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46 Die innere Zersplitterung des deutschen Volkes. Englands mehr und mehr geltend. Die Elbherzogthümer waren den Dänen fast wehrlos preisgegeben. Preußen entwickelte sich zusehends zu einer russischen Satrapie; und während der Süd-Westen Deutsch lands überwiegend unter französischen Einfluß gerieth, waren und sind im Süd-Osten die Deutschen unter dem Habsburger Fürstenhause nur mit Slaven, Magyaren, Romanen und Italienern nationalitätslos zusammen gewürfelt. Ein Theil des deutschen Volkes ist jetzt zu einem neuen Deutsch land politisch geeint; aber auch diese politische Selbstständigkeit ist gegenwärtig noch in bedenklicher Weise gefährdet — ein stark auf getriebener Sprößling, dem es bisher immer noch an dem rechten und genügenden Boden fehlt, auf welchem er wachsen und gedeihen könnte. Es ist eine eitle Täuschung und ein sehr verhängnißvoüer Jrrthum, wenn man glaubt, unsere Nationalität sei bereits innerlich consolidirt und widerstandsfähig geworden.*) Welche unserer bis herigen Errungenschaften ist es denn, die uns, wenn auch nicht culturell deutsch erhalten, so doch wenigstens national zusammen halten könnte, wenn einmal ein Zwiespalt unserer verschiedenen Stämme entstehen sollte? Ein unverkennbares, in Ziffern sich darstellendes Symptom unserer jetzigen politischen Schwäche ist der verschwindend geringe Credit, den unsere Nation am Geldmärkte genießt. Von Frankreichs 24,798 Millionen Mark Schulden garnicht zu reden, hat doch das kleine England mit nur 35 Millionen Einwohnern circa 15,000 Millionen Mark Reichsschulden, und kann dennoch jeder Zeit am Weltmärkte irgend einen beliebigen Geldbetrag zu 3X oder gar zu 2yü^ borgen, während wir 43 Millionen Deutsche mit nur 281 Millionen Mark Reichsschulden 4 ^ für dieselben zahlen müssen. — Diese, sowie die im Text folgende Darstellung ist eine kurze Zusammenstellung der weiteren Ausführungen in meiner Schrift „Ueberseeische Politik" (Hamburg 1881, L. Friederichsen L Co., xax. 120—140). Ich habe dort besonders auf die in unserm Volkscharakter begründeten Symptome unserer nationalen Schwäche hingewiesen, unfern Mangel an Einheit und Einigkeit, unfern Mangel an Reife und Mündigkeit und unser» Mangel an Selbstachtung und Selbstständigkeit. — Vergl. hierzu auch unsere, hier im ersten Abschnitte dargestellten, zerfahrenen Partei verhältnisse. Als Lord Salisbury im Jahre 1878 vom Berliner Congresse nach London zurückgekehrt war, schilderte er in einer öffentlichen Rede folgendermaßen den Eindruck, welchen unser nationales Leben auf ihn und Lord Beaconsfield gemacht habe: „Wenn Sie aus das Ergebniß der letzten Wahlen daselbst blicken, so finden Sie, daß es dort 12 oder 13 Parteien im Staate giebt, d. h. daß Diejenigen, welche vorzugsweise berufen sind, die Ordnung und die Freiheit hochzuhalten — die gemeinsamen Ziele der gesammten Menschheit, welche jeder gute Bürger über alles schätzen wird — ihre kleinen Launen, Grillen und Skrupel nicht genügend unterdrücken können, um sich zu einer großen Organisation zu vereinigen und Dasjenige, was sie Hochhalten sollten, zu vertheidigen. Es ist dies eine sehr bedenkliche Erscheinung und ein warnendes Beispiel für alle anderen Länder der Welt."