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Wille des Menschen findet seine Bestimmung in Umständen, die längst vor seiner Geburt, ja vor dem Werden der Nation, der er angehört, unabänderlich angelegt waren. Aus jedem einzelnen Moment die ganze Reihe der Vergangenheit, und selbst der Zukunft berechnen zu können, scheint nicht in sich, sondern wegen mangelnder Kenntniß einer Menge von Zwischengliedern unmöglich. Allein cs ist längst erkannt, daß das ausschlicßende Verfolgen dieses Weges gerade abführen würde von der Einsicht in die wahrhaft schaffenden Kräfte, daß in jedem Wirken, bei dem Lebendiges im Spiele ist, gerade das Hauptclement sich aller Berechnung entzieht, und daß jenes scheinbar mechanische Bestimmen doch ursprünglich frei wirkenden Impulsen gehorcht. Es muß also, neben dem mechanischen Bestimmen einer Begebenheit durch die andere, mehr auf das eigenthümliche Wesen der Kräfte gesehen werden, und hier ist die erste Stufe ihr physiologisches Wirken. Alle lebendigen Kräfte, der Mensch wie die Pflanze, die Nationen wie das Individuum, das Menschengeschlecht wie die einzelnen Völker, ja selbst die Erzeugnisse des Geistes, sowie sie auf einem, in einer gewissen Folge fortgesetzten Wirken beruhen, wie Literatur, Kunst, Sitten, die äußere Form der bürgerlichen Gesellschaft, haben Beschaffenheiten, Entwickelungen, Gesetze mit einander gemein. So das stufenweise Erreichen eines Gipfel punktes, und das nllmäligc Hernbsinken davon, den Ucbergang von ge wissen Vollkommenheiten zu gewissen Ausartungen u. s. f. Unleugbar liegt hierin eine Menge geschichtlicher Aufschlüsse, aber sichtbar wird auch hier durch nicht das schaffende Prinzip selbst, sondern nur eine Form erkannt, der es sich beugen muß, wo es nicht an ihr einen erhebenden und be flügelnden Träger findet. Noch weniger zu berechnen in seinem Gange, und nicht sowohl er kennbaren ^Gesetzen unterworfen, als nur in gewisse Analogien zu fassen, sind die psychologischen Kräfte der mannigfaltig in einander greifenden menschlichen Fähigkeiten, Empfindungen, Neigungen und Leidenschaften. Als die nächsten Triebfedern der Handlungen, und die unmittelbarsten Ursachen der daraus entspringenden Ereignisse, beschäftigen sie den Ge schichtschreiber vorzugsweise und werden am häufigsten zur Erklärung der Begebenheiten gebraucht. Aber diese Ansicht gerade erfordert die meiste Behutsamkeit. Sie ist am wenigsten welthistorisch, würdigt die Tragödie der Weltgeschichte zum Drama des Alltaglebcns herab, verführt zu leicht, die einzelne Begebenheit aus dem Zusammenhänge des Ganzen herauszu reißen und an die Stelle des Weltschicksals ein kleinliches Getreibe persön licher Beweggründe zu setzen. Alles wird aus dem von ihr ausgehenden Wege in Las Individuum gelegt und das Individuum doch nicht in seiner Einheit und Tiefe, seinem eigentlichen Wesen erkannt. Denn dies läßt sich nicht so spalten, analysiren, nach Erfahrungen beurthcilen, die, von Vielen genommen, auf Viele'passen sollen. Seine eigenthümliche Kraft geht alle menschlichen Empfindungen und Leidenschaften durch, drückt aber allen ihren Stempel und ihren Charakter auf. Man könnte den Versuch machen, nach diesen drei hier nngedcutetcn Ansichten die Geschichtschreiber zu klassificiren, aber die Charakteristik der wahrhaft genialischen unter ihnen würde durch keine, ja nicht durch alle zusammengenommen erschöpft. Denn diese Ansichten selbst erschöpfen auch nicht die Ursachen des Zusammenhanges der Begebenheiten, und die Grund-