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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 29.01.1898
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-29
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980129026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898012902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898012902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-01
- Tag 1898-01-29
-
Monat
1898-01
-
Jahr
1898
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Während man im letzteren bei der Berathung des Etats des Neichsgesund- beitSamteS nicht viel mehr erfuhr, als daß eine Denkschrift über die Persuche zur Bekämpfung von Viehseuchen in Porbereitung ist, daß die Negierung unter Aufrechterhaltung des ImpsgesetzeS in eine Prüfung der Frage eintreten will, welche Aenderungcn nach dem heutigen Stande der Wissenschaft erforderlich seien, und daß über das im NeichSamt des Innern ausgearbeitete Gesetz zur Regelung Les Apothekenwesens Verhandlungen mit der preußischen Regierung eingeleitet sind, entwickelte sich im preußischen Abgeordnetenhause bei der Berathung deS Land wirt!) sch astse t ats eine Debatte hochpolitischer Art, in deren Verlaufe der Landwirthschaflsminister v. Hamm erste in - Loxteu mehrere höchst wichtige Erklärungen abgab. Zu nächst sprach er sich mit aller Bestimmtheit gegen die sogenannten „großen Mittel" ter Agraragitatwn aus. Ein Vertreter der freiconservativcn Fraction, deren Redner gestern überhaupt der extremen Agraragitation weit größere Zugeständnisse machten, als die Redner der conservativen Partei, hatte verlangt, daß endlich durchgreifende große Mittel angewendet würden, worauf Herr v. Hammerstein-Loxten dieses Ansinnen mit der Begründung zurückwics, daß Preußen in der Fürsorge für die Landwirthschasr hinter keinem andern Staate zurückgeblieben sei. Noch bedeutsamer aber war eine weitere Erklärung des Ministers, die, weil sie verlesen wurde, ans eine im Schoße deS Ministeriums vorausgegangene Verein barung schließen läßt. Der Abg. Graf Lim b urg-S t i rum batte nämlich gewünscht, „daß die Negierung zur Beruhigung der Landwirthschaft die Erklärung abgebc, daß sie beim künftigen Abschluß von Handelsverträgen entschlossen sei, für die Landwirthschaft mehr zu thun, als bisher ge schehen ist". Darauf verlas Herr v. Hammerstein die folgende Erklärung: „Bezüglich der letzten Bitte glaube ich mich für ermächtigt zu hallen, Namens der Staatsrcgierung folgende Erklärung aügeben zu können. Die Staatsregierung ist gewillt, bei der Eut- scheidung der Frage, ob und wie dem Auslände gegenüber unsere .Handels» und wirthschaftlichen Beziehungen zu ordnen sein mögen, die Frage in sorgsame, ernste Erwägung zu nehmen, wie die Interessen der Landwirthschaft bei den künftigen Ver handlungen besser gewahrt werden können und müssen, als es bisher der Fall gewesen ist." Obgleich nun die Vorbereitung der künftigen Handels verträge durch Einberufung des Zollbeiraths schon darauf vorbereitet hat, daß bei den Vertragsverhandlungen die Interessen der Landwirthschaft besser als bisher gewahrt werden sollen, so ist doch die Erklärung des Ministers von hohem Wcrthe. Durch sie wird der Landwirthschaft eine Aussicht eröffnet, mit der sie sich befriedigt erklären kann. Auf Erfüllung deS Wunsches des Herrn vr. Hahn, daß reine Tarifverträge nicht abgeschlossen werden möchten, sondern ein autonomer Tarif mit Maximal- und Minimalsätzen und kurzfristigen Verträgen, wird man freilich verzichten müssen, da dieser Wunsch weder mit dem Auslande, noch mit den berechtigten Interessen der Industrie rechnet; ebenso auf eine Zustimmung der Negierung zu dem Anträge Kanitz und den übrigen „großen Mitteln. Aber gerade deshalb ist zu erwarten, daß für Das, was bei den Handelsvertragsverhandlungen die Regierung für die deutsche Landwirthschaft zu erringen suchen wird, auch Vertreter der nichtagrarischen Interessen eintreten. Zunächst wird man abwarten müssen, wie die Berliner Leitung des Bundes der Landwirthe zu den Erklärungen des Frei herrn v. Hammcrstein-Loxten sich stellen wird. Agitiren die Herren Ploetz und Genossen noch ferner für ihre „großen Mittel", so scheiden sie sich damit selbst ans der Zahl der Parteien aus, die „gesammelt" werden sollen. Die gestrige Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses wird daher von tiefgehender Bedeutung für die Gestaltung der Wahlbewegung für den neuen Reichstag werden. Während bei uns die Vorbereitung der Handelsverträge nicht nur von der Reichsregierung, sondern auch von den Interessenvertretungen des Handels und der Industrie eifrig betrieben wird, sind auch unsere ausländischen Gegner nicht müßig. Der französischen Kammer liegt ein Gesetzentwurf über Errichtung eines Handelsamtes für Förderung des Außenhandels vor, das gemeinsam vom Staate, den Handelskammern und den Industrievercinen geschaffen und erhalten werden soll. Die russische Regierung hat den Plan gefaßt, einen „Rath zur russischen Handels schifffahrt" ins Leben zusrufen. Das schwedische „königliche Handelscollegium" entwickelt seit der im December erfolgten Veröffentlichung seines interessanten Jahresberichts eine eifrige Thätigkeit, und auf Anregung der Interessenten hat sich in Dänemark soeben in enger Fühlung mit der Negierung eine handelspolitische Vereinigung gebildet. In Oesterreich- Ungarn aber sind Negierung, Handelskammern, Gewerbe- Vereine und Jnteressentcnverbände gemeinsam an der Arbeit. Dieses Land besitzt bereits einen ständigen Zollbeirath. Während aber im Handels-, Finanz- und Ackerbau-Ministerium Vorschläge zur Schaffung einer halbamtlichen Stelle er wogen werden, hat sich gan^ wie bei uns aus der Initiative der Interessenten eine „Centralstelle für Wahrung der wirtbschastlichen Interessen beim Beschlüsse vc:i Handels verträgen" gebildet. Es wird dadurch voraussichtlich wie in Deutschland ein höchst ersprießliches Nebeneinanderarbeiten und Ergänzen der Thätigkeit der Regierung und der Inter essenten gewährleistet werden. Während bei uns bespiels- weise der „Wirthschaftliche Ausschuß" sich der schwierigen und umfassenden Arbeit der Ausstellung einer Provuctions- statistik unterzieht, bearbeitet und sammelt zur Zeit die „Centralstelle für Vorbereitung von Handelsverträgen" das Material zum englischen Handelsverträge. Aus zahl reichen Zweigen der Industrie sind ihr bereits Eingaben und Anträge zugegangen, und es steht zu erwarten, daß man hier eine Klärung der berechtigten Wünsche und Forderungen herbeiführt, welche für den Abschluß des Vertrages eine werthvolle Unterlage bieten wird. Die am 3l. August dieses Jahres cintretende Groß jährigkeit der Königin der Niederlande, Wilhelmine, hat in der niederländischen Presse einen Streit über den Sinn der üblichen Worte „von Gottes Gnaden" ent facht. Die „Nieuwe Rotterdamsche Courant", ein Blatt, dem man gewiß keine umstürzlerischen Neigungen vorwerfcn kann, stellt sich in dieser Frage auf den folgenden Stand punkt. Sie führt (der „Köln. Ztg." zufolge) aus, daß es nach der geschichtlichen Entwickelung der oranischen Herrschaft in den Niederlanden keine königliche, sondern eine Staatssouveränetät giebt, und beruft sich dabei, gegen das Organ der Antirevolutionairen, das für den Begriff des reinen Gottesgnadenthums eingetreten war, auf eine 1874 von vr. Kuyper, dem Führer dieser selben Partei, herausgegebene Schrift: „Der Calvinismus als Ursprung und Gewähr unserer verfassungsmäßigen Freiheiten." Dr. Kuhper legt in dieser Schrift Werth darauf, hervorzuheben, daß nach den von ihm durchforschten Acten „die außerordentlich kostbare Perle, die in dem constitutionellen Staatsrecht für Volksfreiheit geboten ist, nicht in dem unheiligen Strom der französischen Revo lution aufgefischt worden ist, sondern durch die RousseauS und MontesguieuS aus der Märtyrertrone der Hugenotten, aus dem blutbedeckten Diadem unserer Nassauer und Oranier gebrochen worden ist." Er verwirft denn auch so kräftig wie möglich die Lehre vom göttlichen Recht der Bourbonen und weist auf einen bekannten Ausspruch Calvin'S hin. vr. Kuyper hat sodann bei IuniuS Brutus (Languet) „die Grundlinien des kalvinistischen Systems, in welchem das echte konstitutionelle Staatsrecht wurzelt", gezogen gefunden und schreibt weiter: „Alle Souveränetät leitet er ab von Gott. Er ist ein Vertreter des „göttlichen Rechts", indeß so, daß er die Souveränetät der Krone nicht in der Person des Königs, noch auch in dem einzelnen königlichen Amt, sondern in der organischen Verbindung dieses Amtes mit den wagistratus intdriores sticht." Er meint damit nicht die von dem König angestellten Beamten, sondern die Machthaber, die unabhängig von deS Königs Willen in den Neichsstaaten oder Parla menten ihren Sitz haben, und sagt von diesen, sie hätten ebensowohl einen Theil der Staatssouveränetät von Gott empfangen als der König. Sie stehen mit ihm da als verantwortlich vor dem König der Könige, daß die Herrschaft dem Volke zum Segen ge reiche. vr. Kuyper zieht dann den Schluß, in den viel erörterten Worten „von Gottes Gnaden" könne und dürfe auch für einen Fürsten in keinem anderen Sinne von einem reguum ckoi gratia, von einem ckroit ciivin die Rede sein, „als in dem Sinne, in welchem jeder von uns die Herr schaft ansnbt, mit der er bekleidet nt und daher auch unter Achtung der Rechte Anderer noch Gott verantwortlich bleibt." Tbatsächlich, fährt das Rotterdamer Blatt fort, war der Ausdruck „von Gortes Gnaden" ursprünglich nichts Anderes als eine Aeußerung christlicher Demuth im Gegensatz zu nicht ungebräuchlichen Aeußerungen der Sclbstcrhebung. Zu erst waren es die Bischöfe, die ibn ihrem Titel beifügten. Es folgten die Aebte und Aebtissinnen, Mönche und Geist liche von niedrem Range. Auch die Päpste gebrauchten ihn später. Von weltlichen Fürsten waren die französischen Könige aus dem Karolingerhause die ersten, die sich dessen bedienten, und zwar zu Anfang in dem ursprünglichen Sinne. Später machten sie den Ausdruck zu der gebeimen Quelle, aus der sie ihre Ansprüche auf unbegrenzte Herrschaft her zuleiten dachten, erst den Vasallen gegenüber, und hier insofern nicht mit Unrecht, als die Vasallen auch stets den Lehnsherrn als die Person anzuerkennen hatten, deren Ver mittlung sie ihre Herrschaft verdankten. So untersagte Ludwig XI. dem Herzog von Bretagne, den Ausdruck Par is. gräco cko Lien seinem Titel beizufügen. Endlich mußte er dazu dienen, um Ludwig's XIV. Ausspruch: I^'Ltat e'e?t mol zu rechtfertigen. Anstoß werden die so oft mißbrauchten Worte nicht geben, wenn man sie in ihrem ursprünglichen Sinne auffaßt. Mag man denn die Königin als die erste Dienerin des Staates be zeichnen? Warum nicht? Ist sie auch das Haupt des (Staates, so steht sie doch nicht außerhalb deS Staates', Das Haupt dient dem Ganzen wie jedes andere Glied. Es würde den Ueberlieferungen deS Hauses Oranien widerspreche:!, wenn sie gegen diese Bezeichnung etwas einzuwenden hätl Wir erwarten vielmehr, daß sie sich eS zur Ehre rechnen wird, diesen Titel zu tragen in Erinnerung an die Worr , die ihr königlicher Vater vor beinahe einem halben Jab. hundert bei seiner Thronbesteigung an die Generalstaate:! richtete: „Lasset uns täglich fragen, ob wir unsere Pflichieu als Niederländer gegen das Vaterland, ich als König, Ei', meine Herren, als Vertreter deS Volkes, alle erfüllt haben." ES war klar, daß die italienische Regierung angesichio der in so vielen Provinzen herrschenden Aufregung über die Brodvertheuerung sich diesmal nicht mit Repressiv maßregeln begnügen konnte, sondern daran gehen mußte, der bedenklichen Steigerung der Getreide- und Brodpreise durcv ökonomische Maßnahmen schnell und energisch zu begegnen. Die erste und wohl auch wichtigste dieser Maßnahmen ist nur mehr erfolgt; ein sofort in Kraft tretendes königliches Dekret, das von der Kammer in den nächsten Tagen schon zum Gesetz erhoben werden dürfte, setzt, wie gemeldet, den Ein gangszoll für Getreide von 7^ auf 5 Lire pro Centncr herab. Auf Montecitorio wird man dieser Anordnung uu bedenklich zustimmen, denn wenn das Fähnlein der Agrarier es in Italien auch häufig verstanden bat, in Zollangelegei beiten seinen Willen durchzusetzen, so sieht die überwiegend: Mehrheit der Kammer doch ein, daß unter den obwaltenden Verhältnissen der im Interesse theils der Staatskasse, theils der heimischen Landwirthschaft beschlossene Zollsatz nicht auf recht erhalten werden kann. Man macht sogar, und nicht mit Unrecht, auf mancher Seite der Regierung den Vorwurf, daß sie den Ernst der Sachlage nicht rechtzeitig erkannt und daher die Reduktion zu lange hinauSgeschoben habe. Wenn die Maßregeln, zu denen man sich heute entschlossen hat, vor einigen Monaten bereits erfolgt wären, so wäre es wahrscheinlich zu den heftigen Ausbrüchen der Unzufriedenheit und der Dolksleidenschast trotz der socralistischen und anarchistischen Agitationen nicht oder doch nicht in so bedenklichem Umfange gekommen. Die heutige Sachlage ließ sich, wie der „Münchn. Allg. Ztg." aus Rom geschrieben wird, eigentlich schon in der zweiten Hälfte des IahreS 1896 vorauSsehen. Damals hatte die Ungunst der Witterung, namentlich der anhaltende heftige Regen, den nachtheiligsten Einfluß einerseits auf die Weinernte, anderer seits auf die junge» Saaten. Die Getreideernte von 1897 wies denn auch einen relativ sehr geringen Ertrag auf. Seit jener Zeit bewegten sich die Getreidepreise in aufwärtö- strebenber Richtung, und die Steigerung verschärfte sich noch, als es klar wurde, daß Europa im Allgemeinen einem schlechten Erntejahre entgegeugehe. Schon damals — so erklären die Oppositionsorgane — wäre eine Herabsetzung der Getreidezöllc am Platz gewesen. Zudem würde bei rechtzeitiger Reduktion der italienischeKaufmann und Gewerbetreibende in derLage gewesen sein, sich die erforderlichen Getreidevorräthe zu erheblich billigeren Preisen zu sichern. Allein man ließ es zunächst noch beim Alten, und die italienische „Taxe aus den Hunger", wie ein radikales Blatt den Getreide-Einfuhrzoll nennt, war und blieb die höchste in ganz Europa. Nunmehr hat sich die Regierung, wie gesagt, doch zu einer zeitweiligen Reduktion entschließen müssen, zweifellos gedrängt durch die täglich mächtiger anwachsende Volksbewegung, welche direkt die Ab schaffung der Getrcidezölle verlangte. Die Regierung hielt es für geralhen, dieser Agitation durch freiwillige Herabsetzung des Zolles die Spitze abzubrechen. Dieser Entschluß hat im ganzen Lande den besten Eindruck hervorgerufen. Zu wünschen und Feirilletsn. Alice. 2s Roman von I. Lermina. Nachdruck verboten. „Ich habe keine zehn Thaler in meiner Tasche." „Bah! Zehn Thaler, das ist eine Summe; doch wenn ich Ihnen sage „und Sie?" so meine ich damit, wer sind Sie, woher kommen Sie, wo gehn Sic hin? Ich suche einen Mann; sind Sie dieser Mann? Ich warte!" „Ah! Sie stellen ein förmliches Verhör mit mir an! Meinet wegen! Wer ich bin? . . . Ein Narr, ein Dummkopf, der vielleicht schon zehnmal das Glück in den Händen gehabt, aber nicht verstanden hat, es festzuhalten. . . . Ein Mensch, der sich in nutzlosem Kampfe erschöpft und für alle seine Bemühungen nichts als Haß erntete. Ach, wenn ich nicht eine erste Dumm heit begangen hätte." „Sie meinen Ihre Heirath?" unterbrach Vaucroix, die Stimme senkend. „Nun, denn, ja, eine romantische, alberne Geschichte. Man hat mir das Leben gerettet, ich habe mich dankbar gezeigt . . . man betet mich an . . . und ich fühle, daß ich immer tiefer in den elenden Abgrund sinke . . . Und dabei muß man sich sagen, daß ein Glücksstreich, rin Zufall genügen würde, und ich stiege zu dem Range empor, der mir gebührt . . Was brauchte ich wohl? Ein paar Hundert Louis, und ich schwöre Ihnen, ich wäre gerettet. Doch mich verfolgt ein elendes Pech, jeden Tag neue Erniedrigungen, neue Demüthigungen, neue Enttäuschun gen .. . Ach wenn das Glück nur einmal käme, gleichviel durch welche Mittel, ich würde mich für das Elend rächen . . . Unter dessen bin ich allein an diese Mittelmäßigkeit geschmiedet, die mich tödtet, in dieses plumpe Philisterleben eingeengt, das mich er stickt . . . Ach, wenn Sie wüßten!" Vaucroix hörte aufmerksam zu und versetzte dann in einfachem Tone: „Mit einem Worte, Sie wären, um aus dieser Verlegenheit herauszukommen, zu Allem bereit . . . ." Clairac sah ihn an; augenscheinlich lag in dem harmlosen Worte Vaucroix' «ine tiefere Bedeutung, denn er zitterte und wiederholte erst nach längerer Pause: „Ja, zu Allem!" Die beiden Männer schwiegen eine Weile, doch Vaucroix war nicht gewillt, die Unterhaltung, die er auf so gutem Wege sah, fallen zu lasten, und darum fuhr er fort: „Sie sind Waise, stehen aber nicht ohne Verwandte auf der Welt?" Clairac machte eine gleichgiltige, fast verächtliche Bewegung. „Ja, ja, ich weiß", fuhr Vaucroix fort. „Ihre Familie kümmert sich nicht um Sie; gewisse reiche Cousins würden nicht geruhen, Ihnen zu Hilfe zu kommen, und was die Erbschaft Ihrer Tante anbetrifft . . . ." „Woher wissen Sie das?" Ohne diese Frage zu beantworten, fuhr Vaucroix fort: „Sie können kaum darauf zählen, denn sie zürnt Ihnen wegen gewisser Streiche; — kurz und gut, es sind so ungefähr ein bis zwei Millionen, die Ihnen da aus den Fingern gehen —" Clairac preßte die Hände zusammen und wiederholte: „Zwei Millionen! Die alte Närrin haßt mich . . ." „Nun, eine große Närrin ist sie nicht, da sie aus den Trüm mern ihres von der Revolution bedrohten Vermögens einen so hübschen Bissen hat retten können." „Und dabei verbraucht sie nicht einmal den zehnten Theil, ja vielleicht nicht einmal den hundertsten Theil ihrer Rente." „Was wollen Sie, alte Leute sind sonderbar . . . Diese Gräfin von . . von . . . Na, so helfen Sie mir doch, ich habe kein Namensgedächtniß!" „Gräfin v. Versannes, die leibliche Schwester meines Vaters." „Ja ganz recht, so heißt sic . . . Nun denn, sie spart; sie vergräbt in ihren Möbeln, ihren Kellern, wer weiß, vielleicht auch in den Mauern ihres Schlosses zu Neuilly Tausende von Louisd'ors. Ein Jeder hat seine Passionen; der Geizige ist auf seine Art ein Künstler." „Und während diese Elende inmitten ihres großen Reichthums vegetirt, sterbe ich vor Noth und Wuth." „Namentlich vor Wuth; besonders, weil man nicht einen ge wissen Schmuck kaufen konnte, den man neulich sehr aufmerksam in der Galerie de Valois betrachtete." „Aber Sie spioniren mich ja vollständig aus!" rief Clairac bestürzt. „Hm, das ist ein häßliches Wort, ich interessire mich für Sie, das ist Alles .... Ja, ich sah Sie vor dem Schaufenster des Juweliers Froment stehen, mit glänzenden Augen und blaffen Lippen, und sagte mir: „Es ist wirklich sehr schade, daß dieser schöne Mensch diesen Schmuck nicht der Dame seines Herzens kaufen kann." „Still!" rief Clairac plötzlich, legte einen Finger auf die Lippen und warf einen unruhigen Blick auf die Thür, hinter der Alice verschwunden war. Vaucroix beruhigte ihn mit einer Handbewegung, dann neigte er sich zu ihm und fügte leise hinzu: „Es ist namentlich sehr schade, daß diese Herzensdame eine vornehme Dame ist, die, wenn sie wollte, all: Ungerechtigkeiten des Schicksals wieder gut machen könnte." Clairac fuhr hastig empor. „Genug, Sie wissen zu viel über mich, und ich verbiete Ihnen " „Nun, nun, werden Sie nur nicht ärgerlich; worüber be klagen Sie sich? Ich bin doch kein Dummkopf und muß doch wissen, mit wem ich es zu thun habe." „Aber ich wiederhole noch einmal. Sie können doch nichts für mich thun!" Vaucroix erhob sich, legte seine beiden Hände auf Clairac's Schulter und sagte, ihm in die Augen sehend: „Hören Sie mich an, Sie sind elend, elender als ich, denn Sie besitzen Ehrgeiz und Wünsche, die ich nicht mehr hege. . . . Namentlich aber sind Sie elender, weil Sie jünger sind. Ich habe nur noch wenige Jahre meines Lebens vor mir, vor Ihnen aber liegt noch ein ganzes Leben der Noth .... Und empfinden Sie, aufrichtig gestanden, nicht einen wüthcnden Schmerz, wenn die Lakaien der schönen Dame, von der ich eben gesprochen, sich hinter Ihrem Rücken über Sie lustig machen?" „Schweigen Sie, warum martern Sie mich? Anstatt in der Wunde zu wühlen, sollten Sie mir lieber helfen." „Dor einigen Tagen", fuhr Vaucroix mit zischender Stimme fort, „als ein alter Herr, an den Sie viel Geld verloren hatten, den Spielsaal verließ, ist Ihnen plötzlich der Gedanke gekommen, ihn zur Herausgabe zu zwingen. Sie folgten ihm etwa eine Viertelstunde und waren ihm zweimal so nahe auf den Fersen, daß Sie ihn beinahe berührten . . . Clairac war entsetzlich blaß geworden, er suchte nicht mehr zu leugnen, trotzdem fragte er unwillkürlich . „Nun weiter?" „Der Mann hatte sich, plötzlich mißtrauisch geworden, umge- wendet. Sie schienen ihm nichts zu sagen zu haben, denn Sie liefen, so schnell sie konnten, davon; ein Anfall von Schwäche!" „Von Schwäche? Weil ich nicht ..." „Still, das wäre eine Dummheit gewesen. . . die Straße ist für Leute, wie wir es sind, nicht geeignet. Sie sehen, diese un bedeutenden Umstände sind mir behilflich gewesen, Sie genauer kennen zu lernen .... Alles in Allem sind Sie ein Mann von Energie; einen solchen Mann brauchte ich, obwohl ich von Hause aus kein Gewaltmensch bin. — Lassen wir das übrigens; wir sprachen also von ihrer Frau Tante, der Gräfin de Vrr- sannes. Ich glaube, sie lebt allein." Clairac sah Vaucroix erstaunt an und versetzte dann: „Ja, ich glaube allerdings auch, nur ein alter Gärtner —" „So, so . . . Sind sie schon einmal bei ihr gewesen?", „Ein einziges Mal vor fünf oder sechs Jahren." „Was hat Sie Ihnen gesagt?" „Gar nichts, sie hat sich hartnäckig geweigert, mich zu em pfangen." „Und Sie hatten keine weiteren Schritte unternommen?" „Nein; wozu?" „Nun, wer weiß, alte Leute sind launenhaft. Ihre Tante kennt Ihre Lage vielleicht gar nicht genau . . . Wenn Sie sie ihr erklären würden . . . Sie ist sehr reich und brauchte nur eine Schublade zu öffnen, um alle ihre Wünsche zu erfüllen." „Ich sage Ihnen noch einmal, sie würde mich heute ebenso wenig empfangen, wie sie mich damals empfangen hat, im Gegentheil, sie würde mich davonjagen lassen." „Durch den alten Gärtner, hm, hm . . . Nun, vielleicht könnte man ihr einen Besuch zu zweien abstatten .. . Die beiden Männer sahen sich an, und unwillkürlich richtete Clairac die Augen nach Alice's Zimmer. Vaucroix schien einzusehen, daß die Unterhaltung lange genug gedauert hatte; er nahm seinen Hut, den er auf einen Stuhl gestellt hatte, und sagte: „Natürlich müssen wir uns darüber noch näher verständigen. Du lieber Gott, ich will ja weiter nichts, als Sie aus der Der legenheit reißen. Uebrigens kommen Sie doch heute Abend zum Diner nach dem Palais Royal? Wir können dann ja über die Sache sprechen ... Es ist also abgemackt, Frau v. Clairac wird doch nicht allzu sehr zürnen, daß ich Sie ihr entziehe." „Ich werde kommen und verlasse mich gan-, auf Sie, und jetzt auf Wiedersehen! Ich fühle mich recht zerschlagen und werde versuchen, ein paar Stunden zu schlafen." Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, dann verließ Vaucroix das Zimmer. ... -- . .
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