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Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.06.1882
- Erscheinungsdatum
- 1882-06-27
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-188206270
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-18820627
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-18820627
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1882
-
Monat
1882-06
- Tag 1882-06-27
-
Monat
1882-06
-
Jahr
1882
- Titel
- Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 27.06.1882
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Erscheint täglich früh S'/, Uhr. Le-atUon und Lrpkditio» Iohaane-gasse Ä. A-rechssunden der Nrdactiou: Bormittugs 10-IS Uhr. Nachmittags S—K Uhr. ftlr W» «>,»el°nd«cr «-nukttvi» »«cht ßch t» »-»-«>»« «a« „r»»dUq. >«««»»« »er für »te »öchstkelnens« Nu««er »eftlmmte« Injernre an W-cheuta-en bi» L Uhr Nachmittags, a«La««» u»v Festtage» früh bi»'/,» Uhr. I« -ru Filialen für Ins.-Lnnah«« Dtt« Klemm, UniverütStsstraße 21, k»«is Lösche, Katharinenstraße 18, p. «ur bi» '/,» Uhr. 'ch.rlgtrMgMM Anzeiger. Organ für Politik, Localgeschichte, Handels- nnd Geschäftsverkehr. Auflage 17S0Q. Ad»nne«rnt»nrei« viertrlj. 4 V, nicl. Brinaerlod« S Mk.. durch die Post bezogen K Mk. Jede einzelne Nummer 25 Pf. Belegexemplar 10 Pf. Gebühren für Lxtrabeilaae» »hne Posibeiörderung 39 Mk. mit Postbciörverung 48 Mk. Inserate «gespaltene Petitzeile L0 Pf. Grüßere Schrillen laut unserem Preis- verzeichniß. Tabellarischer Say »am HSHerem Tarif. Krrlamen nnter den Urdactionsstrich die Svaltzcile 50 Pf. Jaierate sind neis an die Erpesitia» zu senden. — Rabatt wird nicht gegeben. Zahlung praeouiiieriuxio oder durch Post. Nachnahme. ^S178. Dienstag den 27. Juni 1882. 76. Jahrgang. Amtlicher Theil. Vekailillumchung. Wege» Neupflasterung wird die Mockcri.'iche ktrake in dem Tracte von der „Weintraube" bis zur Gartenstrgße von Mittwoch, den L8. Juni Hs». I». ab bis aus Weitere- dem Fährverkehr entzogen. «ohlis, am 24. Juni 1882. Der GemetnVevarflaub. Paulus. Spritzen-Verkauf. Lin« nach altem System gebaute fahrbare Feuerspritze, sogenannte Stobspritze, soll mit allem ZubedSr Donnerstag, de« LS. Juni d. I.. Nachmittag» u« L Uhr, öffentlich nleistbieteud verlaust werden. Kauflustige werden hierzu cingeladen. Markranstädt, deu IS. Jnni 1882. Der ktadtgemetnderatd. Härtel. Nichtamtlicher Theil. Römische Anmaßung. Mit der vatikanischen Klerisei, überhaupt mit der römi schen Pfaffmpartei ist nickt gut Kirschen essen. Da» muß nun auch der Neich-kanzler erfahren, der sich mit den Cen- trumsjesuitcn gegen die Liberalen und Freihändler der» bündele. Kaum hat Fürst BiSmarck in öffentlicher NeichStagSsitzung in Abrede gestellt, daß er Seiner Majestät unserm Kaiser ein ..klerikale» Canossa" angerathen habe, so wird der Reichs kanzler durch ein vom Vatikan gegängelte» und au- dem Peter-pfennige gespeiste» Zesuitenblatt, die wohlbekannte, den Protestantismus mit Schimpf und Schande bedeckende „Units catlolica" dahin belehrt (wir sagen „belehrt", denn diese anmaßenden Römlinge belehren Alle»: selbst Kaiser und Könige), daß Cr, ja daß Kaiser Wilhelm selbst nach Canossa gegangen sei. Die deutsche Pfasfrnpresse findet diese Aeußerung de» italienischen Blatte» natürlich unter den obwaltenden Um ständen äußerst „taktlos". Da sie aber den wirklichen Inhalt derselben nicht bekämpft, sondern dieselbe nur für unzweck mäßig, d. h. zur Stunde nicht ganz angebracht erklärt, so bc stätigt sie vielmehr die Behauptung der „Unita", anstatt sie zu widerlegen. Fürst BiSmarck seihst scheint, wa» den Gang nach Canossa betrifft, kein ganz reine» Gewissen zu haben: denn indem er in derselben NeichStagSsitzung, wo er sich gegen ein „klerikale» Canossa" verwahrte, Harzburg al» den fstamcn eines Canossa bezeichnet«, welches Heinrich IV. vielleicht zum Bündnißschlicßen mit anderen Neichsscinken al» dem damaligen Papst hätte wählen können, verrieth er nur allzu deutlich, daß ihm die Canossasäule bei Harzbnrg, welche sein stolzes Wort „Nack Canossa gehen wir nicht!" zu ewigem Andenken ausbcwahrt, reckt unangenehme Schmerzen bereitet. Die Zeiten ändern sich: auch der Reichskanzler! Im klebrigen thut die Presse der CcntrumSpartei Alle», wa» in ihren Kräften siebt, um DaS, wa» augenblicklich etwa noch an einem vollen Canossagang Preußen» fehlt, zu baldiger Au-fiihrung zu bringen. DaS Inkrafttreten des neuesten kirchenpolilischen Gesetze» wird von ihr nur al» eine „Ein leitung zur Wiederherstellung de» kirchlichen Frieden»" be zeichnet. zu welcher die „Hauptsache" erst hinzukommcn müsse. Speciell wird von allen CaplanSblättern nicht nur die baldige Aushebung de» SperrgesctzeS in denjenigen Sprengel«, in welchen dasselbe bisher noch in Kraft ist. gefordert, sondern auch die Rückkehr sämmtlicher abgesetzten Bischöfe. In der Diöcese Köln wird schon für Herstellung eine» Bittgesuch» an den Kaiser aus allen Gcmeiden zu Gunsten de» Herrn Melcher» gewühlt. Von Erfüllung der zur Begnadigung unumgänglich erforderlichen Bedingungen ist aber nirgend» die Rede. Selbst für den Fall, daß da» neue Gesetz nach seinem ganzen Umsang den Wünschen der CentrumS-Iesuitcn ent sprechend auSgesübrt werden sollte, wird rücksichtslos erklärt, die Erwartung der „Prov.-Corr.", daß da» Gesetz zur Be friedigung und Beruhigung der katholischen Bevölkerung dienen werde, weil eS die Wirksamkeit der kirchlichen Organe erleichtere, werde nickt in Erfüllung gehen. Wa» da» Iuli- gesetz von 1880 nickt bewirkt, werde da» neue Gesetz noch weniger bewirken; die katholische Bevölkerung sei bis jetzt überhaupt nicht im Stande, in dem Vorgehen der Regierung ein besondere» Maß de» Wohlwollen» zu erkennen. So spricht die „Deutsche Rcich-zeitg." vom 1l. Juni! Unter diesen Umständen kann man der Ausführung de» neuen Maigesetzc» nur mit banger Sorge entgegensetzen. Der seit dessen Vollzug merklich gesteigerte Uebermuth der Röm- linge läßt daS Schlimmste erwarten. Unter dem Deckmantel de» Worte», dem Volke müsse die Religion erhalten bleiben, ist heute auch in Preußen Alle» möglich. Man wird sich schwer an diesen Gedanken gewöhnen; aber man muß eS thun, um nicht von dem Gange der Ereignisse überrascht zu werden. Leipzig, 27. Juni 1882. Mit der Vertagung de» Reichstage», mit dem Beginn der tobten Jahreszeit sind auch die Fragen unsere» inneren politischen Leben» vertagt und e» sind nur Parteisragen oder Wahlvorbereitungen, welche die Zeitungen besprechen. Dennoch schweifen die Blicke der TageSprefle bereit» in da» Zukunfts reich, in den bevorstehenden parlamentarischen Herbst- und Winter-Feldzug. Heißt e» doch bereit«, der kürzlich in Berlin abgehiltene Ministerratb habe sich über die Maß- nahmen schlüssig gemacht, welche für di« mit einander wetteifernden Herbstsitzungen von Reichstag und preußischem Landtag zu treffen sein würden. Wa» darüber in die Oeffentlichkeit dringt, läßt erkennen, daß wir einem unge wöhnlich langen parlamentarischen Feldzüge enlgegengeben. der zu Ende de» Oktober beginnen und vielleicht erst im Mai sein Ende nehmen, während dieser ganzen Zeit aber durch ein stete» Abwechseln der Sitzungen de» Reichstage» und de» Abgeordnetenhauses seine doppelt« Signatur empfangen wird. Zunächst soll im Oktober der Landtag berufen und nach er folgtem Zusammentritt sofort vertagt werden, um den, Reich», tage vom Anfang November bi« zur Mitte deS December Raum für die Abwickelung seiner Arbeite» zu geben. Von da ab bi» vielleicht'zum Februar würden wieder Abgeordneten haus und Herrenhaus arbeiten, um erneut dem Reich-tage ^ Zlatz zu machen, wahrscheinlich derart, daß dann zum zweiten Male da» AuShilfSmittcl der gesetzlichen Vertagung ergriffen wird, um den Zusammenhang der Sitzung zu wahren nnd die Erledigung der socialpolitischcn Entwürfe vor Zer- tückelungen zu behüten. Aenderungen an diesen vorläufigen Bestimmungen werden im Einzelnen wobl kaum auSbleiben. aber da» allgemeine Schema für die Sitzungen besteht in der angegebenen Weise; nnd e» spricht dafür, daß Fürst BiSmarck an di« Unfall»- und KrankenversicherungSvorlaaen eine ganze Thatkrast setzen und zuvörderst dieseFragen zum Äb- ckluß bringen will, ehe er der Steuerreform wiederum praktisch näher tritt. Daneben scheint die somit sich verbreitende parlamen tarische „Wohlbeleibtheil", wenn man gewissen Andeutungen olgen darf, als eine bequeme Handhabe benutzt werden zu ollen, um da» Thema von der Vereinfachung der parlamen tarischen Maschine durch zweijährige Etatsperioden zu wieder holtem Male in Anregung zu bringen. Ander» dürste auch die Ankündigung gar nicht zu erklären sein, daß der Reichs tag im nächsten Frühjahr nickt bloS daS Budget für 1883/84, andern gleichzeitig dasjenige für 1884/85 im Voran» zu er ledigen haben würde. Al» dieser Gedanke zuerst ausgeworfen wurde, fand er nur vereinzelte Beachtung; man sagte sich, daß er verfassungswidrig sei, weil die Perfassung in ihrem Art. 69 ausdrücklich bestimmt, daß der Etat „vor Beginn deS EtatSjahreS" durch Gesetz fcslgestclll werden muß. Jetzt wird man wohlthun. sich den seltsamen Vorschlag etwa» ge nauer anzuschen, nachdem eS al» sicher zu gelten hat, daß er nicht dem bureaukratischen BequemlichkeitSwunsche irgend eine» unmaßgeblichen GcbelinrathS. sondern der bewußten Absicht de» Fürsten BiSmarck selber seinen Ursprung verdankt. Mil Gcnugthuunq haben liberale Politiker au» den jüng- len ReichStagsreben de» Fürsten BiSmarck wahrgenom- men, daß Derselbe persönlich ein entschiedener Gegner der Theorie ist, nach welcher die Auswanderung als Anzeichen und zugleich al» Ergebniß der Uebervölkerung zu gelten bat. Klar und einfach wie» der Kanzler daS Schiefe und Oberflächliche in dieser Auffassung nach, di« in einer ver alteten socialpolitischen Schule noch immer gehegt wird, un endliche Verwirrung in sonst ganz verständige« Köpfen gn- gestiftet hat und an jedem Tage und in jedem VeobacylunzS- orte durch die Thatfachen ihre Widerlegung findet. Tenn die Auswanderung erfolgt nicht aus den dicht bevölkerten und vielleicht „übervölkerten" Industriegebieten des Westens, sondern aus den menschenarmen Ackcrbaubczirken deS Ostens, wo noch Hunderttausende, ja Millionen Platz hätten, ehe die Bevölkerungsdichtigkeit die von Westfalen, von den Rheinlanden rc. erreichte. Auch über die wirth christlichen und die vielleicht noch wichtigeren psychologischen Gründe dieser Erscheinung ist sich Fürst Bismarck vollkommen klar. Die Hoffnung, die s» belebende Aussicht aus irgend etwa» Großes und Neue», auf ein Emporsteigcn auS der Niedrigkeit durch Tüchtigkeit und Glück, sic hält den Industrie- Arbeiter im Lande fest, und sie täuscht ihn nicht, da wirklich die Falle nicht selten sind, wo der einfache Arbeiter „den Marschallstab im Tornister getragen" und au» Dürftigkeit um selbstständigen gebietenden Industriellen ausgestiege» ist. für den ländlichen Arbeiter dagegen giebt eS in deu engen kreisen seiner Thätigkeit gar keinen SchicksalSumschwung; er bleibt, wa» er ist, er kann beim Beginn schon seine ganze Laufbahn übersehen, und c» treibt ihn deshalb unwiderstehlich hinaus, weil er diesem ewigen Einerlei der Niedrigkeit und Hoffnungslosigkeit entrinnen will. Wenn aber Fürst BiSmarck die Abhilfe darin sucht, daß er auch in die östlichen preußischen Provinzen die Industrie verpflanzen und damit dem Tage löhner da» jetzt über dem Weltmeer liegende Ziel der Sehnsucht unmittelbar vor Augen rücken will, so liegt dabei doch wohl der Zrrthum zu Grunde, als ob sich eine lebenskräftige Industrie künstlich dort Her vorrufen ließe, wo di« Hauptbetingunaen fehlen, und e» läßt sich viel eher fragen, ob nicht die Auswanderer durch eine planmäßige Landesverbesserung im großen Stile, durch Zer schlagung der Staatsgüter zu freien Bauerngütern, durch Ver hinderung der wachsenden Abrundung de» Großgrundbesitzes rc. nn Lande zurückbehalten werden könnten. Wa» würden über dies die Agrarier dazu sagen, wenn in dem stillen Frieden ihrer pommerschen und westprenßischen Dörfer sich plötzlich die Fabrikschlote erheben, die Arbeiter anlocken und damit die ländlichen Löhne auf ein Maß steigern würden, welche» durch den Kornzoll gar nicht wieder wett gemacht werden kann? Auf alle Fälle haben die sonderbaren Weltverbesserer, welche in Ehehindernissen und Beschränkungen der Freizügigkeit da» Heil gegen da» Gespenst der Uebervölkerung suchen, nicht da» geringste Recht, sich aus den Reichskanzler al- Gesinnung» genossen zu berufen. Die Wiener Socialdemokraten rüsten sich wieder zu einer großen Volksversammlung, die am 2. Juli in Zobel'S Sälen in der Vorstadt FünshauS stattfinden soll. Schon gegenwärtig werden unter die Arbeiter Zettel folgenden In yaltS verthrilt: „Der vierte Stand nnd da» allgemeine Wahl recht. Die Verhandlungen werden deutsch und slavisck ge führt. Männer de» vierten Stande»! Seid Euch Eurer Rechte bewußt und fordert sie. Die Einberufer." — Im Hinblick aus den Umstand, daß in der Regel alle großen so- cialdemokratischcn Volksversammlungen in Wien mit argen Skandalen verbunden, bleibt immerhin abzuwarten, ob die Behörde die Versammlung am 2. Juli erlauben wird. Wie au» Pest gemeldet wird, scheint dort die Antisemiten Liga die allerverwerflichsten Mittel auszubietrn, um Aus schreitungen gegen die jüdische Bevölkerung hcrvorzurusen Istoczy hat im Laufe der jüngsten Docke über 50.000 Exemplare seiner Zeitschrift und allerlei antisemitische Flug schriften unter da» Landvolk verbreiten lassen, da« in manchen Gegenden wegen der noch immer unaufgeklärten TiSza- ESzlarer Angrlegenheit^zcgen die Juden ohnedies schon in bedenklicher Aufregung sich befindet. Die Antisemiten-Liga ver sendet aber nickt allein auireizend« Flugschriften, sondern läßt auch da-Flackland, zumal dicUmgebung der Hauptstadt, durch Wander- agitatorcn bereisen, welche da» ungarische Landvolk geradezu zur Vertreibung der Juden auffordern. Solche Wähler sind in letzterer Zeit wiederholt in Waitzen, Czegled und IaSz-Bereny erschienen, wo sic während der Wochenmärkte Brandreden gegen die Juden hielten. In der Nähe Ia«z- BerenyS wurden sogar Juden, die mit ihren Waarcn nach Hause fahren wollten, von Bancrnrotten überfallen, arg mißhandelt und Ibcilwcisc ihrer Waarcn beraubt. Die Re gierung bemüht sich zwar, diesem Treiben Einhalt zu thun allein einerseit» läßt da» ungarische Preßgesetz der Agitation cegen die Juden großen Spielraum, während überdies die rZehvrden in den Landstädten nicht immer geneigt sind, die Anschauungen der Regierung in Pest zu theile» und ihr« Anordnungen sofort auSzusühren. Gras Tolstoi findet überall Schwierigkeiten; spricht man doch bereit» in Petersburg davon, er wolle sein Amt in die Hände eine» Anderen niederlcgen. Gegenwärtig sucht der Gras mit vergeblichem Eifer einen Polizeiminister. Es inb wenig Candidaten für diesen Posten vorhanden, und unter den wenigen scheint sich kaum einer finden zu wolle», der ehrgeizig genug wäre, einen Ministersessel zu besteige», der wie saure» Bier auSgebolen wird. Außer dem opser- reudigen Baranow. der die Stelle de» Mrnistcrgehilsen mit einem Gouverneurposten bereitwillig vertauscht hat, dürsten ich. wie auS Petersburg geineldct wird, nicht viele Leute finden, die mit dem »öthigen Selbstvertrauen an so schwierige Auf gaben heranzutrctc» wagten. Eine Zeitung nennt Peter Schuwalow, den einst allmächtigen Ches der dritten Abthei lung. al» auserkorenen Polizeiminislcr; dagegen wird berichtet, nicht Peter, sondern dessen Bruder Paul sei dazu in Aussicht genommen, und von anderer Seite hört man wieder, man habe die früheren Bedenken gegen die Person Tsckerewin'S allen lassen und Diesem da- neu zu schaffende Ministerium angeboten. Diese Lesarten sind der beste Beweis, daß über die Person deS künftigen Minister» bestimmt noch nickt cnt- chietcn ist. Al» einziger Anwärter bleibt Baranow übrig; diesem aber würde man kaum ein selbstständiges Ministerium anvcrtrauen, und somit gewinnt wieder die Ansicht Raum: da» Pollzeiministcriuin unerricktet zu lassen und Baranow zum Ches der Gendarmerie und Polizei al» Gehilfen de» Minister» deS Innern zu ernennen, welch Letzterm die Staats polizei unterstellt wird. Die Sache würde also ganz so blei ben, wie sie zu Zeiten Jgnatiew'S war. Nack Warschauer Berichten in den polnischen Lein» berger Blättern wird gegenwärtig Li t th a uen abermals von nihilistischen Scnvlingen heungesucht. In Bialystok, Grodno und Wilna haben mehrere Verhaftungen staltgcsun» den, die mit den nihilistischen Wühlern in Zusammenhang sehen sollen. Namentlich wurden in Wilna zwei Studenten auS Petersburg sestgcnommen, in deren Besitz man verdäch tige Briefschaften, geladene Revolver und vergiftete Dolche gefunden. Unter der Landbevölkerung werden Branvschristen gegen die adeligen Gutsbesitzer vertkeilt, zu deren Vertreibung von dem „Grund und Boden de« Volke«" aufgcsordert wird. Mit diesen Vorgängen steht auch die blutige Bauernrevolte ans de» Gütern de» Grase» TySrkiewicz in Verbindung, wo eine Mililair-Ablheilung einschreiten und aus die be waffneten Bauern feuern mußte, von denen acht tobt blieben, während etwa fünfzehn verwundet wurden. DaS an die französische Kammer vertheilte (von un» bereit» erwähnte) Gelb buch über die eayptiscben An gelegenheiten erregt in Paris große» Aussehen. ES stellt sich al» eine vernichtende Verurthcituna der Politik Gam betta'S dar und al- eine vollständige Rechtfertigung Frey einet'». ES beweist, daß England niemals bereit gewesen ist. mit Frankreich eine gemeinsame Politik militairischer Einmischung in Egvpten zu befolgen, oder daß Gambetta, wie er in seiner Presse vorgiebt, England hierzu gebracht haben würde, noch auch nur zu einer Regelung der egyp- tiscken Frage außerhalb der Mitwirkung der europäischen Mächte. Alle Depeschen zeigen klar, daß Gambctta'S ganze Politik und Diplomatie bezüglich der Ucbcreinsrimmung mit England nur aus Einbildung beruhte und folgerichtig ent weder zu gefährlichen Verwickelungen oder zu einer jämmer lichen Niederlage geführt haben würde. Weder die Unter redungen Gambetta'» mit dem englischen Botschafter Lyons, noch die ausweichende Zurückhaltung Lord Granville'S, noch die Mittbeilungen der französischen Botschafter bei den übrigen Großmächten, noch die warnenden Mitteilungen de» Botschastcr» Challemcl Lacour in London konnten den Starrsinn oder da» blinde naive Selbstvertrauen oder sonstige weitfliegcnde geheime Pläne Gambetta'» erschüttern. Die Enthüllungen de» Gelbbuch» sind für Gambetta nieder schmetternd, gleichzeitig bilden sie die schärfste Kritik der bös willigen, unbegründeten Anklagen und Anfeindungen, welche die gambettifiische Presse feil Monaten gegen Freycinet'S vor sichtige und friedliche Politik unterhält. Nickt nur die irische, auch die schottische Landsrage macht Gladston« viel Kopfzerbrechen. So wurde kürzlich eine Deputation de» schottischen Pächterbunde- von Mr. Gladstone, welchem Lord Roseberry und der Lord Advocat beistanden, empsangen, welche dem Premierminister eine Denkschrift bezüglich der Forderungen der schottischen Farmer um gesetzliche Behandlung der Landfrage überreichte. Mr. Barclay, Unterhaus-Mitglied für den Wahlbezirk For- sarshire, al» Wortführer der Deputation, setzte die Noth- wendigkeil entsprechender Reformen au» einander, worauf Mr Gladstone in einer längeren Rede antwortete, darin u. A benicrkend, die Regierung habe bereit« den allgemeinen Grundsatz dargelegt, daß Entschädigungen für Bcrbesse rungen gewährt werden sollen; daß die Anlage von Capital dem Pächter sichergestellt werde; daß der Grundsatz der Vertretung in der Grafschaslsverwaltunq ein ebenso begründeter ist» wie der gleiche in Bezug aus die Reicksverwaltung; daß die Uebrrtragung von Land eigenthum erleichtert werden muß; und daß da» Erbbesitzrrckt eine gründliche Erörterung durch da» Parlament erfordert. Alle- die» seien Fragen, hinsichtlich deren die Ansichten und Erklärungen der Regierung im Allgemeinen mit denen der Bittsteller übereinstimmtcn. Nur bezüglich der Erbbesitzsolge habe die Negierung al- solche sich noch nicht mit solcher Bestimmtheit ausgesprochen, und die Sache sei fernerer Erwägung Vorbehalten. Verschiedene Mitglieder der Re gierung. und unter diesem er (der Premierminister) selbst, hätten sich öffentlich darüber ausgesprochen, daß der Grundsatz der Erbbesitzsolge ein ungesunder und nachtheiliger für alle dabei betheiligten Parteien ist. obschon die Regierung im Ganzen noch keine Gelegenheit gehabt hat, die Sach« in Berathung zu ziehen und zur Schlußrrise zu bringen. Wie au» Konstantinopel gemeldet wird, sind den be Huf» Umgestaltung der türkischen Armee gewonnenen deutschen Ofsicieren bereit» ihre militairischen Grade ,»gelbeilt worden. Oberst Kaeler ist zum Brigadegeneral, die drei ankeren Osficiere sind zu Obersten ernannt worden Bei dieser Gelegenheit verlieb der Sultan dem neuen Liva (Brigadegcneral) de» OSmaniS-Orden 2. Classe. den neuen Obersten die gleiche Auszeichnung 3. Classe. Di« deutschen Ofsicier« haben, obgleich sie ihre Commando» noch nicht an- tratrn, ihren bisherigen Aufenthalt in Konstantinopcl in großem Maße auSgenutzt. um sich über die Aus dehnung und die Schwierigkeiten der ihrer harrenden Ausgabe Rechenschaft zu geben. Sie waren daher schon in der Lage, den NcugcstaltungS-Entwurf, welchen sie ungesäumt der kaiserlichen Genehmigung vorlegen werben, in seinen allgemeinen Zügen zu entwerfen. Der iilan der deutschen Osficiere geht dahin, Muster-Com pagnien, -Eöcadronen und -Batterien zu schaffen, welche von türkischen Ofsicieren, aber unter der Ueberwachung und den unausgesetzten Rathschlägen der deutschen Osficiere. befehligt werden sollen. Diesen Muster-Compagnien sollen ferner deutsche Unterossiciere einverleibt werden, welche durch ihr Beispiel dazu beitragen sollen, die Grundlage eine» CorpS von türkischen Unterossscieren, da» gegenwärtig nur dem Namen nach besteht, zu schaffen. Alle CadreS-Osficiere sollen allmälig für einige Zeit den Muster-Compagnien zugetheilt werden und die erforderliche Ausbildung erhalten. Die deutsche Mission hält eS für unzweckmäßig, da» in der türki- cben Armee gegenwärtig zu Kraft bessehenve französische Reglement abzuändern, da ihr Ziel hauptsächlich darin be seht. bei den türkischen Soldaten und Ofsicieren ein« stramme Zucht einzusühren. Sobald die Muster-Compagnien, -Es- cadroncn und «Batterien den angestrebten Grad der Aus bildung erlangt haben werden, sollen au» denselben Muster- Bataillone und schließlich Muster-Regimenter gebildet werden, eine Ausgabe, welche mindesten» drei Jahre beanspruchen wird. Da» türkische Heer wird dann über ein gehörig aeschulte» türkllche Heer wird dann über ein gehörig geschutte» und der praktischen Truppenleituna kundige» Osslciercorp» versügen. Wenn e» der deutschen Mission überdies gelingt, da» System der Mobilisation und da» Intendanturwesen auf eine minder mangelhafte Grundlage, al« die gegenwärtig« ist, u stellen, dann wirb sie behaupten dürfen, ihr Ziel voll- kündig erreicht zu haben. Bedauerlicherweise wird die Geld« - rage allen Reformen dieser Art noch lange al« unüberwind liche» Hinderniß im Wege stehen und ebenso wird dem bösen Willen Jener, welche di« im Gefolge diese» Nebel» ziehenden Mißbräuche für ihre Interessen ausnützen, so lange schwer beizukommen sein, al« die Hiis-quellen de» Krieg»dudget» in o schlechtem Gleichgewichte stehen wie bisher. Wenn der Telegraph nicht so verlogen wäre, so vir« Alexandria „rnylg", der srievliche Zustand wiedtr her gestellt und die au»wärtiaen Geschwader würden di« ««HP» tischen Gewässer vorau»sichllich bald wieder verlassen. Nun» wir nehmen auch diese Meldung zur Kenatniß. Weiter heißt e» beule. derKhedive habe einen offenen Brief an Rag heb Pascha gerichtet, in welchem er die massenhafte Auswande rung der Europäer beklagt, durch welche dem Handel und Wandel Egypten» ein groger Schaden zugrfügt werde. Der Khcdive befiehlt, di« strengste Untersuchung rur Ermittelung der Urheber der Ausschreitungen vom 11 Juni anzustellen. Dieselben sollen einer „exemplarischen" Strafe unterworfen werden. Man wird abwarten müssen, wa- für „Exempel" Seine vicckönigliche Hoheit statuiren, d. h. wa» für Strafen zu verhängen Ara bi Pascha den Mufti» erlauben wird. Inzwischen aber dauert der allgemeine Schrecken fort. Ein Telegramm au» Alexandrien meldet noch, daß die vier Transportschiffe „Junon", „CorrSze". „Sarthe" und „Ara" von den „blersugorivs wuritlwo»" und der „Oompagnis IVaissiuet" mit 3700 Emigranten an Bord sich aus dem Weg« nach Marseille befinden. — Allen Anzeichen nach ist die Lage noch sehr ernst. Die neuen Minister suchen den Khedive zu bewegen, wieder nach Kairo zurück zukehren, allein Trwsik fühlt sich im NaS-rl-Tin, dessen Eingang von den europäischen Geschützen bestrichen werden kann, sicherer al» in seiner Residenz und beharrt aus seiner Weigerung. Man überzeugt sich mehr und mehr, daß er sowohl wieDerwischPascha sich geradezu nach Alexandrien gerettet hat. Unter diesen Umständen muß eS überraschen, daß Derwisck aus de» Sultan» Beseht noch immer Alle» ausbicten soll, Arabi Pascha zu bewegen, nach Konstantinopcl zu gehen. Derwisch Pascha hat sein Ziel wiederholt unumwunden ein- gestanden; er möchte die Oberleitung der Armee Arabi entreißen und selbst in die Hand nehmen. Er hat Die» aber bi» jetzt nickt gewagt; im Gegenthrit. er hat soeben Mitwirken müssen, ein Cabmet ru Stande zu bringen, in welchem Arabi KriegSininister ist. Diese Thatfachen zeigen nun doch seine Ohnmacht. Jetzt soll er Arabi i»S Netz locken: er wird ihm von der Gunst de» Sultan», von Orden und Titeln erzählen und ihm eine goldige Zukunft an die Wand malen; aber Arabi müßt« ein Narr sein, wenn er sich nicht erinnerte, wie oft die Europäer verlangt haben, daß er in Konstantinopel zur Rechenschaft gezogen werden müsse. Je länger die Dictatilr de» abenteuerlichen General» dauert, um so fetter schließt sich seine Partei zusammen und um so weniger darf der Sulla» ener gische Schritte wagen, welche den Gegensatz zwischen den Türken und Arabern verticsen könnte». Man muß nicht ver gessen. daß da- arabische Khalisat der Zukunft wie eine drobende Gewitterwolke am tückischen Himmel hängt. Ein Zufall kann möglichcriveise genügen, »in rme gewaltige Be wegung de« arabischen Geistes zu entfesseln, welche dem Herr scher aller Gläubigen weile Gebiete entfremdet. Ebendeshalb muß der Sultan den Mann, z» dem jetzt die Araber als zu ihrem nationalen Helden ausblickcn, niit großer Vorsicht behandeln. Man fürchtet, angesichts der starren Haltung der Pforte der Conserenz gegenüber, in türkensrrundlichen Kreisen vielfach, daß der Sultan, der feine Figuren bi» jetzt meister haft gesetzt hat. das Spiel zu weit aus die Spitze treibt. Die Entschädigung unschuldig Angeklagter und verurtheitter. Die wichtige Frage, ob unschuldig Angeklagten und Vcr» urtheilten für die durch die» Strafverfahren erlittenen Nach- theite eine Entschädigung von Staat» wegen zuzubilligen sei. wird gegenwärtig vielfach besprochen. Bekanntlich haben die Abgeordneten Philipps und Lenzmann im Reichstage einen Antrag eingcbrackt, die Slrasproceßordnung durch Be stimmungen über Entschädigung sreigesprochener oder außer Verfolgung gesetzter Beschuldigter zu ergänzen. Nicht weniger al» dreimal bat sich der deutsche Iuristentag mit dieser Frage beschäftigt. In Hannover 1873 und in Nürnberg >875 kam e» zu keinem Ergebniß, da die gestellten Anträge rin« Stimmenmehrheit nickt erlangen konnten. Erst 1876 in Salzburg wurde aus Antrag de» Wiener ReckttSlebrcrS Pros. l)r. Jag ne», der auch neuerding» mit einem Vortrage übe» diese Frag« (abgctruckt in der Äugsb. „Allgem. Ztg." vom
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