Nihilistische Tendenzen und menschliche Behandlung. 63 dieses Krachs für unsere nationale Cultur jedenfalls noch schwerere sein, als die des 30jährigen Krieges; es wäre der Todesstoß der deutschen Nation. Sollten unsere überspannten Geister jetzt auch nur bis zu dem Versuche gelangen, ihr Ideal der „Vereinigten Staaten von Europa" zu verwirklichen, so wäre es danach nicht nur mit aller deutschen Nationalität, sondern auch mit aller deutschen Cultur für immer aus. Endlich aber herrscht in unserm engen Wirthschaftsgebiet auch eine ebenso erdrückende Concurrenz der Capitalkräfte. Unsere wichtigsten und reichsten Industriezweige fühlen sich noch immer ge drückt, während die gleichen Productionen in England und Amerika sich längst eines gesunden Aufschwungs erfreuen. Durch Schutzzölle suchen wir diesem Zurückbleiben unserer heimischen Industrie abzu helfen; aber während wir wohl indirect andere nationale Erfolge mit denselben erzielen, bedürfen wir zur Erreichung dieses directen Zweckes offenbar noch anderer Mittel und Wege. *) Das Absatzgebiet Englands wächst seit mehr denn Jahresfrist wieder in altgewohnter Weise, und das Arbeitsfeld Nord-Amerikas mehr denn je. Nur unsere *) Ich glaube nicht, baß man dereinst den Umschwung unserer inneren Cultur- Entwicklung von dem Schutzzoll-Schreiben des Fürsten von Bismarck an den Bundes rath (vom IS. December 1878) datiren wird. Die epochemachenden Erscheinungen sind vielmehr sein Programm der Besteuerung und Steuerfreiheit, dessen Princip der Fürst in seiner Landtagsrede vom 4. Februar 1881 darlegte, und seine im Ein klänge hiermit stehenden Pläne einer gerechten und menschlichen Behandlung der hülflosen Culturkräfte unseres Proletariats (Unfallversicherungs-Entwurf und Weiteres). Diese innere Politik zielt zwar nicht auf die Hebung unserer Productivität und unseres Wohlstandes hin, sondern nur auf die Wohlfahrt unserer Bevölkerung, welche zu °/><> dem Proletariat angehört, von dem wieder der größte Theil Land- und Handarbeiter sind. Hierauf aber kommt es für unsere intensive Cultur-Ent- wicklung gegenwärtig am meisten an; und es mag wohl sein, daß durch solches Vorgehn Deutschlands der Civilisation vom Centrum Alt-Europas aus eine Aera wahrer Menschlichkeit eröffnet werden wird, die nur wenig mehr gemein hat mit jener zur Carricatur verzerrten Pseudo-Cultur der sogenannten ..Humanität", welche gut ist für 5 bis 10 °/o der Bevölkerung, aber für den ganzen Nest, der zu schwach ist, sich alleine aufzuhelfen, nur den kalten Hohn übrig hat: „Helft euch selbst, blon xossuimml" — Eine wesentliche Hebung unseres Wohlstandes ist durch fernere einseitig intensive Entwicklung unserer Nation doch überhaupt nicht zu er warten. Allerdings mögen neue technische Erfindungen auch ferner dahin wirken, unsere Culturkräfte von physischer Arbeit zu entlasten und die Productivität unserer Arbeitsleistungen zu heben; oder eine verbesserte Organisation der Arbeit, wie sie gleichfalls in den Plänen unseres Reichskanzlers liegen soll, mag dazu beitragen, die productive Bethätigung unseres Volkes zu steigerü. Materiell aber ist die Hebung unseres Wohlstandes bei unserer gegenwärtigen Lage im Wesentlichen nur von der extensiven Entwicklung unseres Wirthschaftslebens abhängig.