KAPITEL X. Die Vegetation. Unter den Ländern der Alten Welt nimmt Italien seiner Lage nach die Mitte ein. Durch seinen Bau, seine wagerechte und senk rechte Gliederung, sein Klima erscheint es berufen die Gegensätze von Morgen- und Abendland in sich auszugleichen, den Cultursegen des Orients an Europa zu übermitteln. Dieser weltgeschichtliche Beruf findet in der Vegetation den deutlichsten Ausdruck. Das Leben der Pflanze wird durch den Boden bedingt, der sie ernährt, durch die Wärme und Feuchtigkeit der Luft, von denen ihr Gedeihen abhängt. Sie besitzt aber auch die Fähigkeit aufserhalb ihrer ursprünglichen Heimat neuen Verhältnissen bis zu einem gewissen Grad sich anzu passen. Die Verbreitung und Wanderung der Pflanzen, theils durch unbewufste Naturkräfte theils durch den Willen des Menschen veran- lafst, füllt einen der anziehendsten und lehrreichsten Abschnitte allge meiner Geschichte aus: durch sie ist nicht nur der landschaftliche Charakter weiter Erdräume umgestaltet, sondern die Grundlage ge sitteten Daseins überhaupt erst geschaffen worden. Italien gehört von Hause aus jenem grol'sen Waldgebiet an, das sich über Europa und Sibirien bis an den Stillen Ocean hin erstreckt. Allmälich im Laufe der Jahrtausende hat es sich davon abgesondert: um die Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. steht das Poland erst im Begriff die Wald- und Weidewirtschaft mit geregeltem Ackerbau zu vertauschen (S. 74); um den Beginn unserer Zeitrechnung hat Ligurien, dessen Flora heu tigen Tages mit derjenigen der subtropischen Zone übereinstimmt, sein altes Pflanzenkleid noch nicht abgelegt. Von den ersten Aeufserungen geschichtlichen Lebens bis zur Gegenwart hinunter sehen wir die Vege tation in beständiger Umbildung begriffen, die eingebornen Kinder der Flur durch fremde Einwanderer eingeengt und verdrängt. Wie die 27*