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Unsere einseitigen Cultur-Experimente, deren Objecte und Resultate. 59 Verhältnissen. Sie sind den vorhandenen Culturmitteln unseres Volkes über den Kopf gewachsen, und zwar so sehr, daß wir in der größten Noch unserer Culturexistenz sogar wieder zu dem mittelalterlichen Zwange von Ausnahmsgesetzen und physischer Gewalt zurückzugreifen gezwungen sind. Wir haben die Bedürfnisse und die geistigen Ansprüche unserer Volksmassen übertrieben gesteigert, ohne daran zu denken, ob wir ihnen auch Befriedigung ihrer Bedürfnisse und Ansprüche schaffen können. Wir haben ihre Unzufriedenheit und ihre Noch verschuldet; wir selbst tragen die Verantwortung für dieses unser Verschulden. Die unglücklichen Volksmasten waren nur die Objecte unserer ein seitigen Cultur-Experimente, und kein ehrlicher Mann wird jetzt schwächlich die Schuld auf diese Volksmasten, oder auf ein „unabänder liches Geschick" oder irgend einen anderen Sündenbock abzuwälzen suchen. Unsere Pflicht ist es zunächst, die Wahrheit der Thatsachen anzuerkennen und einzusehen, daß wir nach den Leistungen der letzt herrschenden Generation nicht etwa jetzt selbst-befriedigt die Hände in den Schooß legen können, sondern daß die riesige Culturarbeit der Zukunft bisher erst an einer kleinen Ecke angefangen worden ist, daß wir viel Versäumtes wieder gut zu machen haben, und daß das Tagewerk unserer deutsch-nationalen Cultur noch fast ganz und gar vor uns liegt. Die jetzige Gefährlichkeit der gährenden, proletarischen Arbeits kräfte unseres Volkes liegt doch lediglich in der Negativität ihrer Be strebungen. Erfüllt man positiv, soweit es möglich ist, ihr Verlangen nach einer „menschenwürdigen Existenz", ein Verlangen, das wir selbst in bester Absicht in ihnen geweckt haben, dann wird der Agitation der Boden unter den Füßen entzogen werden. Wie groß aber die „menschenunwürdige", d. h. hoffnungslose Noth unseres Volkes in der Thal ist, und wie schwer die unmittelbaren Folgen dieser überhandnehmenden Verarmung auf unseren Gemeinwesen lasten, davon haben die meisten wohlhabenden und tonangebenden Kreise unserer Bevölkerung wohl nur eine ungenügende Vorstellung. Bei Gelegen heit einer Interpellation in der würtembergischen Kammer wurde fest gestellt, daß in Deutschland ca. 200,000 Vaganten sind, die jährlich bis zu 120 Millionen Mark Unterstützung erfordern. Neben dieser Armuth, die von Ort zu Ort zieht, ist auch die, welche ihren festen Wohnsitz hat, nicht weniger stark. Stuttgart allein giebt für diese Armen 160,000 Mark jährlich aus, Hannover 179,000 Mark, Hamburg 750,000 Mark, Berlin 3 Vs 4 Millionen Mark. Wie viele Millionen werden nun alle Städte in Deutschland zusammen für solche Armen