Volltext Seite (XML)
VI Pfade eingehalten und auf dem von ihnen gelegten Grunde rüstig weiter gearbeitet haben, so daß seither sowol die historischen Disciplinen, als auch die Naturwissenschaften in der allerumfassendsten Weise angebaut und ge pflegt worden sind; — während in Literatur und Poesie zwar der einmal dagewesene Glanzpunkt unwiderbringlich vorüber war (denn der Funke der Dichtkunst ist zu sehr eine Gabe der Götter, um von dem Streben und Willen des Einzelnen abhängig zu sein), aber doch ein ansehnliches und achtunggebietendes Heer von Epigonen daS Gefühl der einmal erreichten Höhe wach erhielten und die Begeisterung für unsere klassischen Dichter nie veraltet ist, — macht die Entwickelung der philosophischen Erkenntniß und der Verlauf des staatlichen Lebens in derselben Zeit viel weniger er freuliche Wandlungen durch. Auf Kant, den „Alleszermalmer", der in der Philosophie völlig neue Grundlagen geschaffen hatte, folgte zunächst nicht, wie man hätte erwarten dürfen, eine Periode des eifrigsten und gesundesten Weiterschaffens, sondern eine Zeit des Schwindels, „der Unredlichkeit", wie sie von einem neueren originellen Geschichtsschreiber der Philosophie (Dühring) mit Recht ge brandmarkt wird. Nur Einer lebte, der des alten Königsberger Denkers nicht nur völlig ebenbürtig war, sondern ihn in vielen Stücken noch über traf; aber es gelang ihm nicht, mit der bescheidenen Stimme der Wahr heit das Geschrei der Menge zu übertönen — Arthur Schopenhauer war bei seinen Lebzeiten eine fast unbekannte Größe. Und nun endlich unser staatliches Leben! Wie kann man anders-, als mit einem Gefühle der Beklemmung und des Mißbehagens auf die Jahr zehnte blicken, welche den vielverheißenden Anfängen zur Zeit der Freiheits kriege folgten? Stein und seine Genossen wollten Deutschland empor- heben aus seinem jahrhundertlangen tiefen Verfall; Großes haben sie ge leistet; aber der Samen, den sie legten, hat nach kräftigem Keimen nur spärliche Früchte getragen; die Generation, welche ihnen folgte, war schwach an Geist und Gesinnung und konnte nicht weiter schaffen im Sinne der Väter. Und wir nun endlich, das nachgeborene Zeitalter der Klassiker, die Enkel der Freiheitskämpfer und der Regeneratoren des deutschen Staats lebens, wie haben wir uns jener wunderbaren Zeit gegenüber zu stellen? Das dürfen wir uns ja ohne Selbstüberhebung eingestehen, daß wir nach vielen Seiten hin die Ideen, durch welche Jene bewegt wurden, weiter ge führt und ausgebildct haben, nnd daß wir insofern Größeres als sie ge leistet haben, wenigstens in manchen Beziehungen. Aber dies war immer nur möglich, weil wir auf ihre Schultern uns stützten, weil ihr großes Vorbild uns hob und mit Begeisterung erfüllte. Wo wir also in ihren Spuren gewandelt sind, haben wir nur unsere bescheidene Pflicht erfüllt, wo wir ihren Grundsätzen untreu wurden, haben wir den Pfad, der zum Heil führt, verlassen und sind auf Abwege gerathen. In welchen Be ziehungen dies der Fall sei, ist schon oben angedeutet worden; aber es be darf hierüber noch eines Wortes. Soll ich den Charakter der klassischen Periode unserer Nation in Kurzem ausdrücken, so würde ich wählen den Ausdruck des ruhigen Idealismus. Ideal ist die Richtung aller jener genannten Männer durch und durch. Ihr Streben war völlig frei von jeglichen Opportunitäts- Rückfichten. Wie der kühne Genuese, sachten sie einen neuen Weg nach