60 Unser zum Proletariat herabsinkender Mittelstand. zu bezahlen haben?! Zu diesen zwei Classen von Armen tritt ferner die, welche nicht die öffentliche Unterstützung, sondern die Privat- wohlthätigkeit in Anspruch nimmt; sie tritt weniger äußerlich hervor als die zwei ersten Classen, ist aber dennoch eine sehr fühlbare Bürde für das Gemeinwesen. Diese drei Classen von Armen haben indessen schon bisher in Deutschland bestanden, zeitweise weniger, zeitweise mehr hervortretend. In der Gegenwart jedoch ist noch eine weitere Classe der Bevölkerung durch die zur Permanenz gewordene schlechte Zeit genöthigt, ihre sauer erworbenen Ersparnisse aufzuzehren und rückt dadurch mit jedem Tage der Armuth näher. Diese Armuths- Candidaten sind für die Behaglichkeit des Gemeinwesens weit ge fährlicher als die notorisch Armen; denn gerade durch sie greift die innere Zerrüttung des Volkslebens um sich, ohne daß die Träger des Gemeinwesens sich dieses Vorgangs klar bewußt werden. Wie stark diese Classe von Armuths-Candidaten ist, kann kaum festgestellt werden; dennoch lassen einige Anhaltspunkte auf eine große Zahl derselben schließen. So wurde in der würtembergischen Kammer darauf hin gewiesen, daß in dem kleinen Würtemberg allein 80 Eisenbahn- Ingenieure brotlos sind. Zu dieser Classe der Bevölkerung gehören ferner nicht nur die Brotlosen, sondern auch die, welche zwar Be schäftigung haben, jedoch nicht für ihren Lebensunterhalt ausreichend be lohnt sind. Diese Thatsache, daß ein großer Theil des Mittelstandes, des Kerns der Bevölkerung, sich der Armuth zutreiben sieht ohne Aussicht auf Hülfe, ist die Ursache der allgemeinen Unzufriedenheit in Deutsch land. Verzweiflung bemächtigt sich mehr und mehr dieses Mittelstandes; er sieht kein Ende der schlechten Zeit und verliert die Hoffnung auf eine bessere Zukunft — den Glauben an das Vaterland. So kommt es, daß dieser zum Proletariat herabsinkende Mittelstand auch das stärkste Contigent zur deutschen Massenauswanderung nach Nord- Amerika stellt. Er flieht vor der ihm drohendeil Armuth. Er sieht, überkommen von nervöser Furcht, in jeder Wolke, welche de» Welt frieden trübt, in jedem neuen Steuerptojecte, in jedem Fallissement eines Nachbars, in jeder Arbeitseinstellung um ihn her Furien, die auch ihn in den Abgrund der Armuth stürzen werden*). *> Ebenso wie diese niederen Kräfte unseres Volkes kranken und in der schwülen Luft unseres engen Wirthschaftslebens zu ersticken drohen, so leiden auch unsere höheren, geistigen Arbeitskräfte. Sehr treffend schilderte Herr Professor Dr. Adolf Wagner auf dem handels- *) Vergl. die „Freundschafts, und Handels-Beziehungen" Nr. 4, Stuttgart 23. Januar 1881, xag. 15.