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bereits ein neuer Tag vor ünserm Bewußtsein stand, ehe wir uns über die Verwandlung Rechenschaft gegeben. Unser Anblick der wilden Klippe vor einer Stunde gehörte dem gestrigen Tage an, wiewohl wir während der ganzen dazwischen liegenden Zeit auf dem Verdeck im vollen Sonnen schein gestanden hatten. „War das Gefühl einer Nacht in einem Augenblick durch unser Ge hirn geschlüpft oder war die alte Gewohnheit des Bewußtseins unserer Natur so fest eingeprägt, daß der Anblick eines Morgens ein genügender Beweis war, daß eine Nacht vorhergegangen sein mußte? Möge das Phä nomen erklären wer es kann, aber ich fand meine physischen Sinne völlig im Kampf mit der geistigen Wahrnehmung, womit sie übereinstimmen soll ten. Das Auge sah nur einen endlosen Tag, der Geist kerbte die vier undzwanzig Stunden in seinen Kalender ein wie zuvor."*) An diesen Küsten, welche im Sommer so wunderschön sind, — frei lich im Winter desto grauenhafter, — wohnt der Fischerlappe, dem das Meer und die Fjords Nahrung und Feuerung bieten. Allerdings wachsen hier keine Bäume, werden hier keine Gemüse so weit gezeitigt, daß sie eine Speise abgeben, und die Stürme, aus allen Ecken und Winkeln des Eismeeres daherblasend, vernichten das letzte bischen Pflanzenleben, was »och möglicher Weise anfkommen möchte, und dennoch haben sich hier Menschen angesiedelt und sie brauchen nicht den Thran der Seehunde als Heizmaterial anznwcnden, sondern sie brennen die Palmen von Haiti, das Mahagoniholz von Honduras und die kostbaren Hölzer des Amazonen- und des Orinoccostromes, welche ihnen der Golfstrom zuwirft, der hierher den mächtigsten seiner Arme versendet. Den Thran und die getrockneten Fische verkauft der Lappe an die Schiffe, welche von allen Seiten hierher kom men, es sollen deren in jedem Frühling über achthundert hier sein. In den tief eingeschnittenen, oft mehr als zwölf deutsche Meilen in das Land reichenden Fjords fehlt es übrigens keineswegs an Gras und Blumen und sogar schnell reifende Gemüse und Wurzeln können hier gezo gen werden, in der Regel geschieht dieses aber nur von den Geistlichen, welche in solche Fernen von der civilisirtcn Welt verbannt sind. Der Lappe selbst, besonders wenn er das wechselvolle Leben des Ennara-Lappen führt, d. h. wenn er zugleich Fischer und Jäger oder Fischer und Rennthierbesitzer ist, begnügt sich mit Fleisch- und Fischkost und fragt nicht nach Gemüse oder nach Brod, welches er nur an hohen Feiertagen, d. h. wenn er auf die Jahrmärkte fährt, in seine Hütte bringt, wo es denn, auch wenn es das gröbste Schwarzbrod wäre, als Kuchen gilt. *) Nordische Reise. Sommer- und Winterbilder aus Schweden, Lappland und Norwegen von Bayard Taylor.