, nämlich die Verwirklichung ihrer föderalistischen Tendenzen. Wenn auch der deutsche Reichs kanzler mit der Abwehr dieser Tendenzen der preußischen Polen selbstverständlich nicht irgend eine Wirkung in Oesterreich zu erzielen getrachtet habe, so habe er doch die Gelegenheit wahrgenommcn, den großen Unterschied erkennbar zu machen zwischen dem Verhalten, welches in Preußen, und dem, welches in Oesterreich von den Polen gefordert werde. Dort sage man denselben mit einer Energie des Tones, ! die an Drohung grenze, daß man keine Freundschaft und kein Kampf nnd Entsagen. 17j Roman von M- von Eschen. Nachdruck verboten. XIX. Leicht, sorglos und fröhlich, wie zu einer Lustfahrt hatte sich Fiffi in der That ihrem Sänger gesellt, nicht an ein Stück Gepäck nur hatte das verwöhnte Kind, dem nie auch die kleinste Sorge des Lebens nahe getreten, gedacht. Sie waren nicht allein in dem Coupö. Eine ältere Dame, anscheinend leidend, hielt die linke Ecke besetzt. Ihre Anwesenheit hinderte den Ausbruch jeder Zärtlichkeit. Es war trotzdem wunderschön! Sie saßen einander gegen über mit glänzenden Augen und glücklichem Lächeln. Die Luft strömte sonnig zu dem offenen Fenster herein, die Welt lag vor ihnen im Morgenlicht, selbst über der kärglichen Natur webte der Mai seinen verklärenden Reiz. Sie freuten sich an dem Frühling da draußen, an dem Frühling in ihrem Gesicht. Sie plauderten, — es war keine geistvolle Unterhaltung, auch kein leidenschaft licher Gefühlsausbruch — es war ähnlich dem Flüstern, wie die kleinen Bögel zwitschern am Rain, wenn der Frühling kommen will, oft nur kleine, abgebrochene Sätze, aber heiter und warm wie Lenzesluft und Sonnenschein. Zuweilen streiften seine Finger Fiffis Hand, berührte sein Fuß das feine Spitzchen des winziges Füßchens im schwarzen Chevron, und ein schnelles Roth huschte flüchtig über das Kindergesicht. Malerischer, üppiger wird die Scenerie und die Vegetation, lebhafter glänzen die jungen Augen, lebhafter wird das zärtliche Geplänkel. Die Hitze steigt mit dem steigenden Tag; und nun werden die Beiden etwas stiller. Ein gutes Frühstück im Restau rationswagen bringt die sinkenden Lebensgeister schnell wieder hoch. Nur noch zwei Stationen bis zur großen Hansestadt. — Mit mißliebigen Blicken beginnt die ältere Dame nunmehr das Pärchen zu betrachten; besinnt sich plötzlich, daß die jungen Leute aus Berlin kommen. Da hier der alte Eros, dem on ckit und den Berliner Romanen nach, nur noch als Gamin herumläuft, so dankt sie ihrem Gott, als sie auf der nächsten Station den Wagen verläßt. Im Nu hat Feodor, den ein instinctives Gefühl bis jetzt vor s«dt" Taktlosigkeit bewahrte, den Arm um Fiffi geschlungen; sie lehnt das Köpfchen an seine Schulter und lächelt zu ihm auf. Seine Leidenschaft wächst — eine beklemmende Empfindung kommt über das junge Geschöpf. Er wagt eine kühnere Lieb kosung — da stößt ihn mit einem Schrei das Mädchen zurück und flieht in die entgegengesetzte Ecke des Coupös. Er will sich ihr wieder gesellen, immer noch zitternd an allen Gliedern, die Hände zur Abwehr gehoben, steht Fiffi da. Feodor ist ein Schwerenöther, aber kein eigentlicher Don Juan. „Die Weiberln haben's ihm halt immer zu leicht gemacht." „Ja, Schatzerl, warum bist denn halt mitg'fahrn?" meint er liebenswürdig-gutmüthig, hat dann aber für den Augenblick jede Zärtlichkeit für das zitternde Mädchen verloren. Weiter geht der Zug. Häuser schießen gleich Pilzen aus dem Boden; Schiffe, Kähne schaukeln auf schimmernden Wellen. Da über die große Brücke donnert der Zug — neue Straßen — ein Häusermeer. „Hamburg!" Die Wagen stehen. „Schätzer!!" Feodor ist zu Fiffi getreten. Scheu blickt das junge Ding zu ihm auf. Der Schaffner öffnet die Thür, der Gepäckträger harrt seines Auftrages, fremd, allein in der Fremde, was bleibt Fiffi Anderes, als sich dem Manne anzuvertrauen, dem sie sich und ihr Schicksal ausgeliefert hat? „Hotel Victoria!" — Raffelnd geht es durch die breiten Straßen bis an die glänzende Alster, daran das Victoriahotel prangt. Mit etwas kritischem Blick betrachtet der Portier das eintre tende Paar, so jung, so chic: er einen Schatten von Unmuth zwischen den Augen, sie so verstört. „Ein Zimmer?" fragt der Mann in Uniform. „Zwei —" Fiffi nimmt all ihre Kraft zusammen, daß es fast schreiend klingt. „Ich — ich bin so müde", das gilt Nadaszy. Der neigt den Kopf. Er hat sich die Exkursion etwas anders gedacht. Er schämt sich vor sich selbst, vor den kritischen Augen des in derlei Sachen bewanderten Portiers. Als ihm wenige Minuten später ein Kellner das Fremdenbuch präsentirt, nach der gnädigen Frau frägt, meint er ärgerlich: „Gebn's der gnädigen Frau selbst." — Fiffi, das verwöhnte Kind, in Manchem viel selbstständige'., eigenwilliger, als ihre Altersgenoffinnen, ist dafür in Manchem um Vieles unerfahrener, kindlich unberührter geblieben. Mit überreifen und verdorbenen Spielgefährtinnen ist sie niemals zusammengekommen. Ihr Verkehr hat sich zumeist auf den Spielplätzen einer großen Stadt, oder eines fashionablen Bade orts, unter der Obhut von Gouvernanten und Bonnen vollzogen. Auch später hatte Fiffi keine Freundin, keine „Intima" gehabt. Sie hatte es auch nicht vermißt. Lilian war da und Mrs. Stro man, die sie auf allen Reisen begleitete und erst ganz kürzlich von ihnen gesckneden war, um bei einem nunmehr etablirten Sohne ein eigenes „Home" zu finden. Fiffi hatte auch nur wenig gelesen, vor Allem keine modernen Romane, bei denen die Jugend, auch das Alter noch in jeder Hinsicht Erfahrungen sammeln kann. Leider aber hatte dem jungen Mädchen die Mutter gefehlt, die weich und fest, rein und treu das Kinderauge entschleiert, damit der Jungfrau Blick sick öffnet für die Welt, ihre Seele sich klärt und festigt für eine reifende Erkenntniß. Ob die gnädige Frau nicht zum Speisen herunterkommen wolle, ließ Feodor fragen. Fiffi schüttelte den Kopf. Ob die gnädige Frau in ihrem Zimmer zu speisen wünschte — Fiffi dankte, sie habe keinen Appetit. Dann erschien der Kellner wieder mit einem Tablet. Der gnädige Herr hätten befohlen zu serviren, auf alle Fälle. Das war nun doch lieb, wie er für sie sorgte. Fiffi schluckte; es drückte sie etwas in der Kehle. Dann wandte sie das Köpfchen dem Fenster zu. Drunten flogen große und kleine Boote hin und her auf dem Wasser, dazwischen schaukelten silberweiße Schwäne. Die Menschen drängten auf dem Damm unter den Bäumen. Das Summen der Stimmen, das Rollen der Wagen, jeder Ruderschlag auf dem Wasser that ihr weh in dem überreizten Hirn. Ihre Lider blinzelten wie von Thränen, die ganze lustige, bunte, glitzernde, leuchtende Welt schien ihr plötzlich zu schaukeln, zu sinken, zu verfließen ringsum. Sie stürzte zurück in die hinterste Ecke des Zimmers und sank auf das Sopha hin. Da noch einmal raffte sie sich auf; es dünkte sie, man hätte abermals an die Thür geklopft. Sie lauschte — sie konnte nichts mehr hören. Doch stürzte sie zur Thür und schob den Riegel vor, flüchtete dann wieder zurück und grub ihr Köpfchen in die sammtenen Kissen und weinte — weinte eine wahre Thränenfluth. Dann mit jeder Welle dieser Fluth löste es sich von ihr ab, und wie befreiend kam es ihr zum Bewußtsein, daß dieser schöne, entzückende Roman, die lustig leichte, fröhliche Fahrt mitten in die Romantik hinein — eine große, große Thorheit gewesen war, wenn nicht noch mehr ein Unrecht gegen sich selbst und — sie konnte nichts mehr denken. Stiller wurde es draußen und dunkler auch. Dann und wann nur tönte noch eine Stimme, ein Räderrollen, blitzte ein Heller Schein herauf. Fiffi merkte es nicht. Ihre Augen brannten von Thränen, das Herz floß über von Jammer. Endlich aber wollten Jugend und Erschöpfung ihr Recht. Der Schlummer schloß die feuchten Wimpern. Blasser wurden die erhitzten Wangen, die gerötheten Lider; ruhiger hob und senkte sich die junge Brust. Auf der feinen Stirn aber blieb ein ernster Hauch, um den rothen Mund huschte noch im Traum ein Schatten. — — Es war in der Nacht, da Heribert in der alten Hansestadt eintraf. Während der letzten Minuten in die Wagen geworfene Blätter, darunter die Vergnügungsanzeiger, belehrten ihn, daß Feodor Nadaszy für einige Tage wenigstens noch in Hamburg sein würde. Er mußte sie also finden. Aber wie?! Das Herz'stockte dem ehrlichen Jungen, wenn er an all die Möglichkeiten dachte. Am frühen Morgen, sobald cs anging, machte er sich auf die Suche. Er hatte Unglück. Auf der Polizei war die Adresse des Herrn Nadaszy noch nicht abgegeben worden, erst nach mannig fachen Kreuz- und Querfahrten gelangte er in das Victoriahotel und damit zu dem Resultat, daß Nadaszy hier abgestiegen sei. Der junge Rau fühlte, daß er vor seinem Schicksal stand. Die Halle ging mit ihm um; der Portier tanzte bald oben, bald unten vor seinen Augen; er meisterte sich jedoch schnell. Und ob er den Mann im betreßten Rock immer noch doppelt sah, er fand doch den richtigen Ton für die Frage: „Und eine Dame mit?" Der Mann schien zu verstehen. Er strich mit der Hand über sein volles, aber vom vielen Nachtdienst verblaßtes Gesicht, ver senkte das Kinn in die Hand und sah mit bedeutsamem Blinzeln zu dem Frager auf. Dessen Haltung, des Königs Rock, ob er auch nur den Freiwilligen kennzeichnete, schienen ihm mehr zu imponiren als das zierliche Herrchen in dem Patentcivil und dem so auffällig zur Schau getragenen Chic. Er hielt es für ge rathen, sich rechtzeitig auf die Seite des Stärkeren zu schlagen. „Hm, ja" — und nach einem weiteren inquisitorischen Blick, der den psychologischen Beobachtungen seiner Portierseele alle Ehre machte: „Nr. 33." Damit hatte er auch schon einem der hier in LivrSe um laufenden Bürschchen einen Wink gegeben, dem Herrn zu Diensten zu sein. „Melden Sie mich." Heribert reichte dem Bürschchen seine Karte. „Warten. Ich fahre mit hinauf." Und er sprang, ehe sich noch die Maschinerie in Bewegung gesetzt, auf den Fahrstuhl. Wieder tönte ein leises Klopfen an der Thür Nr. 33. Es war einige Minuten später, als Fiffi endlich von einem Schlaf, wie ihn nur Jugend, tiefste Erschöpfung und hoffnungsloser Jammer zu Stande bringen, langsam wieder zum Bewußtsein ihrer Lage gekommen war.