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Das Element, worin sich die Geschichte bewegt, ist der Sinn für die Wirklichkeit, und in ihm liegen das Gefühl der Flüchtigkeit des Daseins in der Zeit, und der Abhängigkeit von vorhergegangenen und begleitenden Ursachen, dagegen das Bewußtsein der innern geistigen Freiheit, und das Erkennen der Vernunft, daß die Wirklichkeit, ihrer scheinbaren Zufälligkeit ungeachtet, dennoch durch innere Nothwendigkeit gebunden ist. Wenn man im Geist auch nur Ein Menschenleben durchläuft, wird man von diesen verschiedenen Momenten, durch welche die Geschichte anregt und fesselt, ergriffen, und der Geschichtschreiber muß, um die Aufgabe seines Geschäftes zu lösen, die Begebenheiten so zusammenstellen, daß sie das Gemüth auf ähnliche Weise, als die Wirklichkeit selbst, bewegen. Von dieser Seite ist die Geschichte dem handelnden Leben verwandt. Sie dient nicht sowohl durch einzelne Beispiele des zu Befolgenden, oder zu Verhütenden, die oft irre führen, und selten belehren. Ihr wahrer und unermeßlicher Nutzen ist es, mehr durch die Form, die an den Be gebenheiten hängt, als durch sie selbst, den Sinn für die Behandlung der Wirklichkeit zu beleben und zu läutern; zu verhindern, daß er nicht in das Gebiet bloßer Ideen übcrschweife, und ihn doch durch Ideen zu re gieren; auf dieser schmalen Mittelbahn aber dem Gemüth gegenwärtig zu erhalten, daß es kein andres erfolgreiches Eingreifen in den Drang der Begebenheiten giebt, als mit Hellem Blick das Wahre in der jedesmal herrschenden Jdeenrichtung zu erkennen, und sich mit festem Sinu daran anzuschließen. Diese innere Wirkung muß die Geschichte immer Hervorbringen, was auch ihr Gegenstand sein möge, ob sie ein zusammenhängendes Gewebe von Begebenheiten, oder eine einzelne erzähle. Der Geschichtschreiber, der dieses Namens würdig ist, muß jede Begebenheit als Theil eines Ganzen, oder, was dasselbe ist, an jeder die Form der Geschichte überhaupt dar- stellcn. Dies führt auf die genauere Entwicklung des Begriffs der von ihm geforderten Darstellung. Das Gewebe der Begebenheiten liegt in schein barer Verwirrung, nur chronologisch und geographisch gesondert, vor ihm da. Er muß das Nothwendige vom Zufälligen trennen, die innere Folge aufdecken, die wahrhaft wirkenden Kräfte sichtbar machen, uni seiner Dar stellung die Gestalt zu geben, auf der nicht etwa ein eingebildeter, oder- entbehrlicher philosophischer Werth, oder ein dichterischer Reiz derselben, sondern ihr erstes und wesentlichstes Erforderniß, ihre Wahrheit und Treue beruht. Demi man erkennt die Begebenheiten nur halb, oder entstellt, wenn man bei ihrer oberflächlichen Erscheinung stehen bleibt, ja der ge wöhnliche Beobachter mischt ihnen alle Augenblicke Jrrthümer und Falsch heiten bei. Diese werden nur durch die wahre Gestalt verscheucht, die sich allein dem von Natur glücklichen, und durch Studium und Hebung ge schärften Blick des Geschichtforschers enthüllt. Wie hat er es nun anzn- fangen, um hierin glücklich zu sein? Die historische Darstellung ist, wie die künstlerische, Nachahmung der Natur. Die Grundlage von beiden ist das Erkennen der wahren Gestalt, das Herausfinden des Nothwendigen, die Absonderung des Zufälligen. Es darf uns daher nicht gereuen, das leichter erkennbare Verfahren des Künstlers auf das, mehr Zweifeln unterworfene des Geschichtschreibers an zuwenden.