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272. Sonnabend den 29. September. 1855. Es giebt keinen Äornwucher! Wer an Äornwucher glaubt, der glaubt Gespenster! So rufen zur Zeit der LebenSmitttltheurung viele bewährte und unbewährte Nationalökono mm den darbenden Consumentm zu ; allein diese haben gleichwohl taube Ohren gegen alle derglei chen, wenn auch noch so gelehrte und gediegene Ermahnungen, von denen die Leben-mittel nicht billiger und die hungernden Magen nicht voller werden wollen; im Gegentheil sieht da- zehrende Pu blicum im Angesicht einer nicht schlechten Ernte, ja selbst nach Aufhebung de- russischen Ausfuhrverbote- die Kornpreise namhaft steigen und die Brode sichtlich kleiner werden, die Semmeln und Franzbrode aber zu mikroskopischen Sonnenstäubchen zusammen schrumpfen. Kein Wunder also, wenn selbst unsere kleinen Kinder, die niedliche Dreiersetnmel im Händchen, sich da- Dasein de- Kornwuchers selbst von den gelehrtesten und graubärtigsten Natio nalökonomen nicht wollen wegdiSputiren lassen. Auch da- Leipz. Tageblatt hat bereit- mehrere Aufsätze über die Leben-mitteltheu rung und deren Ursachen gebracht; aber noch immer glaubt da- Publicum an Äornwucher, nur weiß es noch nicht, «er wohl die eigentlichen Kornwucherer sind. Dir Einen verdammen den Müller, die Anderen den Bäcker, die Dritten den Getreidehändler, die Vierten den Mäkler, die Fünften den Landmann im Allgemeinen, die Sechsten den großen Oekonomen insbesondere, die Siebenten sämmtliche ökonomische Vereine, die Achten werfen alle Schuld auf die Kornbörsen rc, aber Alle stimmen darin überein, das Ab hülfe drinaend nöthig sei, und nur über da- Wie? der Abhülse sind die Meinungen wieder eben so gethellt. Versuchen wir e- nun einmal, mit unerschrockener Festigkeit dem allerdings vielfach-furchtbaren Gehenste in die Augm zu sehen und zu erörtern, ob eS möglich sei, diesen bösen Geist zu verban nen! — Ehe ich jedoch auf die Sache selbst eingehe, muß ich im Voran- auf da- Bestimmteste erklären, daß ich nur di» Absicht habe, bestehende Uebelstände al- solche, nicht aber sonst in ihrem Wirken nützliche Vereine anzugreifm, und daß ich der festen lieber- , zeugung bin, daß hier nur allein auf dem gesetzlichen Wege ge holfen «erden kann. Jede andere Art und Weise, dem Uedel steuern zu wollen, müßte nur neuen Nachtheil bringen. Wer der Wahrheit nicht einseitig Gewalt anthun will, der muß zugestehen, daß e- zrrei Hauptarten der Theuruug giebt: eine natürliche, d. h. durch wirklichen, entweder theilweisen . oder allgemeinen Mangel an Brodfrüchten erzeugte Lheurung; b) eine künstliche, entweder ohne allen Mangel, oder unter Benutzung de- vorhandenen theilweisen Mangel-, durch künstliche Mittel erzeugte Leben-mittelvertheuerung. Diese letztere ist da- Gespenst, welche- die Eoasumenten Korn- Wucher nennen und in die Hölle verbanne» möchten, dessen Da sein aber von viele» Ralionalötouomeu »it Unrecht in Abrede gestellt wirb, denn wir könne» die Genealogie desselben genau angeben. Der Geburtsort diese- Ungeheuer- heißt Kornbörsez stine Mutter heißt Agiotage, sein Väter ist der Gei-»ach gut- habgnden Differenzen, und, sein eigentliche» Name ist Schlußzettel. Wer diese- Ungeheuer näher kennen lerne» will, der bemühe . sich auf die Kornborsen »nd sehe selbst. Dem Schlußzettelspeeu- . lanteu ist der eigentliche Getreidehandel nur eine Nebensache, der Handel mit den Schlußzettel», die Agiotage aber ist die Scala und die 3§iebftd«,,welche ihn in »erpegpng setzt. Nicht Getreide bringt man für ihn dort zum Markte, nein, Schlußzettel werden verhandelt, und da allen speculirenden oder spielenden Inhabern am Höhergehen der Preise gelegen sein muß, so müssen natürlich alle Mittel angewendet werden, um den ur sprünglichen Gegenstand dieser Schlußzettel: Getreide, Mehl, Oel u. s. f. im Preise, sei e- auch nur momentan, zu steigern. Bald muß da der Regen, bald der Sonnenschein, bald der Schnee und Frost, bald die gelinde Witterung und der Mangel an gehöriger Schneedecke, bald ein zu zeitige-, bald ein zu späte- Frühjahr her halten, und dazu nimmt man noch ängstigende Zeitungsberichte über Mißwuchs und Getreidemangel, oder Preissteigerung in weit entfernten Ländem, Krieg und Frieden und andere unzählige der gleichen Mittel, um nur die sehnlichst gewünschte Aussicht auf eine Mißernte oder Theurung publiciren und damit den schnel len und hohen Verkauf nicht de- Getreide-, — nein! der Schluß zettel zu erzwingen. Die neuen Käufer derselben haben wieder dasselbe Interesse, wie d»'e Verkäufer, und so geht da- Hazard- spiel fort, bis der Schlußzettel seine Zeit, die sogenannte Lieferzeit, erlebt hat, da< heißt bi- die Differenzen gezahlt werden, — die letzte und beste Emte für den Empfänger der Differenzen, welche, je nachdem die Preise seit Ausstellung de- Schlußzettels gestiegen oder gefallen sind, entweder dem Inhaber oder dem Aussteller ge zahlt werden müssen; denn dm Schlußzettelspeculanten liegt Nichts an der wirklichen Lieferung de- Getreide-, sondern lediglich an dem Gewinne der Differenzen, und so wer den Schlußzettel über viele tausend Wi-pel Getreide verhandelt, durch welche oftmals nicht ein Wi-pel zur wirklichen Lieferung kommt. Ja e- wird in tausend Fällen kaum einmal untersucht, ob der Aussteller de- Schlußzettel- da- genannte Quantum Ge treide oder überhaupt dergleichen wirklich am Lager habe; und eben so kann e- demnach Vorkommen, daß durch diese Schluß zettel zwei-, dreimal mehr Getreide, al- bei der ergiebigsten Ernte vorhanden ist, oder überhaupt für den Consum gebraucht würde, verhandelt wird, und dann mit Recht gesagt werden kann: „Der Begehr ist doppelt so groß, als dievorhan- denen Dorräthe; e- stellt sich ein ansehnlicher Mangel heraus/" Eben so übel ist durch diese Art, da- Agio des Schlußzettel- in die Höhe zu treiben, der wirklich Korn aber nicht Schlußzettel bedürfende Müller und Bäcker daran; denn kommt er auf ein Tut, wo er Kornvorräthe weiß, so muß er häufig mit der Ant wort abgehen: „da- Korn ist verkauft". WaS bleibt ihm nun übrig, al- daß er zum Zwischenhändler oder zum Mäkler gehen und höhere Preise, als die eigentlichen zahlen oder hochge- stekgerte Schlußzettel kaufen und auf die Lieferzeit warten muß. Ja, e- kann mit Hülfe der Schlußzettel Vorkommen, daß ein Land- wirth sein Getreide mehrere Male mit ansehnlichem Gewinne ver kauft und doch auf dem Boden behält, wenn er nämlich anstatt der Lieferung auch, noch Diffeoenzen gezahlt erhält, und nun auf- Neue Schlußzettel verbandest. Wer hiernach noch nicht begreift, daß dieser Schlußzettel- handel i« Stande ist, auch bei einer guten Ernte die Fracht preise zu steigern und selbst längere Zeit auf einer unnatürlichen Höhe zu erhalte«, der will e- nicht begreifen. Au< Vorstehendem ergiebt sich aber, daß nicht Müller, Bäcker, Getreidehändler, Mäkler, Oekonomen, ökonomische Vereine, Korn- börfen «. s. w. au sich betrachtet die Ursache der künstlichen PreiSsteigenmg sind, sondern nur Diejenigen, welche an dem oben