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Die Nachahmung der organischen Gestalt kann auf einem doppelten Wege geschehen; durch unmittelbares Nachbilden der äußeren Umrisse, so genau Auge und Hand es vermögen, oder von innen heraus, durch vorher gängiges Studium der Art, wie die äußeren Umrisse aus dem Begriffe und der Form entstehen, durch die Abstrahirung ihrer Verhältnisse, durch eine Arbeit, vermittelst welcher die Gestalt erst ganz anders, als der un künstlerische Blick sie wahrnimmt, erkannt, dann von der Einbildungskraft dergestalt aufs Neue geboren wird, daß sie, neben der buchstäblichen Ueber- einstimmung mit der Natur, noch eine andere, höhere Wahrheit in sich trägt. Denn der größte Vorzug des Kunstwerkes ist, die in der wirk lichen Erscheinung verdunkelte, innere Wahrheit der Gestalten offenbar zu machen. Die beiden eben genannten Wege sind durch alle Zeiten und alle Gattungen hindurch die Kriterien der falschen und echten Kunst. Es giebt zwei, der Zeit und der Lage nach, sehr weit von einander entfernte Völker, die aber beide für uns Anfangspunkte der Kultur bezeichnen, die Egppter und Mexikaner, an welchen dieser Unterschied überaus sichtbar ist. Man hat, und mit Recht, mehrfache Ähnlichkeiten zwischen beiden gezeigt, beide mußten über die furchtbare Klippe aller Kunst hinweg, daß sie das Bild zum Schriftzeichen gebrauchten, und in den Zeichnungen der letzteren findet sich auch nicht Eine richtige Ansicht der Gestalt, da bei den ersteren in der unbedeutendsten Hieroglyphe Stil ist.') Sehr natürlich. In den mexikanischen Zeichnungen ist kaum eine Spur von Erahnung innerer Form oder Kenntniß organischen Baues, Alles geht also aus Nachahmung der äußeren Gestalt hinaus. Nun aber muß der Versuch des Verfolgens der äußeren Umrisse der unvollkommenen Kunst gänzlich mißlingen, und alsdann zur Verzerrung führen, da hingegen daS Aufsuchen des Verhält nisses und Ebenmaßes auch ans der Unbehülflichkeit der Hand und der Werkzeuge hervorleuchtet. Wenn man den Umriß der Gestalt von innen heraus verstehen will, muß man auf die Form überhaupt, und aus das Wesen des Organismus zurückgchcn, also auf Mathematik und Naturkunde. Diese giebt den Be griff, jene die Idee der Gestalt. Zu Beidem muß, als Drittes, Ver- ') Es kam hier nur darauf an, das über die Kunst Gesagte mit einem Beispiele zu belegen; ich bin daher weit entfernt, hierdurch ein entscheidendes Urtheil über die Mexikaner zu fällen. Es giebt sogar Bildwerke von ihnen, wie der von meinem Bruder mitgebrachte Kopf im hiesigen königlichen Museum, welche ein günstigeres Zeugniß über ihre Kunstfertigkeit fällen lassen. Wenn man bedenkt, wie wenig hoch hinauf unsere Kenntniß der Mexikaner geht, und welches geringe Alter die Gemälde haben, die wir kennen, so wäre es sehr ge wagt, ihre Kunst nach demjenigen zu beurtheilen, was sehr leicht aus den Zeiten ihres äußersten Verfalls herrühren kann. Daß Ausgeburten der Kunst sogar neben ihrer höchsten Ausbildung bestehen können, ist mir ungemein auffallend an kleinen bronzenen Figuren gewesen, die man in Sardinien findet, denen man wohl ansieht, daß sic von Griechen oder Römern herstammen, die aber in der Unrichtigkeit der Verhältnisse den mexikanischen nichts nachgeben. Eine Samm lung dieser Art findet sich im Collegium Romanum in Rom. Es ist auch aus anderen Gründen wahrscheinlich, daß die Mexikaner in einer früheren Zeit und in einer anderen Gegend auf einer viel höheren Stufe der Bildung standen; selbst die historischen, in den Werken meines Bruders sorgfältig gesammelten und mit einander verglichenen Spuren ihrer Wanderungen deuten darauf hin.