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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 12.01.1898
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1898-01-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18980112018
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1898011201
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1898011201
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-01
- Tag 1898-01-12
-
Monat
1898-01
-
Jahr
1898
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Die Morgen-Ausgabe erscheint um '/,? Uhr, dir Abend-Ausgabe Wochentags um b Uhr. Filialen: Ltto Klemm's Sortim. (Alfred Hahn), Universitätsstraße 3 (Paulinum), LouiS Lösche, Katbarinenstr. 14, pari. nad LünigSplatz 7. Ne-artion und Expedition: AohanueSgafse 8. Die Lxvedition ist Wochentag» ununterbrochen geöffnet von früh 8 bi» Abend» 7 Uhr. Vezug-'PreiS if» der Hauptexpedition oder den kn Etadt- bezirk und den Vororten errichteten Bus- oac>»stellen abgeb alt: viertrljLrlich ^l4.50, bei zweimaliger täglicher Zustellung ins Hans ./L 5.50. Durch die Post bezogen für Deutschland und Oesterreich: virrteljädrltch 6.—. Directe tägliche Krruzbandirndung in» Ausland: monatlich X 7.50. Morgen-Ausgabe. Anzeiger. Amtsblatt des Königlichen Land- und Amtsgerichtes Leipzig, des Nathes und Nolizei-Ämtes der Stadt Leipzig. Mittwoch den 12. Januar 1898. AnzeigeN'Preiß die 6 gespaltene Petitzeile 20 Pfg. lsteclamen unter dem Rrdaetion-strich i-tge« spalten) 50/^, vor den Familiennachrichten (6 gespalten) 40/^. Größere Schriften laut unserem Preis- vrrzeichniß. Tcdellarischer und Ziffernsay nach höherem Tarif. Extra-VeilagtN (gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbeförderung 60.—, mit Postbesörderung 70.—. Anvahmeschluß sir Anzeigen: Ab rud-Au-gabe: Vormittag» 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: Nachmittag» 4 Uhr. Bei den Filialen und Annahmestellen je eine halb« Stunde früher. Anreisen sind stet» an die Expedition zu richten. Druck und Verlag von L. Polz in Leipzig. S2. Jahrgang. Das deutsche Nationalfest, ein vaterländisches Unternehmen. Von E. von Schenckendorsf in Görlitz. I.DieVetveggründc und SieZicle des deutschen SlalionalfesteS. Alle öffentlichen Unternehmungen können nur eine Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie auf vorhandenen Bedürfnissen der Menschennatur sich aufbauen, und sie haben nur eine Dauer, wenn sie gesunden Bedürfnissen Rechnung tragen. Das tiefliegendste gesunde Bedürfniß des Deutschen aber ist die Pflege des Nationalgefühls, die Liebe zum gemeinsamen Vaterlande, die Hochhaltung des deutschen Einheitsgedankens. „Das Wort Deutsch hat von altersher bei allen deutschen Stämmen und weit darüber hinaus einen guten, unsere Denkart rühmlich bezeichnenden Klang. Ein deutscher Mann, ein deutscher Händedruck, deutsche Treue, deutscher Fleiß, — alle diese Ausdrücke zielen auf ein fest gegründetes deutsches Volks- thum. Vollkraft, Biederkeit, Gradheit, Abscheu der Winkelzüge, und das ernste Gutmeinen waren seit ein paar Jahrtausenden die Kleinode unseres Volksthums, und wir werden sie auch durch alle Weltstürme bis auf die späteste Nachwelt vererben." So sagt Friedrich Ludwig Jahn in seinem „Deutschen Volksthum" vom Jahre 1810. Nichts aber stand ihm höher als die deutsche Einheit, sie war der Anfang und das Ende seines Sinnens, Trachtens und Schaffens, seine treibende Kraft und sein Ziel zugleich, und zwar deshalb, weil sie die kraftvollste Wehr und den sichersten Schutz für das Gedeihen deutschen Volks thums bildete. Einen treffenden und schönen Ausdruck gab er diesem tiefempfundenen Einheitsgcdanken, als er Ende der vier ziger Jahre schrieb: „Deutschlands Einheit war der Traum meines erwachenden Lebens, das Morgenroth meiner Jugend, der Sonnenschein der Manneskraft, und ist jetzt der Abendstern, der mir zur ewigen Ruhe winkt." Mit ihm kämpften zu Anfang des Jahrhunderts um das gleiche hohe Ziel andere verdiente, für ihr Vaterland begeisterte Männer, wie Fichte, Arndt, Gnei- senau u. A. Was diese Männer in trüber Zeit einst gesäet, ist im Laufe des Jahrhunderts herrlich aufgegangen: Das Werk der deutschen Einheit ist geschaffen. Mit dem uns beherrschenden Gefühle des Stolzes, ein Deutscher zu sein, und mit tief innerer Dank barkeit blicken wir auf jene Helden hin, die diese lang ersehnte deutsche Einheit siegreich durchführten, auf den allgeliebren Kaiser Wilhelm I., aus unseren Bismarck, Moltke und Roon! In jährlichen Feiern rufen wir die Zeit der Wiedergeburt des deutschen Reiches in unsere Erinnerung zurück und mahnten das neu Heranwachsende Geschlecht zur Treue für Kaiser und Reich, und im Jahre 1895 erhob sich bei der 25jährigen Wiederkehr jener großen Siege einmüthig ganz Deutschland zu großer, mächtiger nationaler Kundgebung und brachte den Zoll der Verehrung unc Bewunderung den Schöpfern der deutschen Einheit. Verrauscht sind die Festesseiern. Aber sind wir der na tionalen Einheit heute auch so sicher, daß wir mit Ruhe und I ohne Sorge in alle Zukunft blicken können? Wer wollte da nicht von dem tiefinneren Glauben an das deutsche Volk durch drungen sein, daß es in der Stunde der Gefahr einem äußeren Feinde gegenüber sich gleich einig wie 1870 erheben, daß der kuror tsutonieus nicht sofort neu wieder erwachen und Alles vor sich niederwerfen würde, was uns angreifen, waS unsere deutsche Einheit stören wollte? Aber sind wir dieser Errungen schaft gleich sicher auch in den weiteren Tagen des Friedens? Ja, ist das innere Gefüge des Baues unseres Reichs heute noch ebenso gefestigt, wie nach den ersten Jahren seiner Gründung? Wer auch den unbezwinglichen Glauben an die immer wieder neu erwachende Kraft des deutschen Volkes einem äußeren Feinde gegenüber treu sich bewahrt hat, und wer auch frei sich fühlt von dem Zuge des Mißmuths, der unsere Zeit durchzieht, — er wird der Sorge nicht ledig, daß die nationale Begeisterung im Laufe dieser Friedensjahre nachgelassen hat und nicht mehr auf gleicher Höhe sich behauptet. Die alte deutsche Eigenart der Befehdung der deutschen Stämme untereinander bei der Wahrnehmung ihrer geistigen wie materiellen Interessen, die uns so lange als Nation schwach machte, und die tiefgreifende sociale Strömung unserer Zeit, die, aus den veränderten wirthschaftlichen und politischen Verhältnissen in naturgemäßer Entwickelung hervorgehend, vie Richtung einer Entfremdung vom Vaterlande eingeschlagen hat, sie lassen uns mit Sorge auf die Zukunft blicken und rufen allmählich die Befürchtung in uns wach, als ob die großen natio nalen Thaten von 1813—15 und von 1870/71 noch nicht hin reichend erscheinen, um das um die deutsche Nation geschlungene Einheitsband nun auch für alle Zeiten fest und dauernd zu erhalten! Diese Lockerung des Gefüges unseres Reichsbaues, die eher zu- als abnimmt, ist es, die die deutsche Volksseele bedrückt. Auch ein merklicher Rückgang in den Sedanfeiern ist nach 1895 eingetreten, und zahlreich sind die Beschlüsse vieler Vereine und Körperschaften, dies« jährliche Feier nunmehr ein zustellen oder nur noch in größeren Zeitabschnitten zu begehen. So sehen wir schon jetzt sie allmählich entschwinden, wie auch die Feiern nach den großen Freiheitskriegen von 1813—15 nach und nach verschwanden, ja längst verklungen waren, noch ehe uns im Jahre 1870 das Morgenroth der neuen deutschen Einheit leuch tete. Da ist es wieder der Verfechter unseres deutschen Volksthums, Friedrich Ludwig Iahn, der an gleicher Stelle und in ernster Mahnung uns zuruft: „Ein Volt, welches seine Wiedergeburt nicht feiert, vernichtet sich selb st in der Geschicht e." Von dieser Mahnung erfaßt, haben Männer der verschiedenen Stände und der politischen Richtungen das Unternehmen eines deutschen Nationalfestes ausgenommen, und im Januar werden sie, nach umfassenden Vorarbeiten und Wohl erwogenen Plänen, in Berlin zusammentreten, um diese Arbeit zu fördern. Das Nationalfest soll in etwa regelmäßig fünfjähriger Wiederkehr mit dem neuen Jahrhundert beginnen. Aber wäre es nur ein Fest wie andere Feste, ja noch erhabener wie diese, so wurde es ebenso verrauschen wie frühere Feste. Der Blick dieser Männer ist daher auf ein weiter gestecktes Ziel gerichtet, näm lich auf den Nationalfesten nicht nur den deutschen Einheitsge- dankrn zu mächtigem Ausdruck zu bringen, sondern, in Anpassung an die Bedürfnisse unserer Zeit, gleichmäßig auch die Haupt lebensadern deutschen Volksthums: sociale Gesinnung, deutsche Volkskraft und einfache Sitte. Weiter aber soll eine über ganz Deutschland und unter den Deutschen im Auslande ausgebreitete Organisation von Orts-Aus schüssen nebst höheren Verbänden die durch die Nationalfeste gegebene kraftvolle Anregung hinaus in das Volk tragen und hier in den Zwischenjahren als Träger des Einheits gedankens und deutschen Volksthums stetig wirksam sein. So bedeutet das Nationalfest also nicht ein Fest im gewöhn lichen Sinne, sondern eine dauernde nationale Arbeit, ein vater ländisches Unternehmen. Ja, je mehr diese Organisation im Lande zur vollen Durchführung gelangt, also allüberall rührige Orts-Ausschüsse ins Leben treten, desto mehr wird sich der Schwerpunkt dieser nationalen Arbeit verschieben nach der Rich tung der Thätigkeit der Gesammtheit der Orts-Aus schüsse; und es wird die Wechselwirkung zwischen den Na tionalfesten, einschließlich der centralen Leitung, und den Orts- Ausschüssen eine gesund« sein, wenn Beide in lebendigem Gleich gewicht stehen. Diese nationale Arbeit soll sich zur Erreichung dieser Ziele, wie der sechste Leitsatz des Ausschusses für deutsche Nationalfeste sagt, aber weder in den Dienst irgend einer Partei, noch socialpolitischer, konfessioneller oder verwandter Bestre bungen stellen, sondern allein die Förderung des Deutschthums im Auge haben. Das Jahr 1897 hat hierzu auf breiter Grundlage die Vorarbeit geschaffen. Am 31. Januar 1897 trat eine Anzahl von Männern der ver schiedenen Berufe und Parteien im Reichstagsgebäude zu Berlin zusammen, um darüber zu berathen, ob der Plan der deutschen Nationalfeste, der in einer Denkschrift*) entwickelt worden war, ausgenommen werden sollte. Diese Frage wurde einstimmig be jaht und mit der weiteren Vorbereitung ein Ausschuß beauftragt. Man entschied sich ferner dahin, von einer wechselnden Feststätte libzusehcn, und eine ständige in Aussicht zu nehmen. Die Bewerbung hierum wurde freigegeben. In der Versammlung selbst kamen der Niederwald, der Kyffhäuser und Leipzig in Vorschlag; später traten hinzu Mainz, Kassel, Goslar und neuer dings Frankfurt a. M. Die erstgenannten sechs Orte wurden, nachdem ausführliche Unterlagen von allen Seiten vorgelegt waren, vom Arbeitsausschuß einer Besichtigung unterzogen. Dem im Januar in Berlin jetzt zusammentretenden Ausschuß fällt die Entscheidung in der Wahl des Festortes zu. Man wird indessen kaum eine sofortige Entscheidung treffen, sondern nur beschließen können, daß die Wahl eines dieser Orte inAussichtzu nehmen *) Denkschrift Uber die Einrichtung deutscher Nationalfeste von E. von Schenckendorsf, N. Voigtländer in Leipzig. sei und daß der Arbeits-Ausschutz auf Grund dieses Beschlusses mit den betreffenden Orts-Ausschüssen, die sich an diesen Orten gebildet haben, in Verhandlung treten solle. Was bisher über die Thätigkeit in diesen Orten bekannt geworden ist, wurde in keinem einzigen Falle von der Leitung des Ausschusses, die eine vollkommen neutrale Stellung bewahrte, veranlaßt, sondern ist von den Bewerbern selbst ausgegangen. Durch die Thätigkeit dieser Orts-Ausschüsse hat aber das Unternehmen selbst mannig fache dankenswerthe Besprechungen sowohl in Presse wie Ver sammlungen gefunden, Die Leitung des Ausschusses suchte aber auch ihrerseits auf die öffentliche Meinung dadurch einzuwirken, daß sie mannigfache allgemeine Anregungen verbreitete und ein besonderes Organ „Mittheilungen und Schriften des Aus schusses", von denen jetzt das 5. Heft (R. Oldenbourg in München) erschienen ist, herausgab. Auf diesem Wege wurde das Unter nehmen in die Öffentlichkeit eingeführt und fand hier, mit ge ringen Ausnahmen, die von irrtümlichen Voraussetzungen aus gingen, warme, ja begeisterte Aufnahme. Zuweilen wurde die Bezeichnung „Nationalfest" bekämpft, doch hat sich dies Wort bereits mit bestem Erfolge eingeführt und keiner der gemachten anderen Vorschläge hat zugleich zum treffenden Ausdrucke ge bracht, daß der wesentlichste Zweck des Festes selbst das Fest der ganzen Nation, des ganzen Volkes ist, zu dem sich Jeder zugehörig fühlen soll. Ein Anderes wäre es, ob die geschaffene Organisa tion, deren Zweck, wie dargelegt, über die Einrichtung und Ab haltung der Nationalfeste hinausgeht und zugleich die Pflege deutschen Volksthums verfolgt, in Haupt und Gliedern eine andere und umfassendere Bezeichnung erhalten soll. Will man durchaus hier verdeutschen, so könnte der jetzige Ausschuß für deutsche Nationalfeste „Der Reichs-Ausschuß zur Pflege deutschen Volksthums" heißen. Seine Gliedre im Volke hießen dann gleichmäßig Orts- Kreis-, Be zirks-, Provinzial- und Landes-Ausschüsse zur Pflege deutschen Volksthums. Dies könnte aber nur durch den jetzt zusammen tretenden Ausschuß geschehen. Es bleibt nunmehr darzulegen, wie die getroffene Organi sation auch diese hohen vaterländischen Ziele zu erreichen vermag. Die Reichstagswahlen in Sachsen. Die Reichstagswahlen werfen ihre Schatten früher als sonst voraus. Obwohl unter normalen Verhältnissen noch reichlich 5—6 Monate Zeit bis zu den Neuwahlen ist, sind die Parteien, allen voran der „Bund der Landwirthe", auch in Sachsen bereits beschäftigt, Kandidaten aufzustellen und den Boden zur Wahl schlacht zu bereiten. Soweit bis jetzt Namen bekannt sind, sind aufgestellt: im 3. Wahlkreise (Bautzen-Kamenz) der conservative Landtags- abg. Steiger vom Bund der Landwirthe und der Reichs- tagsabg. Gräfe von den Antisemiten; l im 4. Wahlkreise (Dresden-Stadt r. d. Elbe) Professor l)r. Feuilleton. Winter auf dem Lande. Von Wilhelm von Polenz (Obercunewalde). Nachdruck verboten. Wer in der Stadt lebt und höchstens aus Badereisen und Sommerfrischen das Landleben kennen lernt, der kann sich schwer einen Begriff davon machen, was eigentlich der Winter zu be deuten hat. Denn richtigen Winter giebt es nun einmal nur auf dem Lande! Für den Städter ist es die Jahreszeit, in der die Straßen schmutzig und die Zimmer geheizt sind, wo man den Pelz trägt statt des Sommerüberziehers, wo man zu Diners und Bällen geht. Wenn er zufällig Sportsmann ist, weiß der Pflastertreter vielleicht darüber hinaus noch, daß man im Winter Treibjagd macht, daß man Schlittenfahren und Schlittschuh laufen kann. Irgendwie tiefer in sein Tagesleben einschneidend wirkt der Wechsel der Jahreszeiten nicht für den Bewohner jenes großen Haufens von Brandmauern, Stuckfassaden, Glasscheiben und Asphaltstraßen, genannt Großstadt. Er hat seine Zeitungen im Winter genau so wie im Sommer, nur daß im Winterhalbjahr mehr und Interessantes darin zu stehen pflegt, als in der Zeit der sauren Gurke. Der Winter ist überhaupt für ihn die Epoche des intensiven Daseins, wo man Politik macht und Geld, wo man lebt und genießt. Im Sommer sucht man dann mehr oder weniger den Geldbeutel und die Nerven, die beide von der Wintercampagne her zerrüttet sind, zu erholen; und dazu ist Einem dann die ländliche Ruhe und Langeweile gut genug. Ist das nicht verkehrte Welt?! Bei uns auf dem Lande, da ist es in der Natur so wie im Hause, und wie im Gemüth der Menschen. Da ruht im Winter Alles: Wälder, Felder, Thiere; mehr oder weniger halten auch die Menschen ihren Winterschlaf. Ueber den Landmann, der ja seiner körperlichen wie geistigen Structur nach Pflanze, Thier und Erdreich näher steht als der civilisirtere Städter, kommt dann etwas Aehnliches wie der Däm merungszustand, das langsamere Pulsiren der Lebenssäfte, jene Erstarrung, in die er die übrige Natur ringsum verfallen sieht. Wenn es um vier Uhr Nachmittags bereits dunkel wird, dann dreht der Stadtmensch gedankenlos das Gas an, oder er berührt den Knopf, der ihm das elektrische Licht vermittelt. Der Dorf bewohner, der diese modernen Lichtspender vielleicht nur dem Hörensagen nach kennt, hantirt lieber noch etwas im Dunklen und geht mit den Hühnern zu Bett, um das kostspielige Oel zu sparen. Nur wer einmal einen richtigen norddeutschen Winter hin durch auf dem Lande gelebt hat, kann ermessen, was unsere Vorfahren, die noch keinen Kachelofen und keine Petroleumlampe kannten, beim Anbrechen de» Frühjahr» empfunden haben müssen. Durch die ganze altgermanische und mittelhochdeutsche Dichtung, durch die gesammte nordische Mythologie geht ja dieser Zug: da» Sehnen aus WinterSnacht nach dem lichtbringenden Lenz. Für die Altvorderen war eben das Ende de» Winter» einfach Erlösung au» Nacht, Kälte, Unthätigkrit, Stumpfheit, Darben, Unbilden jeder Art. Wir Drutsch« sind von alterlhrr rin Volk gewrsrn von Bauern, sind es lange geblieben, sind es zum Theil noch, darum ist uns der Zusammenhang mit der Natur nicht so ganz abhanden gekommen, wie z. B. den modernen Franzosen. Auch jetzt noch ergreift den echten Germanen beim Herannahen des Frühlings etwas von jener Feiertagsstimmung, ein Staunen, eine Dank barkeit über die Neuwerdung der ganzen Natur, wie vor dem größten Wunder, das die wunderreiche Welt für uns hat. Der Winter beginnt bekanntlich nicht und endet auch nicht da, wo es im Kalender zu lesen steht; er dauert viel länger. Im Osten und Norden Deutschlands und auch in den gebirgigen Theilen des Südens beginnt er oft schon Anfang November und endet nicht vor dem März. Und nicht selten erweist sich auch noch das Osterfest nur als ein grün angestrichenes Weih nachten. Wie viel mag nicht die lange Dauer der rauhen Jahres zeit von Einfluß gewesen sein auf die Gemüths- und Charakter bildung unseres Volkes?! So viel ist sicher: Leute, denen es gelang, unter solcher Ungunst des Klimas einen meist kargen Boden urbar zu machen und von seiner Frucht zu leben, mußten zähe, unerschrockene, genügsame und treue Menschenkinder sein. Dieser Kampf mit der feindlichen, strengen und spröden Natur, die uns nur einen kurzen Lichtblick im Sommer gönnt, und sich ihre Gaben nur mit dm schweren Entbehrungen des Winters abtrotzen läßt, dieser Kampf geht auch in unserer Zeit noch weiter, wo doch der menschliche Geist so vielfach über die Natur Triumphe erfochten hat. In Tausenden deutscher Dörfer wird dieser Kampf still und tapfer von Millionen derber, an spruchsloser Landleute jahraus, jahrein ausgefochten. Keine noch so große Vervollkommnung der Technik wird ihn jemals aus der Welt schaffen. Ganz und gar werden sich die Menschen von dm natürlichen Bedingungen des Sternes, auf dem wir nun einmal lebm, doch nicht entfernen können, denn: „So lange die Erde stehet, soll nicht aufhören Sommer und Winter, Frost und Hitze, Lag und Nacht." Winters über nun ist eine Art von Ruhepause in diesem Kampfe, oft eine ungewollte. Für die rationelle Landwirthschaft ist unser langer Winter eine Bürde, an der sie schwer trägt, und emer der Hauptgründe, warum sie mit anderen Betrieben nicht immer concurrenzfähig bleiben kann. In der Großindustrie, im Handwerk, wird Sommer und Winter durch gleichmäßig fort- gearbeitet; es giebt nur ganz wenige Industriezweige, die von der Saison abhängig sind. Und auch innerhalb der Landwirth schaft ist wiederum die kleine Oekonomie weniger durch die Ungunst der wechselnden Jahreszeiten gefährdet als die große. Der kleine Mann, der mit seiner Hände Arbeit seinen Garten oder sein Stück Feld bebaut, kann wohl ruhig zusehen, wenn unter Schnee und Eis seine Saat geborgen liegt. Aber der größere Landwirth, der viele Arbeiter beschäftigt, unzählige Thiere hält, kostbare Maschinen besitzt, möchte verzweifeln, wenn es sich zeitig einwintert, und die Herbstbestellung noch nicht vol lendet ist; oder wenn ihn im Frühjahr Frost und Nässe nicht auf's Feld lassen. Welchen Verlust an Zinsen bedeuten ihm die Wochen und Monate, wo sein Betrieb zum Müßiggang verurtheilt ist, wo gewissermaßen die Maschine mit ganz schwachem Dampf arbeiten muß! Wenn man diese Schwierigkeit in Be tracht zieht, versteht man vielleicht auch, warum unsere Groß grundbesitzer dem Saisonarbeiter den Porzug geben vor dem heimischen Tagelöhner, den sie den Winter über erhalten müssen. Manch ein Herr läßt daher auch mit dem Dreschflegel da» Ge treide ausdreschen, obgleich er die Dreschmaschine im Schuppen stehen hat, nur um die müßigen Hände zu beschäftigen. Nichts Gemüthlicheres und Beruhigenderes als der Klang der Dreschflegel von der Tenne, während die Felder, die diesen Segen hervorgebracht haben, unter der weißen Decke Kraft sammeln zu neuem Keimen und neuer Frucht. Dann naht das freche Corps der Spatzen und pickt auf, was an Körnern herausspringt aus der offenen Scheune. Es wird Alles so viel vertrauter und zahmer im Winter; die Menschen rücken näher aneinander bei der Kälte, und selbst das Wild zieht aus Wald und Feld in die Nähe der menschlichen Wohnungen. Fährt man mit dem Schlitten durch den verschneiten Wald, dann halten es Hase und Reh kaum noch für nothwendig, sich ein wenig von den Krippen und Raufen zu entfernen, in denen ihnen der Jagdliebhaber Heu und dergleichen aufgetifcht hat. — Aber ich sprach vom Dreschen. Der Takt des Dreschflegels auf der Lehmtenne klingt so sehr viel harmonischer und altmodisch-traulicher als das Surren der Dreschmaschine. Das Dreschen ist auch eine Kunst, die gelernt sein will wie jede andere; wer es nicht versteht, kann sich und seine Nebenmenschen dabei arg auf die Füße klopfen. Das Ausdreschen des Getreides ist auch ziemlich das Einzige, was den Bauer im harten Winter dauernd beschäftigt. Pflügen und Eggen kann er da nicht; wenn er Wald besitzt, wird er dort vielleicht Bäume fällen und Stöcke roden. Ueberhaupt, wo ausgedehnte Wälder sind, wird es der ländlichen Bevölkerung auch in der Zeit der schlafenden Vegetation nie ganz an Arbeit fehlen. Dann giebt es ja auch an den Wegen zu bessern, und wenn die Landstraße verweht ist, müssen die Männer mit Schnee pflug und Schaufel hinaus, Bahn machen; wenn es die Gemeinde oder das Rittergut nicht mit der hohen vorgesetzten Verwaltungs behörde verderben will. Im Uebrigen muß der Landmann zu sehen, wie er sich und sein Vieh, so gut es gehen will, durch den Winter bringen mag. Und sieht es auch manchmal gefährlich genug auS, wenn der Schnee meterhoch liegt, und die Scheiben mit Eisblumen bedeckt sind, wenn es Stein und Bein friert — eS gilt dann das Sprichwort: „Unkraut verdirbt nicht, so kalt ist der Winter nicht!" Man wird vielleicht fragen: was machen denn den ganzen langen trostlosen Winter hindurch die Frauen auf dem Lande? — Die haben noch am ersten Beschäftigung. Die häusliche Maschinerie arbeitet weiter, es mag draußen schneien, oder die Sonne scheinen. Die Menschen wollen essen und trinken, schlafen und wohnen; das Vieh will versorgt, die Kühe gemolken, die Butter gemacht sein. Die Fürsorge dafür fällt mehr oder we niger den Frauen zu. Ein großer und ehemals wichtiger Theil der weiblichen Hausarbeit freilich ist weggefallen: die Bekleidung. In früheren Jahrhunderten bereiteten die Weiber mit eigener Hand da» Linnen und viele andere Gewebe, die jetzt auf mecha nischem Wege hergestellt werden. Frauenhände spannen, zwirnten, wirkten, spulten und bleichten. Fast überall in Deutschland auf dem platten Lande hatten sich bis tief in unser Jahrhundert hinein Spinnrad und Webstuhl im Hause des kleinen Manne» in Gebrauch erhalten. Die Spinnstube war eine Art regelmäßiger Zusammenkünfte für die weibliche Land- bevölkerung, besonder» zur Winterszeit. Jetzt ist diese häusliche Industrie, bi» auf verschwindende Reste, verdrängt durch den Kraftstuhl der Fabrik. Kleider, Wäsche, fast all« Bedarfsartikel werden dem Landvolke zehnmal billiger in's Haus geliefert, als sie eine noch so emsige Hausfrau jemals Herstellen könnte. Von den großen Errungenschaften der vervollkommneten Technik hat von allen Classen und Ständen des Volkes der Bauer bisher am wenigsten profitirt. Der Bauer ist oft nicht unter nehmungslustig und intelligent genug, um all den Vortheil der Arbeitsverringerung und Zeitersparniß durch die mechanischen Kräfte zu verstehen und nutzbar zu machen. Er ist darin kon servativ im schlichten Sinne; er bewahrt das Alte, auch wenn es längst von der Zeit überflügelt ist. Der öde, langweilige, arbeitslose Winter, ohne jede geistige Anregung, ist auch mit einer von den Gründen, weshalb das Volk vom platten Lande weg in die Städte zieht. Wer kann es jungen, kräftigen, lebensvollen Leuten verdenken, wenn sie das geifttödtende Einerlei des Winterschlafes, wie es leider in vielen Dörfern herrscht, fliehen, und in der Stadt Verdienst und Ver gnügen suchen! Und da, wo, wie in meiner Gegend, die Industrie siegreich vorrückt, werden die jungen Leute von der Landwirthschaft weg in die Fabrik gezogen, geradezu mit magischer Gewalt. Da steht der mächtige Bau mit hohem Schornstein, mit den Glas dächern, dem elektrischen Licht, den sausenden Stühlen, weithin leuchtend und tönend über die abendliche Winterlandschaft. Da regt sich in Knecht und Magd der begreifliche Wunsch, statt im dunklen Zimmer beim langweilig mürrischen Bauern zu hocken, dort in dem hell erleuchteten warmen Saale, unter Hunderten anderer Arbeiter und Arbeiterinnen mit verhältnißmäßig we nigen und leichten Handgriffen sich einen besseren Lebensunterhalt zu verdienen. So zieht die Fabrik das junge Volk an wie das Licht die Motten, und die Entbauerung unserer Dörfer macht ceißenve Fortschritte. Wohl dem Dorfe, wo durch ein regeS Gemeindeleben, durch Vereine und Bestrebungen Privater dafür Sorge getragen wird, daß die Seele des Landvolkes nicht ganz fremd bleibt den Schätzen unserer Cultur! Ein wenig mehr Licht und Wärme in ihre Köpfe und Herzen, gerade in der Winterszeit, wo oie Leute so viel Zeit haben hier draußen, damit wäre manchen! Schaden abgeholfen. Was die Großstadt zu viel hat an Erleuchtung, Glanz und Anregung, das könnte uns in unserer Stagnation gute Dienste leisten. Alles könnte hier noch geschehen für die Bildung, für Verbreitung von Wissen, für die Entwickelung des Geschmackes, für die geistige und gemllthliche Wohlfahrt. Ja, der Winter ist eine merkwürdige Jahreszeit; ich lasse nichts Schlechtes auf ihn kommen! Dem Trägen und Stumpfen ist es die Zeit, wo man sich wie drS Thier zusammenrollt und im Halbschlaf dahindämmert. Für den Vergnügungssüchtigen ist eS die Zeit des Faschings, wo er durch das Opiat der Ge selligkeit sich über die Leere seines blasirten Gemüthes hinweg- zutäuschen sucht. Wer aber den Frieden recht versteht, der sich mit dem Fallen der Blätter und dem Welken des Grases über die ganze Welt ausbreitet, wer in der Dunkelheit der Winternacht das Lämplein de» Geistes nicht ausgehrn läßt, dem wird gerade die Zeit der Erstarrung alles Leben im Freren, der lange Feiertag, den sich die Natur gönnt, zu einer Zeit der Sammlung und der Fruchtbarkeit werden. Wie unter der Schneedecke die Saaten, werden seine Gedanken, Hoffnungen und Werk« drm komm«nd«n Frühling «ntgrgengrünea.
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