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Einleitung. schwer auch, und zwar mit Recht, die Aufgabe des Historikers hin gestellt wird, seine eigene Zeit, deren Sohn er ist, zu beurtheilen, so halte ich doch die Behauptung, so vielfach sie auch verkannt und geleugnet wird, für kaum zweifelhaft, daß wir in einem Epigonenzeitalter leben, in einer Zeit schwindender Originalität und Prodüktionsfähigkeit. Es hieße nichts weniger, als einen vollständigen Ueberblick über die Kulturentwickelung der letzten drei bis vier Decennien geben, wollte man den vollen Beweis zu dieser Behauptung liefern, und selbst wenn dies geschähe, dürfte eine evidente Beweisführung dem gegenüber nicht möglich sein, der sich in wissenschaftlicher und ästhetischer Beziehung auf einen verschiedenen prin zipiellen Standpunkt stellen würde; deßhalb begnügen wir uns hier, bei dem Leser zunächst die Anerkennung dieser Thatsache vorauszusetzen, welche ohnedies weniger kritisirt als anerkannt sein will. Der Schwerpunkt unseres Kulturlebens ruht noch immer 50—60 Jahre hinter uns. In den letzten Decennien des vorigen und den ersten dieses Jahrhunderts, also ungefähr in den 60 Jahren von 1760—1820 lebten, dachten, dichteten und handelten die Männer, in deren Gedankenkreisen sich unser Kulturleben seither bewegt hat und sich wahrscheinlich noch Jahr hunderte lang bewegen wird. Damals wurden in Literatur und Poesie die Ideale geschaffen, denen wir noch heute huldigen, vor denen auch unsere Enkel noch in dankbarer Verehrung sich beugen werden. Damals stellte die Wissenschaft und die Philosophie diejenigen Grundsätze auf, in deren Bahnen sie sich noch heute bewegen. Es ist demgemäß nur natürlich und selbstverständlich, daß auch unsere Blicke sich immer und immer wieder auf jenes, in der wahrsten Bedeutung des Wortes, klassische Zeitalter hinlenken, es ist ebenso natürlich, daß dies um so intensiver und sehn süchtiger geschieht, je größer der Kontrast zwischen dem, was jene Zeit anbahnte und dem, was unsere Generation erreicht hat, sich Herausstellen wird. Und hier bietet sich uns allerdings in den verschiedenen Gebieten unseres geistigen Lebens ein sehr verschiedenartiges Bild. Während wir in der Wissenschaft, die von einem W. und A. v. Humboldt, Winckelmann, F. A. Wolf, F. A. Schlegel, I. Grimm u. v. A. mühsam angcbahnten