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16 ein Staat, als eine Summe menschlicher, wirtender und leidender Kräfte? Auch fordert jede Wirkung eine gleich starke Gegenwirkung, jedes Zeugen ein gleich thätiges Empfangen. Die Gegenwart muß daher schon auf die Zukunft vorbereitet sein. Darum wirkt der Zufall so mächtig. Die Gegen- wart reißt da die Zukunft au sich. Wo diese ihr noch fremd ist, da ist Alles todt und kalt. So, wo Absicht heroorbringen will. Die Vernunft hat wohl Fähigkeit, vorhandenen Stoff zu bilden, aber nicht Kraft, neuen zu erzeugen. Diese Kraft ruht allein im Wesen der Dinge: diese wirken; die wahrhaft weise Vernunft reizt sie nur zur Thätigkeit und sucht sie zu lenken. Hierbei bleibt sie bescheiden stehen. StaatSverfassungen lassen sich nicht auf Menschen, wie Schößlinge auf Bäume, pfropfen. Wo Zeit und Natur nicht vorgearbeitet haben, da ists, als bindet man Blüthen mit Fäden au. Die erste Mittagssonne versengt sie. Jndeß entsteht hier noch immer die Frage: ob die französische Nation nicht hinlänglich vorbereitet ist, die neue Staatsverfassung aufzunehmen? Allein, für eine, nach bloßen Grundsätzen der Vernunft, syste matisch entworfene Staatsverfassnng kann nie eine Nation reif genug sein. Die Vernunft verlangt ein vereintes und verhältniß- mäßiges Wirken aller Kräfte. Außer dem Grade der Vollkommenheit jeder einzelnen hat sie noch die Festigkeit ihrer Vereinigung und das richtigste Verhältnis; einer jeden zu den übrigen vor Augen. Wenn aber auf der einen Seite die Vernunft nur durch das vielseitigste Wirken befriedigt wird, so ist auf der andern das Loos der Menschheit Einseitigkeit. Zeder Augenblick übt nur Eine Kraft in Einer Art der Aeußerung. Häufige Wiederholung geht in Gewohnheit über, und diese Eine Aeußerung dieser Einen Kraft wird nun, mehr oder minder, länger oder kürzer, Charakter. Wie der Mensch auch ringen mag, die einzelne, in jedem Moment wirkende Kraft durch die Mitwirkung aller übrigen modifiziren zu lassen; so erreicht er es nie: und was er der Einseitigkeit abgewinnt, das verliert er an Kraft. Wer sich auf mehrere Gegenstände verbreitet, wirkt schwächer auf alle. So stehen Kraft und Bildung ewig in umgekehrtem Verhältnis;. Der Weise verfolgt keine ganz; jede ist ihm zu lieb, sie ganz der andern zu opfern. So ist auch in dem höchsten Ideale menschlicher Natur, das die glühende Phantasie sich zu bilden vermag, jeder Augenblick der Gegenwart ein schöner, aber nur Eine Blüthe. Den Kranz vermag nur das Gedächtniß zu flechten, das die Vergangenheit mit der Gegen wart verknüpft. Wie mit dem einzelnen Menschen, so mit ganzen Nationen. Sie nehmen auf Einmal nur Einen Gang. Daher ihre Verschiedenheiten unter einander; daher ihre Verschiedenheiten in ihnen selbst, in verschiedenen Epochen. Was thut nun der weise Gesetzgeber? Er studiert die gegen wärtige Richtung; dann, je nachdem er sie findet, befördert er sie oder strebt ihr entgegen; so erhält sie eine andere Modifikation, und diese wieder eine andere, und so fort. So begnügt er sich, sie dem Ziele der Voll kommenheit zu nähern. — Was aber muß entstehen, wenn sic auf einmal nach dem Plane der bloßen Vernunft, nach dem Ideale arbeiten, wenn sie nicht mehr genügsam Eine Trefflichkeit verfolgen, sondern zu gleicher Zeit nach allen ringen soll? Schlaffheit und ltnthätigkeit! Alles, was wir mit Wärme und Enthusiasmus ergreifen, ist eine Art der Liebe. Wenn nun nicht Ein Ideal mehr die Seele füllt, so ist da Kälte, wo ehemals