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504 Das Wasser. läufigen Böden, welche zur Aufnahme aller Insassen eingerichtet sind — denn selbst das Vieh, Pferde, Schafe, Rinder, wird hinaus gebracht, ein breiter Holzweg gestattet dies. Von dieser sicheren Zufluchtsstätte sieht der Bewohner ruhig die Ueberfluthungen rings um sich her an, sie erreichen ihn erfahrungsgemäß nicht mehr. Verlaufen sich die Wasser, so ist in wenigen Tagen das Holzwerk wieder trocken, und man bezieht die etwas verschlammte Wohnung, nach dem sie gereinigt und gelüftet worden, meistentheils ohne großen Schaden gelitten zu haben, außer dadurch, daß die Ueberschwemmung, die ge wöhnlich segensreich ist, zur Unrechten Zeit kam, und zwar wie folgt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Nutzanwendung der Über schwemmungen beider Flüsse liegt nämlich, bei aller sonstigen Ähnlichkeit der Erscheinung, in dem Clima, welches bei uns den Sommer fordert für die Ausbildung der Pflanzen, indeß diese in Aegypten während der käl teren Jahreszeit vor sich geht. Die Nil-Ueberschwemmungen dauern vom Juli bis zum November, sie sind am höchsten gegen Ende des September und fallen von da ab bis zum Ende des November, wo gewöhnlich der mittlere Stand des Nils eintritt. Von da ab, wo die Fluthen die höher gelegenen Gegenden verlassen, werden diese sofort bestellt — im Winter und Frühjahr wächst Alles mit unglaublicher Kraft und Ueppigkeit, und lange bevor im Frühjahr die Sonne sengend und verkohlend zu wirken beginnt, sind die Ernten vollendet, sind die Feldfrüchte geborgen. Nicht so an der Weichsel. Die Sommerüberschwemmungen sucht man durch die stärksten, mächtigsten Dämme abzuhalten, denn bei uns ist der Sommer die Vegetationsperiode. Die Gewässer des Winters läßt man auf die Felder treten, die hinter den Dämmen liegen; man regelt sie nicht wie in Aegypten durch Zerstören, Durchstechen der Dämme, sondern durch Schleusen — der Weichselschlamm befruchtet, düngt die Felder, das Wasser nährt die Pflanzen, der Sommer aber wird trocken gewünscht und Ueberschwemmungen während desselben sind verderblich, daher mit großer Sorge darüber gewacht wird, daß sie nicht eintreten. Dennoch ist das Hochwasser segensreich: es durchdringt von unten her die Felder und er hält sie naß und die Pflanze frisch, und wenn der Spätsommer mit dem Reifen der Saaten kommt, so findet das Vieh auf den abgemäheten Fel dern eine solche Fülle der trefflichsten Nahrung, der feinsten, süßen Gräser, daß diese Weide zur Mästung des Schlachtviehes vollständig ausreicht und daß abgemagerte Ochsen in Zeit von höchstens sechs Wochen mit Fleisch und Fett beladen sind, daß sie kaum mehr gehen können. Die ungemeine Fruchtbarkeit, die Ueppigkeit des Pflanzenwuchses wie