Volltext Seite (XML)
12 Früh um vier Uhr sind wir zu viert in der Kabine auf Deck. Zwei schlafen, einer schreibt während der ganzen Nacht Ansichtspostkarten, einer macht den ersten Reisebericht für „Die Hilfe" fertig. Während der Wind an den Luken klappert und von der Seeschlacht bei Salamis erzählt, streichen wir flott durch die Wellen, Athen entgegen. -i- * * Wovon leben eigentlich die Athener? Die Stadt hat über sOO OOO Einwohner, alle Straßen sind voll Verkaufsläden, und alle Waren, die nicht Obst oder Getränke sind, tragen völlig das Gepräge des Abend landes. Selbst die kleinen weißen Marmorgötter, die wir in der Straße des Epaminondas oder in der Nähe des Platzes der Verfassung fanden, sahen uns so vertraut au, als wären sie irgendwo an der Saale oder Mulde gemacht worden. Man verkauft in Athen dieselben Schuhe, Aragen, Shlipse, Puppen, Gläser wie in Leipzig. Es berührt den Fremden geradezu peinlich, so wenig originelles, griechisches Gewerbe in den Fenstern von Athen zu finden. Einige Fabriken sind ja am Platze, aber sie verschwinden im ganzen des athenischen Handels. Von sachverständiger Seite wird uns gesagt, daß Athen so gut wie gar keine eigene Ausfuhr hat. Womit bezahlt es also seine Baumwolle, sein Eisen, seine ganzen Aulturartikel? Wir konnten gestern und vorgestern von dieser Frage nicht loskommen und gestehen, daß sie uns mehr beschäftigt hat, als die athenische Aunst. Die Aunst der alten Griechen ist etwas abgeschlossenes, fertig gewordenes, aber das Leben der jetzigen Griechen ist geradezu ein sorgenvoll spannendes Drama. Mit den Griechenliedern Gttsr. Müllers begann Europas Interesse an seinem südlichsten Glieds; Grieche zu sein, war ein Jahrzehnt lang ein Ideal, dem selbst ein Bayernkönig fast seine gute, deutsche Arone geopfert hätte, für die athenischen Schlösser und Museen zahlten die Bauern am Ehiemsee, für die Hellenen wagten die Großmächte bei Navarino ihre Flotten, es gab einen Eifer politischer Selbstlosigkeit, wie er selten die alte selbstsüchtige Gesellschaft von Westeuropa ersaßt hat. Wie aber steht es nun? Wenn heute jemand -vom Volke des Leonidas redet, 'so hält er Griechentum.'