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Di« Morgeu-A»«gabe erscheint um '/,7 Uhr. die Abend-Au-gabe Wochentag- um 5 Uhr. Neöaclion und Expedition: Johanne»,affe 8. Die Expedition ist Wochentag- ununterbrochen ««öffnet von früh 8 bi- Abend- 7 Uhr. Filialen: Dee» Klemm's Sartin». (Alfred Hahn), Uviversität-straße 3 (Paulinum). Louis Lösche. Katbartnenstr. 14, Part, und König-Platz 7. Bezugs-Preis in der Hauptexpedition oder den im Stadt« bertrk und den Vororten errichteten Au»- aavestellrn abgebolt: vierteljährlich 4.50, kei zweimaliger täglicher Zustellung inS Hau- 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: vierteljährlich 6.—. Directe tägliche Kreuzbandiendun, t»L Au-laud: monatlich ui« 7.50. 516. Abend-Ausgabe. MipMtr TllMatt Anzeiger. Ämtsvlatt des KönigNchen Land- nnd Amtsgerichtes Leipzig, des Natljes und Votizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Freitag den 9. Octobcr 1896. Anzeigen-Prei- die 6 gespaltene Petitzeile SO Pfg. Iieclamen unter dem RedactionSstrich (4gc« spalten) 50^j, vor den Familienuachrichten 16 gespalten) 40^. Größere Schristen laut unserem Preis» »erzeichniß. Tabellarischer und Zisseruiatz nach höherem Tarif. Extra-Beilagen (gesalzt), »ar mit de» Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderuu, SO.—, mit Postbeförderung ^l 70.—. —» o Annahmeschluß für Anzeigen: Abend-Ansgabe: Bormittag» 10 UhL Morgen-Ausgabe: Nachmittags 4 Uhr. v«i den Filialen und Annahmestellen je eia« halbe Stunde früher. Anteilen sind stet- an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig SO. Jahrgang. Das Zarenpaar in Frankreich. Die von der Wiener „Neuen Fr. Presse" und neuerdings von der „Köln. Ztg." vertretene, auch von uns getheilte An sicht, daß zwischen Frankreich und Rußland eine Alliance, ein BUndnißvertrag vorliege, welcher die gegenseitige Unter stützung beider Staaten in der Verfolgung ihrer Interessen bei der Lösung der schwebenden internationalen Probleme und Deutschland gegenüber ein Zusammengehen in defensivem Sinne gewährleiste, findet, da das Wort „Alliance" in den Cherbourger und Pariser Toasten nicht gefallen ist, von ver schiedenen Seiten Widerspruch. So sind eö vor Allem die „Hamb. Nachr.", welche nochmals ihren bekannten Standpunct entwickeln, wonach Rußland nicht Frankreich, sondern umgekehrt Frank reich Rußland brauche und sonach Letzteres die Unter stützung des Ersteren in dem übrigens kaum denkbaren Fall eines russisch-französischen Conflicts völlig umsonst haben könne. Den „Hamb. Nachr." welche aber die Möglichkeit bestimmter Abmachungen zwischen Petersburg und Paris England gegenüber zugeben, secundirt die „Voss. Ztg., welche „zu wissen glaubt", daß ein förmlicher Bündnitz- vertrag mindestens bis zum 6. October nicht bestanden habe, sondern daß bis dahin lediglich ein sogenanntes „Protokoll" vorhanden gewesen sei, welches die Grund züge eines Bü.idnißvertrages enthalte, aber weder vom Kaiser von Rußland, noch vom Präsidenten der französischen Republik unterzeichnet sei. Auch ein russisches, dem Petersburger Auswärtigen Amt nahestehendes Blatt, die Moskauer „Nußk. Wjedomosti", sagt, daß so viel ihr wenigstens bekannt, keiner der beiden Staaten im Hinblick auf etwaige internationale Ereignisse durch formelle Verpflichtungen an den andere» gebunden sei. Das Aufreckterhalten guter Beziehungen zu Frankreich sei in politischer Hinsicht wichtig. Ein Vertrag mit Frankreich aber könne Rußland in Verwickelungen bringen, deren Ausgang für die russischen Interessen zwar keine directe Bedeutung hätte, aber mancherlei Uiibcguemlich- keiten mit sich bringen könnte. Der Kaiserbesuch sei der Beweis des freundschaftlichen Verhältnisses zu Frankreich. Wolle man aber den Festlichkeiten noch weitere Bedeutung beilegen, so hieße das nicht mit den Thatsachcn rechnen. — Diesen Preßstimmcn gegenüber möchten wir doch darauf Hin weisen, daß die Existenz eines Bündnißvertrags sich aus der ganzen Lage der Dmge mit Nothwendigkeit zu ergeben scheint. Vor allen Dingen ist eS eine mit den Tbatsacken nicht har- monirende Anschauung, daß Frankreich lediglich der gebende, Rußland der empfangende Tbeil sei und daß letzteres daher eine Thorheit begänge, sich irgendwie zu binden. Rußland braucht die französische Unterstützung allerdings kaum jemals Deutschland gegenüber, wohl aber in den großen ost- und mittelasiatischen Fragen. Dorthin hat die Petersburger Diplomatie mit Recht den Schwerpunkt ihrer auf die Ausdehnung und Sicherstellung des russischen Machtbereichs gerichteten Thätigkeit concentrirt, dort bedarf es fast bei jedem Schritt der Hilfe Frankreichs den Concurrenzmächten England und Japan gegenüber. Um aber dort überhaupt die Hände frei zu bekommen, muß ihm außerordentlich daran gelegen sein, daß die westasiatisch-orientalischen Fragen so lange wie möglich latent bleiben. Um dies zu erreichen, um namentlich den Störenfried England in Schach zu halten, ist es wiederum auf den Beistand Frankreichs angewiesen. Jahr für Jahr schließt der russische Haushalt mit einem Fehlbetrag von mehreren Hundert Millionen ab. Woher zieht Rußland die finanziellen Hilfskräfte, die ihm alle jene Actionen und die Reorganisation seiner Wehrkraft er möglichen? Abermals ist es Frankreich, das seine Milliarden hergiebt. Kein Wunder daher, daß Rußland es war, welches eingestandenermaßen die Initiative ergriff, um mit der fran zösischen Republik, welche aus eigenen Kräften sich nach dem 1870er Sturz wieder zu achtunggebietender Machtentfaltung erhoben hatte, Beziehungen anzuknüpsen, welche der Zar selbst als sehr „wertbvolle" bezeichnet hat. Glaubt man denn im Ernst, die Pariser Diplomatie sei blind diesen Thatsachen gegenüber, glaubt man, sie hätte lediglich um der russischen Unterstützung auf colonialem Gebiete, namentlich in Egypten, willen sich Rußland so unbedingt moralisch, militairisch und finanziell zur Verfügung gestellt? Die Pariser Staatsmänner, welche doch nur die, wenn auch vorsichtigen, Repräsentanten des Volkswilleus sind, müßten, um einen Ausdruck der „Hamb. Nachr." zu acceptiren, „Tröpfe" sein, wenn sie die deutsche Frage ganz aus den Vereinbarungen mit Rußland außer Spiel gelassen hätten. Sie haben freilich nie den Versuch gemacht, Rußland für einen Offensivkrieg gegen die „Räuber" Elsaß-Lothringens zu engagiren, aber sie haben die Petersburger Staatsleitung, den Zaren Alexander III. eingeschlossen, glauben zu machen gewußt, daß Deutsch land beabsichtige, bei bester Gelegenheit über Frankreich hcrzusaUen und eö gänzlich zu dccimiren, was Rußland selbst verständlich niemals hätte zugeben können. Und ist Rußland nicht lauge Zeit vom tiefsten Mißtrauen gegen Deutschland, dem es direcl feindselige Absichten gegen die russischen Inter essen zutraule, erfüllt gewesen? Wer bürgt dafür, daß dieses Mißtrauen jetzt bis auf den letzten Rest geschwunden ist? Kurz, man darf nicht vergessen, daß Rußland die französische Republik ebenso braucht, wie diese Rußland. Wenn aber gleich schwerwiegende Interessen auf beiten Seilen in Betracht kommen, so ist die Grundlage für eine Entente und Union nicht blos, sondern für eine förmliche Alliance gegeben. Be stände sie nicht und hätte man russischerseits nicht alle Ursache, das größte Gewicht auf die französische Bundesgenossenschaft zu legen, Nicolaus H., der geborene Repräsentant der absoluten Monarchie von Gottes Gnaden hätte sich gewiß nicht soweit herabgelassen, die radikale Republik, die Tochter der Revolution, in der Stadt der Barrikaden und der Königsmorde aufzusuchen, ihr Schmeicheleien zu sagen, die Vertreter des souveränen Volkes durch nicht pro grammmäßige Visiten zu überraschen, und sich als der „Protector" desRepublikanismus feiern lassen. Auck der Pariser Mitarbeiter des „Hamburger Corr." ist der Ansicht, daß die „Alliance" unzweifelhaft vorhanden ist, zum Mindesten der Sache nach, und ebenso hält die „Tägliche Rundschau" die Annahme für völlig berechtigt, daß die letzten Vorgänge in Paris für den Bestand eines förmlichen Bünd nisses sprechen. Dafür, daß dasselbe weder von französischer, noch von russischer Seite officiell zugegeben und der Wort laut der Alliance nicht analog dem Dreibundvertrag ver öffentlicht wird, nach Gründen zu suchen, ist nicht unsere Sache. Eins dieser Motive deuteten wir schon gestern an, es ist aber sicher nicht bas einzige. — Wir wenden uns schließlich dem weiteren Gange der Ereignisse in Paris und Versailles zu, Uber welche uns folgende Nachrichten vorliegen: * Paris, 8. October. Kaiser Nicolaus gab telegraphisch Befehl, daß der für die Gruft Carnot's bestimmte goldene Kranz schnellstens vollendet werde und die Inschrift: „A. Carnot Nicolaus ll." erhalte. * Versailles, 8. October. Nach ihrem Eintreffen durchfuhren der Kaiser, die Kaiserin von Rußland und der Präsident Faure den Garten und Park des Schlosses, woselbst sämmtliche Wasser- künste spielten. Gegen 5*/, Uhr begaben sich die Majestäten durch den Ehrenhof, in dem die Minister und andere osfici'elle Persönlich keiten Ausstellung genommen hatten, nach ihren Zimmern, die in denen Ludwig's XlV. und Ludwig's XV. hergerichtet waren. Um 6 Uhr begann die Festbeleuchtung, die einen herrlichen Anblick darbietet. * Versailles, 8. October. Als der Kaiser und die Kaiserin nach der Spazierfahrt durch den Park den Wagen verließen," reichte Präsident Faure der Kaiserin den Arm, während der Kaiser zur Rechten ging. Der Zug stieg die Königin-Treppe hinauf, aus deren Höhe Madame und Fräulein Faure die Majestäten erwarteten und sich alsdann dem Zuge anschlossen, der die einzelnen Räume durchschritt, die Zimmer Marie Antoinette's und das Oeil cke boeuk- Zimnier. Im Zimmer Ludwig's XIV. ruhten die Majestäten einige Augenblicke aus. Die Personen, welche in der Spiegelgalerie warteten und die Majestäten nicht wieder erscheinen sahen, wollten ihnen entgegengehen. Dadurch entstanden zwei Strömungen, die eine von Personen, die ankamen, die andere von denen, die herausgeben wollten; es erfolgte dadurch ein Gedränge. Die Majestäten und Faure traten nun in die Spiegelgalerie und erschienen hieraus auf dem Balcon des Central pavillons. Auf der Terrasse hatten sich etwa 15 000 Zuschauer ein gefunden, die dem Kaiscrpaare enthusiastische Ovationen bereiteten. In dem Gedränge wurde» einige Marmorvasen zerbrochen. — Die Majestäten sprachen sich über die großen Wasserkünste sehr entzückt aus. Die hohen Herrschaften hatten, bevor sie sich in den Park begaben, auch die Capelle besucht. Als es ansing zu dunkeln, wurden das Schloß, die öffentlichen Gebäude der Stadt und die Privathäuser glänzend erleuchtet; in den drei großen Avenuen, welche am Schloß münden, waren die Bäume mit Girandolen und venctianischen Laternen bedeckt. In den Straßen der Stadt hatte sich eine ungeheuere Menschenmenge ein gefunden, die jedes Vorwärtsbewegen unmöglich machte, auf den Plätzen wurde musicirt und gesungen. — Während des Besuches im Schlosse wurde den Majestäten eine goldene Gedenktafel des „Institut" überreicht; die Vorderseite der Tafel zeigt das Bild eines auf Wolken schwebenden Genius, während auf der Rückseite das Palais des „Institut", aus welchem die vereinigte russische und französische Flagge weht, abgebildet ist. * Versailles, 8. October. Um 7'/, Uhr Abend- fand da- vom Präsidenten der Republik zu Ehren der russischen Majestäten gegebene Diner statt. Die prächtig geschmückte Tafel war in der Galerie des Batailles gedeckt. An dem Diner nahmen ungefähr 100 Personen Theil, die alle an derselben Tafel saßen. Der Kaiser und der Präsident Faure saßen sich gegenüber; zur Rechten des Kaiser- saß Madame Faure, während die Kaiserin ihren Platz zur Rechten des Präsi- deuten Faure hatte. Unter den Eingeladenen befanden sich die Minister, die Präsidenten der beiden Kammern, Loubet und Brisson, der russische Botschafter Baron Mohrenheim, der russische Botschafts rath von Giers, der russische Militairaltachö General Baron Frede- ricks, der französische Botschafter in Petersburg Gras Montebello, der Leiter de- russischen Ministeriums des Aeußern Schischkin, General Boisdcssre, Admiral Gervais, Hauptmann Carnot u. A. Die Tafel, musik wurde von der Capelle des Geniecorps ausgeführt. Al» der Wagenzug heute am Schlosse ankam, gingen die beiden Pferde des Wagens de- Finanzmintsters durch und warfen ungefähr 20 Personen um. 6 Personen wurden verletzt, darunter 3 ziemlich schwer. * Versailles, 8. Oktober. Da- Concert zu Ehren der rus sischen Majestäten begann um 10 Uhr. Beim Eintritt in den Saal führte der Kaiser Madame Faure, Präsident Faure hatte der Kaiserin den Arm gereicht. Unter den Künstlern befanden sich Sarah Bernhardt, Delaunay, Coquelin, der Sänger Telmas, die Sängerin Telma. Die Tänzerinnen der Oper führten alle Tänze auf. — Um 11'/« Uhr begaben die Majestäten unter begeisterten Ovationen der Menge sich durch die prächtig erleuchteten Straßen zum Bahnhofe. Die Abreise der Majestäten erfolgte um 11 Uhr 35 Min., die des Präsidenten Faure um 11 Uhr 45 Min. * Paris, 8. October. Während der gestrigen Vorstellung in der ComSdie Franyaise schien der Zar sich wenig für die Vor stellung zu interessiren; er blickte schweigend in den Saal hinein, der ein ebenso- glänzendes Aussehen zeigte wie Tags zuvor die Oper. Während des Frühstücks in der russischen Botschaft äußerte der Zar zu der neben ihm sitzenden Prinzessin Mathilde Bona parte, der Pariser Empfang werde ihm unvergeßlich bleiben. Die Gerüchte, das Zarenpaar werde nach der Truppenschau in Chalons noch Sonnabend hier verweilen, wollen nicht verstummen, doch fehlt es an jeder Bestätigung. — Um die langweilig gewordene Berichterstattung über jeden Schritt des Zaren interessant zu gc- stallen, erzählen die Pariser Zeitungen allerlei rührende, aber erlogene Geschichten. So soll der Zar gestern Abend anläßlich der Fahrt über die Place de la Concorde das Straßburgdenkmal gegrüßt und dadurch den Schmerz Frankreichs über den Verlust Elsaß-Lothringens getheilt haben. Damit verhält es sich folgender, maßen: Der Zar befand sich mit Faure im Galawagen; als Letzterer das Strahburgdrnkmal passirte, zog Faure, der keine Demonstration versäumt, den Hut. Der Zar glaubte, Faure danke der Menge für ihre Zurufe und grüßte gleichfalls. In ähnlicher Weise wird die unbedeutendste Handlung des Zaren in deutschfeindlichem, Sinne gedeutet. (Magdeb. Ztg.) * Paris, 8. October. Ter „Matin" macht die geheimnißvolle Mittheilung, daß die Explosion am Concordienplatz doch Nicht so harmlos gewesen sei, wie rnan gestern behauptet hatte, viel mehr sei ein gewisser Leroy dabei am Auge verwundet worden. Gestern, so fügt der „Matin" hinzu, habe er sich über die An- gelegenheit nicht weiter verbreiten wollen, um den Dreibund blättern keinen Stoff für großstilige Commeutar« zn liefern. Das Blatt „Eclair" hat ein förmliches Verhör mit den Augen zeugen des Zwischenfalls vorgenommen. Einer dieser Zeugen sagt: Die Explosion habe in der Nähe des Standbildes der Stadt Lyon stattgefunden. Ein großer Feuerwerkskörper, eine Petarde, platzte; zugleich fiel eine der großen Girandolen zu Boden und brach in tausend Stücke. Bedenklicher klingt die Aussage eines andern Zeugen, er erklärte: Als ich den Knall hörte, lief ich mit mehreren anderen Personen zu der Stelle, wo die Explosion statt gefunden, und wir fanden auf dem Asphalt einige Nägel. Einer meiner Nachbarn fand fogar ein kleines Stück Metall, bedeckt von einer Röhre. Am Boden bemerkten wir einen weißen Streifen. Di« Polizei hat eine strenge Untersuchung eingeleitet, die sich be- sonders auf die Aussage eines Zeugen stützt, der wenige Augen blicke vor der Explosion einen Mann in der Nähe der Statue mit einem Korb am Arme gesehen haben will. Der Polizeipräfect war in der russischen Botschaft, als die Explosion stattfand, und wurde sofort davon verständigt. Wir Deutsche haben bei der Geschichte noch das Glück gehabt, daß sie sich am Standbilde der Stadt Lyon und nicht an dem der Straßburg ereignet hat. Hätte der Zufall es gewollt, so wärcn wir selbstverständlich die Schuldigen und neiderfüllte» Fenilleton. Die Schuld des Fürsten Uomanskoi. 10f Roman von Conr. Fischer-Sallstein. Nachdruck verbot«». Ein schmerzliches Lächeln zuckt um seinen Mund, als Sofia Andrejewna ihre Pflichten der Barmherzigkeit zu üben beginnt, ihn sanft und zur Vorsicht mahnend zurückdrängt, dann rasch aus dem Wagen steigt, damit er draußen ein Paar Arme findet, die ihn stützen nnd halten, falls er auf dem Wagentritt strauchelt, oder die Stelzen ihm den Dienst versagen. Und gerade jetzt, als er hinaussteigt, denkt er an die Stroganowna, was wird sie saßen, wenn sie, die ibn einst auf dem feurigen Kolzik davonreiten sah, so wieder sieht? In diesem Augenblick kam eine GemüthSftimmung über ihn, in der er am liebsten Kehrt gemacht nnd nach Slekok zurückgegangen wäre. Aus den Arm Sonjas gestützt, ver läßt er den Wagen. Hinter ihm folgt Nahim, der sich eben falls bei dem Herrn im Coups befand, nach, und ist wie ein Maulthier mit Kissen und Pelz bepackt. Im Bahnhofe entdeckt Nahim den Wagen des Hotel Bristol und mit diesem fahren alsbald der Fürst und die Seinen in das bezeichnete gastliche Haus. Im Hotel angekommen, kann sich Stepan Wassilitsch nicht entschließen, den Hotelier und seinen Oberkellner, die ibn in die Beletage begleiten, nach Ilija Andrej MatscherSkoff zu fragen. Vielleicht kam ibm das wie eine Schwäche der Sofia Andrejewna gegenüber vor. Er wollte ihr nicht verrathen, daß sich gerade jetzt all sein Sinnen und Deukeu um die Person seines Neffen drehen. Ilija muß sich im Hotel be finden und hat sich unaufgefordert bei ihm einzufinden! Die vier schönsten Zimmer in der Beletage dcS Hotels nebst einem Burschenßelaß für Nahim hatte der Fürst belegt. Er theilte diese Gemacher mit der fürsorglichen Sonja und sprach ihr sogar das Balconzimmer zu, weil er ihr eine Freude machen wollte. Im Balconzimmer wurde daS Diner aufgetragen und dori> speiste Stepan Wassilitsch mit der Petuschkiwna. Auch jetzt spricht der Fürst nicht von seinem Neffen, nur dann und wann schweifen seine kleinen schwarzen Augen nach der mit Goldleisten auSgelegten Flügelthür, die hinaus aus den Corridor führt. Aber der Herr Neffe stellt sich nicht ein. Stepan Wassilitsch wird unruhig und mürrisch. Mit einem wahren Eigensinn beharrt er darauf, der Sofia Andrejewna gegenüber den Namen seines Neffen nicht über die Lippen zu bringen. Da trat der Oberkellner, ein Deutscher, der vier Welt sprachen mächtig war, inS Zimmer, um Befehle entgegen zu nehmen. „Sagen Sie mal", herrschte ihn der Fürst beinah rauh an, „wer ist im Hotel abgestiegen?" „Die Fürstin Nieraskaja, Se. Durchlaucht der Fürst NieraSka, Peter Paul, Graf Miraweff nebst hoher Ge mahlin aus Moskau, die Frau Gräfin Gagerin, die berühmte Künstlerin Zewinskewna aus Moskau, Lord Spencer ". „Ist nicht Graf MatscherSkoff im Hause", platzte jetzt ungeduldig der Fürst heraus. Der Oberkellner kam in die stürmischste Verlegenheit, was die Petuschkiwna sowohl als auch den Fürsten in Verwunde rung versetzte. Durchlaucht haben von dem Vorgang gehört, der unS sehr peinlich war. Aber jede- andere Hotel ist solchen Schwierigkeiten ausgesetzt. Wir haben Alles gethan, was in unseren Kräften stand, um die Sache zu vertuschen, weil wir befürchten mußten, daß der Ruf unseres Hauses leiden könnte. Vielleicht gestattet mir Seine Durchlaucht, den Vorgang zu erzählen, und zwar nur zu dem Zweck, um den Beweis zu führen, daß uns keinerlei Verschulden trifft und daß heute oder morgen einem anderen Hotel dasselbe passiren kann. Wenn Durchlaucht Bedenken tragen, im Hotel wegen dieses, unS selbst so unangenehmen Ereignisse- wohnen zu bleiben, dann wird cS mir sicherlich gelingen, diese Bedenken durch klare Darlegung der Sachlage zu zerstreuen." Verblüfft starrte der Fürst die Petuschkiwna an und wurde dunkelroth im Gesichte. Heiliger Gott, was ging hier vor? Sprach oder spielte der Mann auf Ilija Andrej MatschcrSkow an? „Die Sache kam so'^fuhr der Oberkellner fort und trat dem Fürsten um einen Schritt näher, „ein junger Herr und eine Dame steigen am frühen Morgen im Hotel ab. „Eine Dame?" entfuhr eS dem Fürsten. „Gut, fahren Sie fort!" „Eine Südländerin, sehr jung und von großer Schönheit. Ich habe indessen kein Unheil, sondern wollte damit nur sagen, daß daS junge Paar fehr vertrauenerweckend auSsah. Sie belegten zwei bescheidene Zimmer in der dritten Etage und ließen sich von mir als Graf und Gräfin Matscherskoff ins Fremdenbuch eintragen. Er buchstabirte mir seinen Namen, ich notirte. DaS kommt öfter vor." Der Fürst hielt es auf seinem Sessel nicht länger auS, er erhob sich, warf die Serviette auf den Tisch und sagte, wobei er zur Petuschkiwna hinübersah: „Eine Südländerin?" „Die Frau Fürstin Nieraskaja behauptet, die junge Frau sei aus Siam oder Japan, ich behaupte aber, daß das nur Vermuthungen sind, denn es hat ja Niemand im Hause mit ihr sprechen können, sie versteht kein Wort Russisch. Sie tranken nun Thee auf ihren Zimmern und die junge Frau Gräfin, durch die Reise offenbar sehr angestrengt, begab sich zur Ruhe." „Kam das Gepäck des Grafen im Hotel an?" „Gepäck kam nicht. Wir nahmen darum an, daß sich der Graf mit seiner Gemahlin auf der Durchreise befinde." - In den Augen des Fürsten zeigten sich wieder Flammen. Schwer legte er die Faust auf den Tisch, neben dem er stand. „Also kein Gepäck, keine Sammlung von seltenen Dingen aus fremden Ländern?" Der Oberkellner horchte erstaunt aus, senkte aber den Kopf noch tiefer und fuhr fort: „Kein Gepäck, Durchlaucht, was unS auch sehr angenehm war. Gegen die zweite Mittags stunde erwacht die Frau Gräfin und vermißt ihren Gemahl Und jetzt beginnen jene Auftritte, von denen Durchlaucht offenbar gehört haben?" „Fahren Sie fort!" „Die junge Gräfin stürzte auS ihren Gemächern und jammerte um ihren Gemahl, aber in einer Sprache, die Niemand im Hotel verstand. Man konnte nur vermuthen, was sie wünschte. Mit aufgelöstem Haar stürmt« sie die Trepp« hinab. Ich sah niemals ein solche« blauschwarzes Haar, daS sie wie ein Mantel bedeckt«. Und dazu hatte sie Augen — doch entschuldigen Sir, Durchlaucht, ich habe in diesen Dingen kein Urtheil und eS kommt mir die« auck nicht zu. Ein wahres Glück war es, daß sich die Gräfin Nieraskaja der Unglücklichen annahm, die sich thatsächlich zweimal auS dem Fenster stürzen wollte. Wir waren All« in drr pein lichsten Verlegenheit, denn wa« fangen wir an, wenn der Gras, wie zu befürchten stand, nicht mehr zurückkehrt?" „Und er kehrte nicht zurück?" „Nein, Durchlaucht, die ganze Nacht nicht, auch am folgen den Tage nicht. Nach der ersten Aufregung wurde die schöne Gräfin ruhiger, mit untergeschlagenen Beinen setzte sie sich in eine Sophaecke und war nicht zu bewegen, auch nur einen Tropfen Thee zu genießen. Sie weinte nur still vor sich hin, undckab bald aus, als ob sie erkranken wollte." Nicht an Das, was der Kestner da erzählte, dachte Stepan Wassilitsch, sondern er beschäftigte sich jetzt mit der indischen Novelle seine« Neffen, zu der dieser nicht den Schluß finden konnte. „Ich will die Person sehen", erklärte drr Fürst und schritt sofort nach der Thür. „Das ist unmöglich, Durchlaucht, die Gräfin ist seit gestern Abend aus unbegreifliche Weise aus dem Hotel verschwunden Der Portier weiß über dieses Räthsel keine Aufschlüsse zu geben. Niemand im Hotel sah die Gräfin gehen. Die Frau Fürstin Nieraskaja hatte indesfen die Güt«, die Sache so auf zuklären, daß wir in die Lage gebracht wurden, unS über die ganze Angelegenheit hinwegzusetzen." „Die Fürstin also klärte Alles auf?" keuchte Stepan Wassilitsch. „Jawohl, Durchlaucht. Bor zwei Tagen, also am Abend, nachdem der Gras von der Seite seiner Gemahlin ver schwunden war, besuchte die Frau Fürstin ein Concert bei Madame Gramont. Dort traf sie den Grafen Matscherskoff in Gesellschaft einer vornehmen Dame" „Das ist ganz unmöglich!" rief der Fürst au«. „Oh, doch, Durchlaucht, «in Irrthum ist vollständig schon darum ausgeschlossen, weil auch General Storff, der ein guter Freund deS alten, längst verstorbenen Matscherskoff war, in dem jungen Herrn sofort einen Matscherskoff er kannte. Di« Frau Fürstin ließ nun den jungen Herrn Grasen auffordern, zu seiner Frau in« Hotel zurückzugehen. Als einige Zeit später auch einig« Herren diesen aufsucken wollten, um ihm ernste Vorhaltungen zu machen, war er auf eine ganz geheimnißvoll« Art aus dem Palais der Madame Gramont verschwunden. Und gerade so verschwand nachher die unglückliche jung« Gräfin au« dem Hotel." „Wenn da- richtig ist", versetzte jetzt Stevan Wassilitsch und beugte sich zur Petuschkiwna über den Tifck, „dann geht un« die ganze Geschichte gar nickt« an." Sich dann dem Oberkellner wieder zuwendend, fügte «r mit freier klingender Stimme hinzu: „Und Sie haben von dem Paare nicht mehr gehört?" „Oh doch, versetzte der Angeredete, und «In seltsames Lächeln glitt über sein glatt rasirteS Gesicht, „im Hause deS Herrn StaatSrath Orkieneff am kleinen Boulevard wohnt der Student Michael Ia«morin, und man nimmt an, daß