62 Unser Exerciren und Examiniren. werden. Wissen ist Macht, und jedes geistige Können steigert das befriedigende Krastgefühl des Menschen; aber doch nur dann, wenn solches Wissen und Können Verwendung finden, wenn die Möglichkeit, solche Geistesmacht auszuüben, vorhanden ist. Der hoch entwickelte Kulturmensch auf das öde Eiland im endlosen Meer verschlagen, ent behrt dort mehr als der rohe Naturmensch; er leidet schwere Pein, wo dieser ein paradiesisches Dasein führt. In ähnlicher Lage befinden sich auch die Geisteskräfte, welche in den trostlosen Verhältnissen ihres eigenen Vaterlandes ohne Hoffnung auf Bethätigung und Fortent wicklung bewußtermaßen verkommen. Alle diejenigen Kräfte, welche die Schaffung und Entwicklung eines reichen mächtigen Culturlebens auf freiem, geeigneten Boden sichern würde, sind bei uns im Ueberfluß vorhanden und verderben nur deshalb, weil unsere Nation ihnen diesen Boden nicht bietet, und ihren Blick nicht dorthin wendet, wo derselbe zu finden ist. Dabei wirft unser sich stets verbesserndes Unterrichtswesen täglich neue Masten solcher jungen Geisteskräfte auf dieses heimatliche Arbeitsfeld, ohne daß von den Schöpfern dieses Füllhorns voll zweifelhaften Segens Anstrengungen gemacht würden, dieses Wirthschastsgebiet auszudehnen oder auch nur den rathlos beschränkten Jnterefsenkreis unseres Volkes zu erweitern. Nicht ganz mit Unrecht hat man gesagt, der deutsche Schulmeister habe unsere Schlachten gewonnen; aber es ist wohl schwer zu ent scheiden, ob unsere Nation mehr erdrückt wird von der schweren Waffenrüstung unserer allgemeinen Wehrpflicht oder von der Treib hausluft unserer intensiven Hochcultur. Was hilft es, daß wir unsere intelligente Jugend mit unfern Systemen des Exercirens und Examinirens wehrfähig und erwerbsfähig machen, wenn wir ihnen nicht die genügend breite Basis wirthschaftlicher Existenz schaffen, auf der sie thatsächlich Erwerb finden können, und die ihnen auch ver Vertheidigung mit Blut und Leben Werth erscheint?! Dieser Mangel allein ist die Ursache des täglich stärker werdenden Ueberwucherns nihilistischer Tendenzen in der wohl unterrichteten und geistig hochstrebenden Jugend unserer gebildeten Kreise. Hoffnungs losigkeit ist der Wurmstich unserer einseitigen Geistescultur, an welcher die Ernte derselben verkümmert. Erst durch das Hinzutreten der geistigen Ueberproduction wird das Elend der wirthschaft- lichen Ueberproduction gefährlich. Solche Krisis bedroht unser Volks leben mehr als der Hunger und das Elend unseres Proletariats. Sollte eine solche Krisis über uns Hereinbrechen, so würden die Folgen