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Anzeiger m» Elbeblatt für Riesa, Strehla und deren Umgegend. Wochenschrift zur Belehrung und Unterhaltung. 74. 18S« Freitag, den IS. September Merkwürdige Flucht aus dem großen Chütelet. Einige der ärgsten Gefängnisse — heißt e» in einem Aufsatze, die Gescbichte der Gefängnisse betreffend, in de» „Blättern für Lit. Unterb." — wurden am Ende des letzten Jahrhunderts zerstört, unter ihnen das große und kleine Ehätelet, zwei Festungen in früherer Periode französischer Ge« schichte zur Vertheidigung der Stadl errichtet. Nicht lange vor Abbruch dieser mit Schlamm, Schlangen und Gewürm erfüllten Löcher entfloh «in junger Advokat, Barnier, auf merkwürdige Weise dem großen Ehätelet. Bei Voltaire's letz ter Anwesenheit in Paris, als er eines Abends von einem „Vivo Voltsire!" schreienden Volkshau« sen längs dem Pont-royal gedrängt wurde, öff nete dieser junge Mann, Barnier, die Wagenthüre und rief, die Hand des Patriarchen von Ferney küssend: bss les rois! Vivant les pdilosopkes!" Der Polizeiinspector Marais befand sich in der Nähe, ließ Barnier greifen und ungeachtet des Widerstandes des Volkes, welches dem Jnspector übel mitspielte, nach dem Ehätelet bringen, wo er sich für die widerfahrne Unbill auf das Roheste an dem unglücklichen Gefangenen rächte, der aus Verzweiflung zu entkommen oder nnlcrzugehen be schloß. In einer Nacht wo ein Gewitter mit Donner und Blitz die Aufmerksamkeit der Wächter von ihrer Pflicht ablenkte, wagte er den Bersuch. Die benachbarte Kirchuhr schlug zehn, als er sich in den Straßen sah, durch welche er so eilig als möglich rannte. Aber er war nicht weit, als er schon Waffengeklirr und Hufschläge hinter sich ver nahm; eine Minute später und alle Hoffnungen aus Leben und Freiheit sind für immer vernichtet! Da fällt sein Auge auf ein altes Weib, die sich «den damit beschäftigt, die Thüre eines kleinen Eckhauses abzuschließen. Gerade im Begriff, ein- HUtreten, wendet sie sich um, zu antworten, nach riuer Person, die mit ihr spricht. Darnier ersaßt die Gelegenheit, stößt die Pforte auf und dringt in das Haus. Alles ist finster innen, und er tappt einen Gang entlang und einige Stufen hinauf, bloß von dem Klange eines Instruments und ei ner süßen Frauenstimme geleitet, welche eine Arir auS einer damals sehr beliebten Oper singt. Er hat keine Zeit zu verlieren, denn er muß jeden Augenblick erwarten, daß das alte Weib ihn ein hole. Die Thüre des Gemachs erreichend, wel chem die Töne entströmen, öffnet er und steht vor einer lieblichen jungen Schönheit, deren Schuß und Beistand er erfleht. Bon seinem Elende ge- rührt, verspricht sie, ihn zu verbergen. Nun nennt er sich, erzählt die Geschichte seiner entsetzlichen Kerkerhaft und wunderbaren Flucht, und schließt mit Verwünschungen, die er auf das Haupt des Ungeheuers Marais schleudert. Bei diesem Na men wechselt die Dame die Farbe, aber bevor eine Erklärung stattfinden kann, verkündet lautes Klopsen an die Außenthüre und eine zornige^MumMMk der Treppe das Nahen der zitternd erhebt sich die Dame, der Thür einer kleinen Nebenstube, und flüstert ihm zu, dort hineinzugehen und sich stille zu verhalM. Kaum ist er darin eingeschloffen, als er die Ttitte eines Mannes in dem eben verlassenen Zimmer vernimmt. Ohne Zweifel ihr Vater oder Gemahl, denkt Barnier. „Was haben Sie an den Händen?" fragt das junge Mädchen, „sie sind mit Blut be fleckt." — „Gieb mir Wasser, um sie zu waschen," entgegnete der Mann; „einer unserer wichtigste» Gefangenen ist diesen Abend entwischt, und — setzte er-mit einem Fluche hinzu — ich habe mich an d^n Uebrigen gerächt." Es war der Inspektor Marais! Er begeyrte darauf Wein, und nachdem er getrunken, ging er fort, seiner Tochter bedeu tend, daß er die ganze Nacht nicht wiederkäme. „Ich muß mich vergnügen," sprach er, „um mir diese ärgerliche Sache aus dem Kopfe zu bringen." Mit Hülfe deS jungen Mädchen» entkam Barnier