58 Die gesündere Entwicklung Englands und Hollands. scheinunge» nicht, dort weiß doch fast jede Arbeitskraft befriedigende Arbeit zu finden; unsere in ihrem Wachsthum künstlich forcirten Culturkräfte aber entbehren der entsprechenden Verwendung in normalen diese specifisch angelsächsischen Erscheinungsformen der Selbstständigkeit und Selbst- Verwaltung sind es, welche ein gleichzeitiges Aufkommen pessimistischer Hoffnungs losigkeit proletarisch verkommender Culturkräfte ausschließen. Aber es handelt sich ja nicht darum, in wiefern die Engländer anders gestellt sind als wir, sondern weshalb und wodurch sie so gestellt worden sind. Was sind die Ursachen, welche ihnen diese Charaktereigenschaften der Selbstständigkeit und Selbstverwaltung „ange wöhnt" und in ihnen ausgebildet haben? Daß dies erst durch die extensive Cultur-Enlwicklung der brittischen Nation geschehen sei, wurde bisher allgemein und wird auch jetzt noch von unfern tonangebenden Volkswirthen (siehe die Resolu tionen des 19. Congresses) radical bestritten. Ich habe diese Thatsache aber in meiner „Ueberseeischen Politik" nach Ansicht eben desselben „Bremer Handelsblattes" No. 1523 so überzeugend nachgewiesen, daß dasselbe sogar meinte, „manche dieser statistischen und historischen Beweisführungen des Buches seien unnöthig, weil sie nur erhärten, was ohnehin Niemand anzweifeln wird. Der Satz zum Beispiel, daß bei gleicher innerer Kraftentwicklung zweier Völker dasjenige reicher und mit der Zeit auch mächtiger werden wird, welches nach außen hin mehr Kraft entwickelt, braucht nicht erst bewiesen zu werden: er leuchtet von selbst ein." Wie wenig jedoch diese Thatsache dem deutschen Publicum vordem einleuchtete, beweisen schon die verschiedenen Samoa-Reden unserer älteren Parlamentarier im Reichstage und ebenso die Wiederspiegelung dieser Debatten in Herrn vr. Kapps Worten, daß „die Samoa- Debatte auch dem unschuldigsten Leser die Verderblichkeit einer extensiven Entwicklung unserer Nationalität klar gemacht habe." Daß jetzt sogar das „Bremer Handels blatt" selbst wieder diesen Vortheil extensiver Entwicklung bestreitet, ist um so auf fallender, weil dasselbe in jenem ersten Artikel sogar meine Argumentation selbst vollständig zu seiner eigenen machte: „Solche Abgabe aus den Reihen der intelligenten und energischen Elite des Volkes nütze, weil diese sich sonst im Innern stoßen und bedrängen, zu viel Concurrenz um die vorhandene Macht eröffnen würden; dieser Punkt sei in Frankreich eingetretcn, woher die vielen Umwälzungen und Staats streiche, in England aber durch Gründung überseeischer Staaten und (in Folge davon) „durch bessere Vertheilung der Thatkraft in freier Selbstverwaltung und Volksrepräsentation glücklich vermieden worden." Allerdings haben sich die dazu erforderlichen Charaktereigenschaften des englischen Volkes in langsamer, innerer Entwicklung und unter schweren Kämpfen vom 13. bis zum 17. Jahrhundert her ausgebildet. Noch im 16. Jahrhundert jedoch standen Wohlstand und Cultur in Deutschland viel höher als in England, und die Freiheit und Selbstständigkeit des Bürgerthums in den deutschen Städten war damals der ganzen civilisirten Welt weit voran. Während dann aber das deutsche Volk in seinen unaufhörlichen Kämpfen des 17. Jahrhunderts zerrüttet und zerfleischt wurde, gedieh der englische Wohlstand und reiften die englischen Culturkräfte durch die extensive Entwicklung lies Volkes so schnell heran, daß dasselbe an activer Culturfähigkeit sehr bald alle anderen europäischen Nationen übertraf. Ebenso sind ihrer Zeit die Holländer und vordem auch die Hanseaten emporgekommen. Durch ganz dieselben äußeren Ursachen wuchs ihr Wohlstand und wurden ihnen die gleich tüchtigen inneren Culturkräfte „angewöhnt".