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Anzeigenpreis die -gespaltene Petitzeile 20 Pf-, Neckamen unter dem RedactionSstrich (4 g» spalten) 50-^, vor den Familiennachricht«» (6 gespalten) 40-C- Größer« Schriften laut uuserem Preis- verzetchniß. Labellartscher und ZifsrrusaD nach höher« Laris. Extra»veilagen (gefall), nnr mit dq Morgen-AuSgabe, ohne Postbesördernntt SO.—, mit Postbeförderung 70.—» AnnahMschluß fiir Iityeige«: Abend-Ausgab«: vormittag» 10 Uhr. vtorge n-Ausgabe: Nachmittag» 4 UhL Bet den Filialen und Annahmestellen je «kn» halb« Stund« früher. Unzeiten find stet« an die Expehitt»» zu richten. Druck »nd Verlag von E. Pol» in Leipjich 82. Jahrgang. Politische Tagesschau. * Leipzig, 4. Januar. Gestern hat die christlich-sociale Partei ein Fest der Erinnerung an den 3. Zanuar 1878 gefeiert, an dem Herr Stöcker durch „die Eiskeller-Versammlung" seine „christliche Arbeiterbewegung" einleitete. Die Stimmung bei diesem Jubiläum wird aber wohl eine gedrückte gewesen sein, denn das Organ der Partei, „DaS Volk", hat in diesen Tagen selbst zugestanden, daß der jetzige Zustand der christlich-socialen Partei trostlos sei. Und gedrückt klingt auch der Gruß — wenn man so sagen darf—, den die „Kreuzzeitung" dem ebemaligen Parteigenossen am 20. Geburtstage seiner Schöpfung widmet. DaS conservative Blatt spricht von den widrigen ScbicksalSwendungen und den schmerzlichen Enttäuschungen, welche die Christlich-Socialen hätten erfahren müssen, will sich aber des „innersten Kernes des Erstrebten" mit unverbrüch licher Dankbarkeit erinnern, „obwohl wir Stöcker im äußeren Sinne nicht mehr zu den Unseren zählen dürfen, und sich gerade in allerjüngster Zeit Manches begeben hat, waS störend wirkt". Die „Kreuzztg." bemerkt dann weiter: „Die Trennung der Christlich-Socialen von den Conser- vativen ist, aus Gründen mehr subjectiver als sachlicher Art, vor nun bald zwei Jahre» erfolgt und wird als eine unab änderliche Thals ache hingenomnien werden müssen. Das brauchte aber, eben weil die Gründe der Trennung wesentlich auf deni Gebiete des Subjectiven liegen, an sich zu keiner dauernden Entfremdung zu führen, sondern ließe eine freundliche Wiederannäherung und der Hauptsache nach auch ein Aiederzusammenarbeiten zu. Voraussetzung wäre dabei allerdings, daß sich die Presse unnöthiger Angriffe enthielte und Zu sammenstöße bei den Wahlen möglichst vermieden würden." Welcher Art die „Schicksalsschläge" und Enttäuschungen waren, die Herr Stöcker und seine Partei erleben mußten, und was diese Schläge herbeiführte, untersucht die „Post" und kommt zu folgendem Resultate: „Die Ursache dieses wenig erfreulichen Verlaufes liegt in der Person Herrn Stöcker's, welcher der ganzen christlich-socialen Bewegung seinen Stempel ausdrückte. Er ist ein Mann von unzweifel haftem Mutde und hat im geistlichen Amte, insbesondere In der seel- sorgerischen Thäligkeit,sich viele Verdienste erworben. Er ist überdies ein Redner ersten Ranges und zwar sowohl auf der Kanzel als in der Volks- Versammlung, und beherrscht nicht nur das für die oratorische Wirkung in solchen Versammlungen unerläßliche Schlagwort meister lich, sondern versiebt es auch, zum Herzen dringende patriotische Töne anzuschlagen. Er ist auch ein Maun von großer taktischer Geschicklichkeit und hat namentlich das große Ansehen, dessen er sich in kirchlichen Kreisen erfreute, mit großer Gewandtheit und großem Erfolge für seine politischen und persönlichen Zwecke zu ver- wcrthen gewußt. Diese guten, zum Theil glänzenden äußeren Eigenschaften blendeten lange Zeit die minder tief Blickenden derart, daß man in ihm wirklich einen großen Mann sah und sich selbst zu der Bezeichnung eines „zweiten Luther" ver flieg. Man übersah dabei gänzlich, daß Herr Stöcker völlig un fähig war, seinen socialen Bestrebungen einen über die all gemeine Phrase hinausgehenden positiven Inhalt zu geben, und daß er, theils, um diesen Mangel an positivem Kern zu verdecken, theils von seiner persönlichen Leidenschaft ge- trieben, in immer demagogischere Bahnen gerieth. Vor Allem aber übersah man, daß Herrn Stöcker's Charakter mit Len schweren Hypotheken persönlicher Eitelkeit und Herrsch- sucht bis über Len Werth belastet ist, und daß er, um Liesen seinen Leidenschaften zu stöhnen, in der Wahl derMittel wenig skrupulös ist. Seine Person gebt ibm meist über die Sache, und die Letztere hat für ihn nur vollen Werth, wenn Labei zugleich seine persönlichen Bestrebungen zu ihrem Rechte gelangen. Diese persönlichen Eigenschaften traten besonLers charakteristisch her- vor, alS im Jahre 1887 bei Len Eeptennatswahlen die Cartellparteien in Berlin ohne seine Führung den Wablkampf in einer äußerlich und nach dem Gehalt ungleich besseren Weise führten, als dies bisher jemais der Fall gewesen war. Ob es richtig ist, daß, wie damals vielfach erzäblt wurde, seine näheren Anhänger im 1. Berliner Wahlkreise lieber durch Stimmenthaltung bei der Stichwahl dem freisinnigen Candidaten zum Siege verhalfen, als für deu Cartell-Candidaten gestimmt haben, mag dahin gestellt bleiben; jedenfalls hat er von da ab seine ganze Kraft und seinen ganzen Haß gegen die bösen Cartellparteien gewandt und nicht eher geruht, als bis alle geniäßigt conservativen und liberalen Elemente aus dem politischen Kampfe in Berlin heraus gedrängt waren. Der Erfolg war freilich der, daß, nachdem Herr Stöcker allein das Feld beherrschte, die conservative Bewegung nicht nur nicht zu neuem kräftigeren Leben erweckt wurde, sondern jetzt mehr «nd mehr zurückgegangen ist. Später traten diese Eigenschaften noch einmal sehr charakteristisch in der Art hervor, wie Herr Stöcker den Fürsten BiSmarck zu bekämpfen versuchte. Ter „Scheiterhaufen-Brief" wird in dieser Hinsicht immer ein für Herrn Stöcker und seinen Charakter bezeichnendes Dokument bleiben." Im Wesentlichen wird man dieser Ausführung beipflichten können; man wird aber auch hinzufügen müssen, daß eS ver- hängnißvoll für einen Mann von der Herrschsucht und der Skrupellosigkeit des Herrn Stöcker werden mußte, in dem ebemaligen Chefredacteur der„Kreuzztg", Herrn v. Hammer stein, einen einflußreichen Genossen ähnlicher Art zu finden, der alle die Schwächen, Treibereien und Jntriguen des Herrn Hofpredigers nicht nur verdeckte, sondern ihnen auch ein kon servatives Mäntelchen so lange umhängte, bis ihm der eigene Mantel vom Leibe fiel. Statt von der conservativen Partei, deren einflußreiches Mitglied er war, kräftig vermahnt und zum Rechten verwiesen zu werden, durfte Herr Stöcker unter conservativer Flagge seine demagogischen Bahnen zum größten Nachtheile der conservativen Partei sowohl, wie ihres christlich - socialen Anhängsels jahrelang ver folgen, bis er zahlreiche besonnene conservative Elemente hier wie dort abgesprengt und aus einen Theil der Uebrigen den unheilvollsten Einfluß auSgeübt hatte. Und sehnt sich jetzt die „Kreuzztg." nach Herrn Stöcker zurück, oder giebt sie wenigstens oem Wunsche nach einer „freundlichen Wieder annäherung" und einem „Zusammenarbeiten" mit ihm Ausdruck, so beweist sie, daß sie nichts gelernt, nichts vergessen und von dem Geiste Hammerstein nicht viel aufgegeben hat. Dieser Geist, der lieber die verwandte Herrschsucht eines Stöcker oder der Berliner Führer des Bundes der Landwirthe duldet, als mit den verhaßten Cartellparteien auf dem Boden der Gleich berechtigung sich zusammensindet, tritt auch in den oben citirten Sätzen zu Tage. Herr Stöcker wird die freundlich entgegengestreckte Hand sicherlich nicht annehmen; er war mit Hilfe der „Kreuzztg." zu groß in der conservativen Partei geworden, als daß er letzt ihren „Mitarbeiter" spielen möchte. Aus seiner Antwort würde die „Kreuzztg.", wenn sie wollte, entnehmen können, wie demagogisch veranlagte Parteigänger sich auswachsen, wenn man sie am Busen nährt; aber sie wird nicht wollen, weil sie sonst ihre eigene Schuld eingestehen müßte. Die in dem badischen Landtagswahlkreise Lörrach- Land wider Erhoffen für den nationalliberalen Candi daten Dreher günstig ausgefallene Wahl Hal in ultra montanen und demokratischen Kreisen auch außerhalb des „LändleS" grimmen Zorn erregt. Bekanntlich waren nach der Ungiltigkeitserklärung des in der Hauptwahl ge wählten Dreher bei der Nachwahl nur 57 nationalliberale und 67 freisinnig-ultramontane Wahlmänner gewählt worden. Diese aber wählten mit 63 gegen 61 Stimmen nicht den freisinnig-ultramontanen Candidaten Hagist, sondern Herrn Dreher. 6 der Herren waren also in der kurzen Zeit zwischen den Wahlmännerwahlen und der Abgeordnetenwahl anderen Sinnes geworden. Die „Franks. Ztg." bezeichnet diesen „Umfall" als „unmoralisch" und als eine „Fälschung de r Volksstimmung". Man hat aber noch nicht gebürt, daß die Urwähler der 6 „Umgefallenen" sich diese Auffassung angeeignet und die Herren einer „Fälschung" geziehen hätten. Man muß also annehmen, daß die betreffenden Wahlmänner im Sinne wenigstens deS überwiegenden Theiles ibrer Urwähler gehandelt haben. Und das wäre begreiflich genug. Jeden falls ist die Bonndorfer Briefgeschichte in Verbindung mit dem WahlauSfalle zu bringen. Es ist durch die Auf deckung des häßlichen ultramontanen Spionagesystems gegen über nichtultramontanen Katholiken doch Manchem ein Licht aufgegangen, wohin man treiben würde, wenn der Wacker'sche Geist in Baden noch mehr Einfluß gewänne, als er bisher schon besitzt. Nicht zur Freiheit, sondern zum krassesten Gewissenszwang« würde die Vermehrung der Wacker'sche« Macht in Baden führen und eine solche Vermehrung wäre die Wahl des von den Ultramontanen protegirten freisinnigen Hagist gewesen. Dann hat sicherlich auch die Behandlung der Lörracher Wahlanfechtung im badischen Landtag ihre Wirkung auSgeübt. Und endlich liegt noch der Gedanke sehr nahe, daß der nationale Aufschwung, der in den letzten Wochen durch die deutschen Gemüther zieht, nickt ganz ohne Einfluß auf den Abfall der früher freisinnig-ultramontan gestimmten sechs Wahlmänner gewesen sei. Somit kann der Lörracher Wahlausfall als eine gute Vorbedeutung für die bevorstehenden ReichstagSwablen gelten, bei denen eS den ultramontan-demokratischen Ver- hetzungS- und Becsührungskünsten hoffentlich nicht gelingt, den gesunden nationalen und liberalen Sinn der Mehrheit der badischen Wähler zu fälschen. Der „Manchester Guardian" tbeilt in einem ausführlichen Artikel mit, England habe China und die Mächte be nachrichtigt, daß es keine speciellen Rechte an erkennen werde, die China in irgend einem chinesischen Hafen irgend einer Macht einräumen werde. Wenn Rußland daS Recht erhielte, Schiffe in Port Arthur überwintern zu lassen, würde England dies Recht auch verlangen. Darum seien die englischen Schiffe „Jmmortalite" und „Jphigenia" bei Port Arthur eingelaufen. Wenn Deutschland das Recht erhielte Kiao- tschau ais Flottenstation zu benützen, müßte dies auch zu- gleichEngland gewährt werden. Sobald CbinaDeutsch- land bezüglich KiaotschauS Concessionen mache, würden auch dort englische Schiffe einlaufen. Bezüglich aller sonstigen Concessionen verlange England ebenfalls daS Recht der meistbegünstigten Nation und werde dies eventuell mit Gewalt durchsetzen. Im Falle China Land ablrete, würde England eine Compensatio« verlangen. Der „Manchester Guardian" ist zuweilen gut informirt, weshalb wir dresen Artikel der Beachtung wertb halten; jedenfalls giebt er die Stimmung weitester Kreise Englands wieder, die ein entschiedenes Vorgeben der britischen Regierung in Ostasien erwarten. Dem scheint Lord Salisbury auch entgegenkommen zu wollen, denn von einer passiven Haltung Englands kann nicht wohl mehr die Rede sein. Zunächst steht fest, daß seit einigen Tagen sieben englische Kriegsschiffe auf der Rhede von Chemulpo liegen, um denen, die e» angeht, zu ver künden, daß England bei der Gestaltung der Dinge in Korea ein ernstes Wort mitzusprechen wünscht und nicht gewillt ist, anzuerkennen, daß die koreanische Halbinsel ganz außerhalb der englischen Interessensphäre liege. In den letzten Tagen aber ist England auch nach China hin handelnd ausgetreten. ES ist jetzt von amtlicher englischer Seite bekannt gegeben worden, daß zwei englische Kriegsschiffe in den Hafen vcn Port Arthur eingelaufen sind und sich dort nehen das russische Geschwader gelegt haben. DaS ist um so unzwei deutiger gehandelt, als der Hafen von Port Arthur kein inter nationaler Vertragshafen, sondern ein chinesischer KriegShasen ist und alS bisher allseitig angenommen wurde, daß die an Sibirien stoßende chinesische Mandschurei mit der Halbinsel Liaotung schließlich in die russische Interessensphäre hinein gleiten werde. England zeigt jetzt durch die Entsendung von Kriegsschiffen nach Port Arthur, daß eS dort die endgiltige Festsetzung Rußlands nicht eher zulassen will, bis eS selbst sieb irgendwelche Gegenleistungen auf chinesischem Gebiet: errungen haben wird. Es geht hieraus hervor, daß die inter nationale Diplomatie in der nächsten Zeit schwierige Aus gaben zu lösen haben wird. Glücklicherweise ist die allgemein: politische Lage und die Vertbeilung der Interessengruppen unter den europäischen Großmächten eine solche, daß man mil Zuversicht auf eine friedliche, wenn auch vielleicht nicht schleunig: Hebung aller jetzt vorliegenden Schwierigkeiten rechnen kann Bor allen Dingen glauben wir nicht daran, daß England die ostasiatische Frage inter nrma stellen wird. Wir möchten hier einem Artikel des „Amsterdamer Handelsblatt" Raum geben, der zwar in erster Linie der englischen Presse di: Schmähungen des deutschen Kaisers verweist, dann aber Eng land zu verstehen giebt, daß eS im Hinblick auf seine eigene Schwache besser thun würde, rücksichtsvoller und weniger provokant aufzutreten. In dem von dem Chefredacteur CH. Boissevaie gezeichneten Artikel heißt eS: Wer wissen will, wie man sich früher gegenseitig mit Schimpf wörtern bewarf, der lese theologische Streitschriften aus dem 17. Jahr- hundert; wer aber erfahren will, waS die englische Sprache heut- zutage leisten kann, der lese einmal, was englische Jonrnalisten schreiben, sobald sie über den deutschen Kaiser nud das deutsche Volk sprechen. Die schändlichsten Beleidigungen des Enkels ihrer Königin werden nur so niedergeschrieben, als ob jdie Zeitungc- schreiber nicht den geringsten Begriff von ihrer Verantwortlichkeit hätten. Die Worte deS Kaisers werden aus dem Zusammenhang gerissen, einem drastischen Ausdruck oder einem kühnen Bilde wird die blödsinnigste Bedeutung untergeschoben. Die beschimpfenden Bei namen, die selbst ein Wochenblatt wie die „Saturday Review" dem Kaiser giebt, sind eine Schande für dieses Blatt. Man kann sich keine niederträchtigere Art und Weise des PolemisirenS denken al? die, einen Souverain, der keine Antwort geben kann, mit gemeinen Schimpfwörtern zu beleidigen. So geht es nun Tag für Tag, Woche für Woche, obwohl die Presse recht gut weiß, daß der Kaiser nur das thut, was er nach seiner tiefsten Ueber- zeugung zurStärkung und Bertheidigung des deutschen Reiches für nöthig hält, und was sie, wenn er ein englischer Fürst wäre, höchlich an ihm preisen würde. Ist denn dieses Gebahren der englischen Presse klug und patriotisch? Wahrlich, England kann seine Freunde in der Welt zählen, es hat kein Heer für einen europäischen Krieg, «S braucht 70 000 Mann für einen Krieg mit den Afridis an der Nordgrenze von Indien, es hat von den Italienern Kossala übernommen, wo- FeiriHrton. Äampf und Entsagen. Ls Roman von M. von Eichen. Nachdruck verbotkn. Man lebte jetzt auf sehr anständigem Fuße und machte ein nettes, gastfreies Haus. Die Hauptmännin wurde natürlich nicht wieder jung; aber sie sah doch so gut aus, wie eine ältere Dame nur aussehen kann. Sie hatte sich sehr bald mit ihren frühesten Gewohnheiten, den Gewohnheiten ihrer Mädchenjahre, nicht nur wieder befreundet — sie schien auch mit Wonne Alles nachzuholen, was sie so lange entbehrt hatte — sehr schmerzlich, wie sie jetzt meinte. Auch Wolf hatte mehr und mehr die Annehmlichkeiten eines Daseins mit gefülltem Portemonnaie kennen und schätzen gelernt. Er fühlte sich mit seinem wohl durch did Kämpfe und Erfah rungen des Lebens gewonnenen Gleichmuth und Humor sehr wohl, ja, wunschlos glücklich unter dem fürsorglichen Regiment seiner Mutter, welche dann wieder neben ihrem Wolf nur eine Leidenschaft kannte: den Leuten gefällig zu sein. Aber zuerst kam doch ihr Wolf, als der Einzige und Beste auf der Welt! „Ja, ja, er hat Recht", murmelte die kleine Frau auch eben, rückte an dem eleganten Häubchen über dem blonden Scheitel, der sich silbern färben will, „er ist viel zu gut für Alle! Und er hat es ja auch wahrhaftig am besten bei mir!" II. Früh hatte sich der Winter eingestellt. Kaum, daß der No vember einen Guck in die Welt gethan, pfiff auch der Wind schon mit seinem schneidigsten Athem aus Osten her. Dann begann es zu schneien; dichter, größer, schneller fielen die Flocken, und nun hüllt schon tiefer Schnee die Erde ein. Pustend und keuchend fliegt der Zug durch die Ebene hin, deren endloses Weiß nur zuweilen durch den blaugrauen Schimmer der Wasser oder ein ärmliches Gehölz auf struppigen Höhen unterbrochen wird. Die Schatten des sinkenden Tages spielen um die dünnen, dunkeln Stämme und längen sich in die Landschaft hinein. Heller glimmen die Funken in dem Schweif von Dampf und Rauch, der, sich dem Schornstein der Locomotive entwindend, den Zug einhüllt, zu wundersamen Fi guren sich zusamenballt, ehe er sich auflöst, langsam unter dem schweren, blrifarbenen Himmel. Dann bleibt kein« Spur mehr von dem, was eben noch so voll Wucht und Hast, voll Lärmen und Toben die Stille unterbrochen hat. In einem Wagen erster Clafle sitzt Lilian von Dernburg am Fenster und halt ein Buch auf den Knien. Lilian ist groß, sehr schlank. Der an seinem Ausschnitt um ein paar Knöpfe geöffnete Mantel von rothem Sammet läßt, ein wenig herabsallend, die feine Schulter, die feine, blü- thenwciße Kehle, die seidcnschimmernde Nackeulinie frei. Blau schwarzes Haar quillt in dichtem Gelock rings unter dem in excentrischen Bogen auslaufenden Hute, darauf sich zu seltsamem Capriccio einige gelb mit roth gesprenkelte Federn thürmen. Die Stirn der jungen Dame ist hoch und breit, die Nase ein wenig lang. Die Lippen sind weich, voll, doch von sehr edlem Schnitt. Sie scheinen sich gern in den Ecken zu senken, was ihnen einen stolzen, je nachdem auch hochmüthig abweisenden Zug verleiht. Die Wangen sind schmal, flach, fest in ihrer Form wie das Oval an einem Marmorköpfchen, ihre Farbe ist von jener durch sichtig klaren Blässe, welche ebenso für eine ungemeine Sensibilität der Nerven, als auch für eine trotz dieser nicht leicht zu er schütternden Energie des Körpers und der Seele zeugt. Große, mandelförmige Augen mit dunkelleuchtender Iris unter schwarzen Brauen, der köstliche Purpur des Mundes erhöhen den Reiz dieses blassen Gesichtes, das viel mehr eigenartig ist als schön. Einen ziemlichen Gegensatz zu der älteren Schwester bildet Josefine, nach ihren ersten Sprachversuchen und späterer Laune immer noch Fiffi genannt. Anmuthig, behende, zuweilen ein wenig wild in ihren Bewegungen mit dem zierlichen Köpfchen und seinem kurz verschnittenen Haar, den glänzenden runden Augen, dem lachenden Mund und seinen blitzenden Mause zähnchen macht Fiffi viel eher den Eindruck von einem Kinde noch oder einem Puck, als den einer jungen Dame, die nach endlich abgeschlossener „höherer Bildung" ihrer ersten Saison entgegen steuert. „Wie das lange dauert?! Ich begreife nicht, Lilian, wie Du es aushältst", beginnt die Kleine eben, indem sie zum Gott weiß wie vielten Male die Füßchen aus der Tigerdecke schält, die sie in verzweifelnder Langeweile zum ebenso vielten Male darum geschlungen hat und sich zur Abwechselung von einem Platz auf den anderen begiebt. „Freust Du Dich denn nicht riesig auf Berlin?" „To de sure." Lilian knöpft den Mantel zu und lehnt sich in die Kiffen zurück. „Darum aber brauch ich mich doch n'cht abzuzappeln, wie Du das vorzuziehen scheinst. Einstweilen find« ich den Blick in das verschneite Land recht schön und mein Auch ganz interessant." „Lilian, ich möchte wissen, ob Du so kühl bist wie Du thust, oder immer so kühl warst. Du mußt doch auch einmal siebzehn Jahre jung gewesen sein." Und merkwürdig, als habe sic etwas Seltsames berührt, statt zu lachen, sieht Lilian die Schwester an, an der Schwester vorbei, in die gestaltlose Ferne. — Ohne daß sie es weiß, legen sich die langen, schmalen Finger der rechten Hand auf den schlichten Goldreif an dem linken Arm, den Lilian trägt bei Tag und Nacht, und den eben das schwedische Leder verbirgt. Wie durch Zaubergewalt taucht es auf vor ihren Blicken, marmorne Terrassen mit Rhododendren und Orchideen; Gärten, unabsehbar in ihrer Wirrniß von exo tischer Blüthenpracht; ein tiefblauer Himmel mit goldenem Mond, ein tiefblaues Meer mit silberschäumenden Wellen — und ein junges, junges Mädchen mit noch schlummernder Seele, staunend ob der schönen Welt — träumend jenen Märchentraum: dieses Wunder eines ungebrochenen Herzens und seiner heiligen Be geisterung, deren verklärende Allgewalt erst eigentlich die Dinge der Welt zu den Wundern macht, die so ihren Zauber auf uns üben. „Ich meine", jubelt Fiffi ungeduldig in dies Schweigen hinein, „ich meine, wir müssen etwas ganz Besonderes erleben. Ich — weißt Du, Lilian, ich brenne auf einen Roman!" Der Zauber ist gebrochen, jede Vision verschwunden, Lilian sieht eben nur noch, wie die Schatten immer dunkler werden auf dem kalten, bleichen, eintönig tobten Schnee. „Du bist ein Kind", sagte sie kühl. „Die Menschen haben überall die Nasen mitten im Gesicht. Es werden überall die selben Mätzchen gemacht; kleine Vögel überall, wenn sie dumm sind, mit rothen Beeren gefangen. Höchstens, daß die Decoration der Säle von einander abweicht, in denen man tanzt. „Aber Du tanzest doch gern!" Fiffi läßt sich so leicht in der Stimmung ihrer siebzehn Jahre nicht beirren. „Natürlich." „Und liebst Deine Anbeter?" Die große, blaffe Lilian macht sehr erstaunte Augen. Dann mit seltsam abfallendem Ton klingt es: „Roland und Lord sind mir lieber. — loolc derv!" Ohne daß es die Schwestern bemerkt, hatte der Zug einen Augenblick gehalten. Hereingeworfene Blätter liehen vermuthen, daß man der Hauptstadt nahe war. „Sehen wir, was es in den Tagen giebt", meinte Lilian. „O, die Theater!" Fiffi hatte sofort ihr Näschen in eines der gelblich rosenfarbenen Blätter des Vergnügungsanzeigers vergraben. Für eine Weile blieb es dann still; die jungen Damen zogen es vor, die Vergnügungen der Hauptstadt zu studiren, bis di« nunmehr immer näher rückenden Häusermassen ihre Aufmerksam keit anderweitig beschäftigten. Auch die übrigen Passagiere bemerkten jetzt, daß man dem Ziele näher kam und rüsteten sich, indem sie ihre verschiedenen Habseligkeiten zusammenlasen, was die Dernburgs, durch keinerlei Handgepäck belästigt, mit einer Jungfer im Gefolge, nicht nöthig hatten. Fröstelnd schauerte ein junges Mädchen in einem Wagen- abtheil dritter Classe zusammen. Ihr altes, schwarzes Woll kleidchen, die alte kurze schwarze Jacke hatten sich Beide schon als ungenügend erwiesen für die Temperatur in dem Raum, wo, un gewehrt von jedem schützenden Polster, der Wind seinen Einzug hält durch alle Fugen hindurch. Fröstelnd faßt sie nach dem Haken, der längst schon den Hals kragen schließt, und knotet den schwarzen Schleier fester über dem schwarzen Hütchen einfachster Form. Noch einmaj,' diesmal auch innerlich erschauernd, blickt sie hinaus; ihre Lippen zittern, ihre Augen füllen sich mit Thränen. Die Fülle der immer neu auf tauchenden Lichter, das immer näher rückende, immer mehr anwachsende Häusermeer legt sich mit beängstigtem Druck auf des Mädchens Herz: Bedeutet doch der Eingang in die Hauptstadt zugleich den Anfang eines Lebens, dem Helja von Hausen nur zagend entgegensseht. Dann weinend fast, als sei auch dies eine unüberwindliche Aufgabe, geht sie daran, ihre sieben Sachen zusammenzulesen. „Wart', ich helfe", sagte da Heljas Gegenüber, »ine Frau von vielleicht dreißig Jahren, die sich während der Fahrt mit dem jungen Mädchen angefreundet hatte. Die Frau sehr einfach, doch mit einer gewissen Geschicklichkeit gekleidet, war gleich hinter Magdeburg eingestiegen, hatte dann, mittheilsam von Natur, sehr bald die Unterhaltung eröffnet, und in der Anschauung, daß einen Menschen die Erlebnisse des andern doch selbstverständlich mit interessiren müssen, die ihren vor Helja ausgekramt. Sie hatte eine Verwandte, die einzige noch, im Kindbett gepflegt — es war Alles sehr gut gegangen — und der Junge — glücklicherweise war es ein Junge — hatte als ein Prachtkerl seinen Einzug in die Welt gehalten. Sie hatte nur einmal ein solches Kind gesehen, ihr eigenes, das aber doch noch hübscher und auch kräftiger zugleich gewesen war! — Sic hatte nämlich ein Kind, „ein herziges Schätzer!". Und nun folgte die Beschreibung von Wilhelm öder Willi, der natürlich mit seinen sechs Jahren bereits einen Ausbund aller Vollkommenheit abgab. Dabei begannen die etwas verblichenen Augen in dem ver blichenen Gesicht der Mutter zu leuchten, daß Helja meinte, die Frau könne doch einmal ganz hübsch gewesen sein. Und Frau Anna war in der Thal sogar recht hübsch gewesen!