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532S ziehung so nützliche Wandern und die bewiesene Befähigung de- MeisterS höchst beachtungSwerth erscheine, und eben so unterschätzte man auch keineswegs den Werth der korporativen Unterstützungen und der altherkömmlichen strengen Sittenpolizei, aber — die Schat tenseiten überwogen die Lichtseiten. Zu jenen gehörten auch die verkehrten Ansichten von der Bestimmung des Lehrlings zum Dienstboten; die vielen moralischen Nachtheile deS WandernS; die oft widersinnigen, zwecklosen Mißbräuche bei Erwerbung des Mei- sterrechts, welche zum Trotz aller gesetzlichen Verordnungen dem Unbemittelten es oft geradezu unmöglich machten, den höchsten InnungSgrad zu erreichen, so wie endlich die Unzahl der seltsam sten, nutzlosesten Handwerksunsitten. Mit mahnendem Ernste wies man darauf hin, daß die neue Zeit eine Todfeindin aller Mono pole sei und deshalb gegen ein solches angekämpft werden müsse, das, wie hier, grell gegenüber den Forderungen stände, die das vernunftgemäß umgewandelte GewerbSwesen an eine, auf ganz anderen Principien fußende Zeit erhoben habe. Die Zünfte wehrten sich gegen alle diese Angriffe mit echt mittelalterlicher Zähigkeit. Sie verwiesen auf ihre vielhundert jährigen halbvermoderten Freibriefe, sie warnten vor einer Benach- theiligung des PublicumS, indem mit dem zunftgemäßen Betrieb des Handwerks auch die kunftgemäße Arbeit aufhören und die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit deS Fabrikbetriebs elntreten würde, und verkündeten endlich die Entstehung eines Proletariats, das in seiner größten Noth zu Verbrechen greifen und schließlich sogar seine Wuth gegen die gewerblichen Neuerungen richten dürfte. Der lange und heftig geführte Streit war ein Ringen auf Leben und Tod zwischen Zünften und Gewerbefreiheit, bis endlich die altehrwürdigen morschen Genossenschaften zu unterliegen begannen und man mit der Einführung der neuen Gestaltung den Anfang machte, welche jedem Staatsangehörigen freistellt, seinen Lebens unterhalt mit beliebiger, an sich nicht verbotener, Arbeit zu er-' werben. Ein großer Theil der älteren Generation unseres Handwerker standes wird sich nimmer mit der Gewerbefreiheit befreunden, selbst wenn sie die vielen segensreichen Folgen derselben erkennen sollte. Die alten ehrbaren Meister sind in eine neue Zeit hinein- gerissm worden, die sie nicht begreifen, die sie Haffen und ver achten, weil in ihr fast Alles, was ihnen ehrwürdig und heilig war, zusammenstürzt. Des jungen aufstrebenden Hand werkerstandes Aufgabe ist es demnach, den sprossenden FreiheitS- baum zu pflegen und sich zu der Höhe, zu dem Ansehen aufzu schwingen, welches dem wackern Arbeiter gebührt. Wenn in früherer Zeit ein Vater mehrere Söhne hatte, so wurden die jenigen, welche geistige Regsamkeit zeigten, gewöhnlich zum Stu dium oder auch für den Kaufmannsstand, die Kunst, oder doch mindestens zum Schreiber bestimmt; die beschränkteren Köpfe aber ließ man ein Handwerk lernen, denn nach damaligen Begriffen genügten dazu gesunde Hände und Augen. Diese jungen Leute glaubten nun selbst, daß dem Gewerbtreibenden geistige Regsam keit und vornehmes Wissen, wie sie es nannten, gar nicht nöthig sei, sondern die handliche Nachahmung dessen, was schon viele Generationen hindurch in bestimmter Form geschaffen worden war, vollkommen hinreiche, um einen tüchtigen Meister zu bilden. Wenn man jetzt im Allgemeinen ein reges, munteres Streben nach Fortbildung bemerkt, so liegt der Grund nicht nur in der intelligenteren Erziehung unserer Jugend, sondern auch in der Er kennung, daß Stillstand oder wohl gar Rückschritt jetzt nicht mehr möglich sind und nur angemessenes Vorwärtsschreiten zu einem zufriedenstellenden Ziele zu führen vermag. Wer erinnert sich nicht mancher Handwerkerrechnung, die zu entziffern selbst dem gewitzigt sten Grübler unmöglich gewesen sein würde. Ein solcher Zunft genosse konnte allerdings ein recht braver, praktischer Meister sein, aber sich fortzudilden im Handwerk, da- war ihm unmöglich. Er blieb eben auf dem Standpunkte, welchen er schon bei seiner Los sprechung zum Gesellen eingenommen hatte, und wer ihm von etwas Besserem sprach, der konnte, zumal wenn er noch jung war, sicherlich auf harte Worte rechnen, unter denen die Au-drück, Nase» Weisheit und unnütze Vielwissern noch nicht die gröbstrn waren. — Daß eS so nicht bleiben konnte, lag auf der Hand. Als Zeichen der Erkenntniß einer andern Zeit finden wir die Entstehung unserer zahlreichen Gewerbschulen, Unterrichtsanstalten, welche die Mittheilung und Verbreitung solcher Kenntnisse und Fertigkeiten beabsichtigen, durch deren Hülfe ein zeitgemäßer und höherer Betrieb von Künsten und Handwerken erzielt werden soll Die außerordentlichen Fortschritte, welche neuerdings durch die Naturwissenschaften herdeigeführt wurden, veranlaßten einen viel zu schnellen Umschwung aller Jndustrieverhältniffe, als daß die Nothwendigkeit, der G.werbsindustrie mit wissenschaftlichen Kennt nissen und Fertigkeiten unter die Arme zu greifen, sich länger hätte verkennen lassen. England und Frankreich gebührt der Ruhm, die gewerblichen UnterrichtSanstalten zuerst in wahrhaft großartiger Weise geschaffen zu haben. DaS noch jetzt vorzüglichste, unübertroffene Institut dieser Art, welche- wir etwa- näher betrachten wollen, befindet sich ebenfalls in Frankreich und zwar in Lyon. Dasselbe wurde 180Z durch einm in Ostindien reich gewordenen General, Namen- Martin, als da- erste seiner Art gestiftet und hatte den Zweck, Kinder unbemittelter Aeltern durch freien Unterricht zu tüchtigen GewerbSleuten heranzubilden. Die Leols 1» LLarliniör« ist heute noch ein Musterinstitut und wahrhaft bewundern-werth die Groß artigkeit der Einrichtung und des Lehrplan-, so wie die Vereinigung deS Unterricht-, die Eigenthümlichkeit der Methoden und ihre Er folge. Gegenwärtig enthält die Leole 1» blLrliaiere sechshundert Schüler von elf bis vierzehn Jahren, die nach einer Aufnahme prüfung, welche nur die einfachsten Elemenlarkenntnisse beansprucht, in Arithmetik, Algebra, Logarithmenrechnung, Geometrie, Stereo metrie, ebener Trigonometrie, Mechanik, Physik, Chemie mit be sonderer Berücksichtigung der Färberei, FabrikationSlehre der Stoffe, perspektivischem Zeichnen, Maschinenzeichnen, Modelliren und Her stellung von GypSformen unterrichtet werden. In den vorhan denen Werkstätten finden die jungm Leute Gelegenheit, unter der Aufsicht von Fachmännern sich in den Handgriffen der Arbeiten deS Schlossers, Drechsler- und Tischler- u. a. m. zu üben und ein gewaltiger Saal enthält eine Sammlung aller gewerblichen und dahin zielenden wissenschaftlichen Werkzeuge, Modelle und Maschinen. Der UnterrlchtScursuS in dieser Anstalt währt ins gemein zwei Jahre, doch ist unter Umständen der Aufenthalt auch noch länger gestattet. Der Unterricht in der Chemie und Fabri. kationStheorie bildet den Schluß. Wir verdanken eine genauere Darstellung der Einrichtung dieses trefflichen Institut- dem Oberreallehrer Herrn Grüner in Stutt gart, welcher die Redaktion de- GewerbeblatteS au- Würtemberg die Bemerkung beifügt, daß die Lvole 1a Llarlmiöre, welche alle- da- leistet, waS die Industriellen von den niederen Gewerbschulen so vielfach verlangen, nach Ansicht vieler Schulmänner als unüber troffen dafteht. Die Städte unsere- großen wohlhabenden Vater landes aber werden wohl größtentheils in der Lage sein, dem niedern gewerblichen Unterricht ebenfalls ein Opfer zu bringen und wenigstens ähnliche Institute in- Leben zu rufen, welche, natür lich mit tüchtigen Lehrern besetzt, gewiß die segen-reichsten Früchte tragen würden. Einen ganz wesentlichen Unterschied gegen andere Anstalten gleichen Zwecks bildet in der Ma tiniere die Behandlung des Zeichenunterricht-, sowie auch ow eigenthümliche Lehrmethode für die meisten anderen Fächer. Der genannte Berichterstatter stand in dem großen mit Oberlicht vers.henen Aeichensaale. Die Schüler waren in eine Anzahl von Kreisen, mit je einem Lehrer, getheilt, und in der Mitte jede- Kreise- befand sich da- erhaben ausgestellte Modell, welche- jeder Einzelne zu zeichnen hatte. Nach den Fähigkeiten und Leistungen der Zöglinge zerfielen auch die Aufgaben in leichtere oder schwerere, und während die Anfänger auf Schiefertafeln arbeiteten, benutzten die weiter Fortgeschrittenen Papier und die Besseren auch Lusche. Lineal und Zirkel durften, selbst bei den complicirtesten Modellen, nicht gebraucht werden; man erkannte aber die Zweckmäßigkeit diese- Verbote- recht deutlich au- der Reinheit und Genauigkeit, mit welcher be sonder- auch die geradlinige und kreisförmige Figur au-geführt wurde. Die höheren Classen übten sich an vollständigen, durch Vermächtniß in den Besitz der Anstalt gelangten Maschinen, und von ihnen wurde, außer der praktischen Anwendung der Perspec tive, auch schon die Schattenconstruction praktisch angewendrt. Die Schüler erhalten jeden Tag, mit Ausnahme de- Donnerstags, N/» Stunde Zeichenunterricht, aber die Fortschritte sind bei dieser Methode auch wahrhaft bewundern-werth. Von gleicher Bedeutung für den Unterricht ist die in der Marliniere übliche, ganz ungewöhnliche allgemeine Lehrmethode. Der Unterrichtsstoff für eine Lektion wird vom Lehrer in kleinere Abtheilungen und Paragraphen eingetheilt, welche er einzeln vor trägt oder genügend erläutert. Hat er eine Abtheilung beendigt, so wird als Resume an die ganze Classe eine Frage nach der an dern gerichtet, und die Antwort von jedem Schüler auf die mir einem Handgriff versehene Schiefertafel geschrieben. Nach einem gegebenen Zeichen hält Jeder die Tafel empor, und der Lehrer, unterstützt von einem Gehülfen, überschaut nun im Augenblick, was richtig oder unrichtig ist. Wer falsch antworte, erhält darauf die nöthigen Erläuterungm und man stellt ihm wohl auch noch weitere Fragen, bis endlich der Schüler da- Richtige erfaßt hat. Beim Unterricht in der Mathematik, Physik, Mechanik und Chemie, sowie theilweise auch beim Sprachunterricht und selbst im chemischen Laboratorium, findet die Einrichtung statt, daß die Antworten auf kleine, zum Einsammeln bestimmte Täfelchen ge schrieben werden. Nach der Einsammlung legt man sie auf einen neben dem Katheder befindlichen, etwa- schiefen Tisch in Fächer, so daß die Antworten auf dieselbe Frage in eine Reihe kommen. Bei der praktischen Chemie hat jeder Schüler, auf einem beson- dern Gestell, vor sich die gleiche Einrichtung, mit den gleichen Werkzeugen, Stoffen und Reagentien. Sobald der Lehrer ein bestimmte- Experiment angegeben und die Vorrichtungen dazu ge zeigt, bestimmt er die Quantität d?r zu mischenden Stoffe und die Schüler führm nun dieselbm im eigenen kleinen Laboratorium vor ihm aus. — BemerkenSwerth ist noch, daß die vier Wände in dm vier Bogengängen, welche den viereckigen Hof einschließen, mit den zum praktischen Gebrauch wichtigere« Formeln au- der *