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Der Niagarasall. 447 saugend, und ihre breit belaubten Neste wie ein stolzer Urwald hoch in die Lüfte und mitunter bis zur Hälfte der Felswand hinaufstreckend. In diesem Gerölle und Geschiebe hat sich der jüngere Niagara ein zweites schmaleres Bette gewühlt, in welchem er mitunter hundert Fuß tief, mit einer reißenden Schnelligkeit, und mit einer Senkung von hundert Fuß auf sieben englische Meilen dem Ontario zueilt, so daß es den Dampf booten, welche die Reisenden zu dem Falle selbst bringen, sehr schwer wird, gegen ihn anznkämpfen, etwas, das um so mehr auffällt, als man vom Ontario bis zu den Felsenmauern, gleichfalls sieben Meilen, nur 4 Fuß Fall gehabt hat, was im Vergleich mit der nachherigen Sturzgeschwindig keit wie ein Stillstehen aussieht, obwohl die ungeheure Wassermasse eben ihrer Größe wegen auch auf dieser wenig geneigten Fläche rasch genug dahin schießt. Wir befinden uns jetzt in dem Kessel, von welchem wir den Fall in seiner ganzen Majestät übersehen können. Der Strom hat, da er nicht gerade über sein Bette abgeschnitten ist, sondern eines Theils schräge, anderen Theils gar in einer hufeisenförmigen Krümmung fällt, eine viel bedeutendere Breite, als wenn man ihn von User zu Ufer senkrecht auf seinen Verlauf messen würde, und in dieser schrägen und gekrümmten Linie wird er durch zwei Inseln in drei Arme getheilt. Der größte derselben, der Hufeisen fall (der jetzt allerdings diesen von seiner Gestalt entlehnten Namen nicht mehr mit Recht führt), auf kanadischer Seite liegend, ist 1800 Fuß breit, der zweite zwischen den Leiden Inseln mißt nur 15 Fuß, der dritte auf der amerikanischen Seite hat ungefähr 800 Fuß, der größte stürzt in einein breiten, schwarzgrüuen, spiegelnden Bogen von einer Höhe von 158, der kleinere von 165 Fuß herab, erst ganz unten durch das Aufprallen sich in Schaum auflösend und in dem sogenannten Topf oder Kessel, dem Felsen raum, den er sich durch seinen Sturz gebohrt hat, so furchtbar kochend und tosend, daß man sich den empörten Wogen nur mit großer Vorsicht nahen darf unv daß man den betäubenden Lärm, der in der Nähe alles andere übertönt, bis auf 8 deutsche Meilen hören soll (thatsächlich hört man ihn wenigstens 17 engl. Meilen weit). Der Anblick dieses erhabensten und prachtvollsten Wasserfalles — gegen welchen der Rheinfall von Schasfhausen ein Conditorspielwerk scheint — ist überwältigend, er ist es in einem solchen Maße, daß er einem ameri kanischen Ingenieur Veranlassung gab, die Zahl der Pferdekräfte zu be rechnen, welche hier ungenützt verloren gehen und welche alle Dampfma schinen der Erde zusammen an verwendbarer Kraft viele tausend Mal übertreffen. Ein dichterisches Gemüth gicbt sich dem wunderbaren Eindruck der großartigen Natur hin; ein industrielles Gemüth betrachtet die Menge