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112 der Festpredigt in Jerusalem stand) denken will, so können wir als geschichtlich gebildete, moderne Menschen nichts anderes denken und malen, als den „historischen Christus", das heißt den Sohn der Maria, der in Nazaret, paneas, Gadara, Lapernaum, Nain, Tiberias, Jerusalem und Jericho lebte. Damit ist die dogmatische Frage, was wir über den gött lichen Urgrund seines Wesens glauben, gar nicht berührt. Der orthodoxe wie der liberale Christ und nicht am wenigsten der Theologe, hat das gleiche Bedürfnis nach Anschauung. Tr will und muß sich seinen Heiland irgendwie vor Augen stellen. Mit welchem Material und in welcher Art er das bei uns im allgemeinen thut, haben wir eben angedeutet, als wir vom Bilde Abrahams sprachen. Aus bloßen Glaubenssätzen baut sich keine Gestalt auf, mit der unser Geist reden kann. Ls ist nicht zufällig, daß das Bedürfnis nach Vorstellungen des „Lebens Jesu" sich einstellt, sobald historische Aritik erwacht. Nun gehen Christen aller Art ins heilige Land: sie möchten den Boden sehen, auf dem Zesus aufwuchs, um dort bestimmtere Anhaltspunkte für einen geschichtlichen Christus zu finden, sic wollen die Reste der Bevölkerung sehen, zu der er gehörte. Ls liegt ihnen nichts an den haltlosen Traditionen, die diese oder jene Stelle auszeichncn, sondern an dem Grundcharakter des Lebensgebietes Jesu, was sagt das Land über ihn? was sagt cs denen, die das neue Testament, die einzige (Quelle seines Lebensganges, genau kennen? Giebt cs uns festere, be stimmtere Umrisse für ihn? — vielleicht kennen die Leser das vor kurzem erschienene interessante Büchlein von Professor von Soden: „Rcisebriefe aus Palästina" (Berlin (898). Zch konnte es vor unserer Grientreise nur flüchtig sehen, habe nun aber auf der Heimkehr noch einmal mit neuer Freude von Sodens Briefe gelesen. Lr beschäftigt sich fast ausschließlich mit der religiösen Frage in dem von uns bezeichnten Sinn. Mit Liebe und Sachkunde sucht er die Spuren Jesu, was er findet, ist aber dennoch wenig, wenig für den, der mit ihm suchen möchte. Selbst ein so für diesen Zweck geeigneter und geschulter Beobachter bereichert das „Leben Jesu" mit wenigen Zügen. Ls bleibt eine leere Stelle, die derjenige am meisten als leer empfindet, der den Unterschied des abendländischen und des geschichtlichen Jesus Der historische Christus.