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Dresdner Nachrichten : 03.01.1926
- Erscheinungsdatum
- 1926-01-03
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id501434038-192601030
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id501434038-19260103
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-501434038-19260103
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Dresdner Nachrichten
-
Jahr
1926
-
Monat
1926-01
- Tag 1926-01-03
-
Monat
1926-01
-
Jahr
1926
- Titel
- Dresdner Nachrichten : 03.01.1926
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llreraner Nachrichten Sonntag. Z. Januar 192b Kalhi. Grillparzer-Novelle von Grete Mass 6. In den, Zimmer, das der Hvfrat Grillparzer im vierten Stock der Sptegelgasse j„ Wien bewohnte, brannte die Nach. Mittagssonne so stark durch die Fensterscheiben, das, das Licht die Augen des lesende» Dichters blendete. Er lieb das Buch sinken und sas, ein Weilchen ganz ruhig, die Hand aus daS Knie gelegt. Der Himmel stand im Fensterrahmen wie ein Gemälde in allen Tönungen des Blau mit Schatten und Glanz, am Horizont mit ei» wenig Purpur gemischt. Noch war eS hell, aber die Ahnung der nahenden Nacht stand unsichtbar schon geschrieben an der Wölbung des Firma ments. Bald kam die Dunkelheit und wie lange würde cs dauern, daun kam für ihn die letzte, grobe Dunkelheit mit dem ewigen Schlas. Er war ei» alter kränklicher Mann. Mehr als ein Zeichen mar ihm geworden, daß die Sanduhr seines Lebens im Begriffe war, abzulansc». Vor drei Jahren erst war er im Nömerbad so unglücklich von seiner Stiege hcrabgrstürzt, das, der Arzt für sein Leben keine» Heller mehr gab. Damals hätte ihn schon der Tod geholt, wen» ihn die drei treue» Schwestern Fröhlich nicht mit so unendlicher, nie erlahmender Geduld gesund gepflegt hätten. Kühl wehte eS plötzlich von de» Gassen durch die offenen Fenster heraus. Grillparzer hüstelte ein wenig und zog die Schultern fröstelnd zusammen. Er hatte aus einmal Ver langen nach einem wärmenden Getränk, einem Grog oder doch wenigstens einem Kaffee. „Kathi!" ries er. „Kathi, kommen Sie doch einen Augen blick. Ich bitt' schön!" Die Zimmertiir gegenüber, die sonst bei seinem Nus sofort ausslvg, blieb geschlossen. „Pepi!" rief der Hvfrat. „Anna!" Aber auch Kalhiö Schwestern meldeten sich nicht. Er stand auf und ging schwer und steif — nach dem Unfall im Nömerbad wollte es mit dem Bein gar nicht wieder wer ben — aus de» Korridor heraus. Er schaute in daö Musik zimmer, in dem Anna und Pepi Gesang- und Klavierstundcn erteilte». ES mar leer. Er schaute in die Kammer, in die Küche. Weg — alle drei! Er mar allein in der Wohnung. Mißmutig, nach seiner Art leise vor sich hin raunzend und brummend, stelzte er den langen Korridor hinab und in sein Zimmer zurück. Sie waren gegangen, ohne ihm Bescheid gesagt zu haben. Jede der Schwestern musttc von der anderen geglaubt haben, daß sie daheim bleibe. Sie hatte» sonst immer dafür gesorgt, daß eine zur Stelle war, die dem Alten seinen Milchkaffee bringen konnte, die Zeitung oder die Zigarre, die ihm vvr- laS, vormusizierle oder doch wenigstens an der Haustür die notwendigen Besucher absertigte. die dem Dichter der „Tappho" und der „Medea" gar zu gerne ein wenig in die Häuslichkeit guckten, die der Hvfrat im hohen Alter bei der Frau gefunden, die in der Jugend sahrelang seine Verlobte gewesen und die mau in Wien nicht anders nannte als „Kalhi, die ewige Braut". ES war dem Hofrat so ungewohnt, allein zu sein. In den siebzehn Jahren, in denen er bet den Schwestern Fröhlich lebte, war ihm der Begriff der Einsamkeit ungewohnt gewor den. Der Begriss der äußeren Einsamkeit wenigstens, von der inneren, die McnschcnloS ist, vermag uns ja auch die Gegen wart der Nächsten nicht zu schützen. Was sollte er nun ansangcn? Gelesen hatte er schon, geraucht auch. Ans dem Flügel zu musizieren, dazu fehlte ihm die Lust. Er spielte nicht mehr selbst. Er lieft sich nur von Anna Vorspielen oder von Pepi, die in ihrer Jugend an den Opern von Mailand und Berlin als Sängerin ausgetreten mar. Nutzen wir die Zeit und räumen derweil ein wenig in den Schubfächern des Schreibtisches auf, dachte der Alte gries grämig. Kopfschüttelnd betrachtete er manche der Dinge, die da zum Vorschein kamen. Ei» Kotillonordcn, ein paar Notcn- zcilen von Schubert, ein Billett von Beethoven, der Grill parzer bat, ihn nnfznsnchcn, da er mit ihm über daS Libretto zur „Museline" sprechen wollte, ein violettes, seidenes Band, an dessen Herkunft und innere Beziehung er sich absolut nicht mehr zu erinnern wußte: schließlich, ganz ans dem Grunde, alö wollte er eS so weit von sich tun als möglich, ein ovales Miniatnrbild. Es zeigte ein reizendes Mädchcngcsicht Im Zauber der ersten Jugend mit den schönsten, dunklen Augen, einem kind lichen Mund und schwarzen Locken um Stirne und Schläfe». Ans einer Halskrause von weißem Battist, die den Kopf um gab wie die Knospcnhüllc eine eben erblühte Blume, wuchs ein zarter, mädchenhafter HalS anmutig hervor. „Kathi!" sagte der Hvfrat. Nnd noch einmal ganz leise: „Kathi!" Seit einem Menschenaltcr hatte er dieses Jngendbilö seiner einstigen Brant nicht betrachtet. Die Kathi von heute, die um ihn lebte und für seine Behaalirbkeit sorgte, war nun auch schon über sechzig Jahre alt. Die Zeit, die große Bild- haucrin, hatte an ihr gemeißelt und die Schönheit junger Jahre zn einem Nllerwcltssrancngcsicht gewandelt, i» dem nur manchmal noch das schalkhafte, schwarze Auge an die junge Kathi erinnerte. Hier im Bild aber lebte sic wie einst. So — so hatte er sie gekannt: lächelnd, singend, blühend, tanzend, disputierend, ei» wenig vorlaut mit dem Mundwerk, einmal zärtlich, ein mal trotzig mit einer harten Eigenst»,isstirn, die manchmal der Unwille beschatten konnte. Ein Weib war sie gewesen mit allen Vorzügen und allen Fehler». Wäre die Liebe in ihm so groß gewesen, wie die Liebe sein soll, sic hätte die Fehler über sehen und sich gesagt: Nichts ist vollkommen, nichts kann voll kommen sein, waS Menschenantlitz trägt. Aber er hatte cs nicht ertragen, in dem Idealbild, daö er sich von der Geliebten gemacht, die irdische Unvollkommen heit zn finden. Es hatte Streit zwischen ihnen gegeben nnd Szenen, Versöhnungen und Küsse, neuen Streit, neue Zärt lichkeiten, Erbitterungen, Umarmungen, "^dcr. Pis allmählich im Lause der langen Jahre sich diese bitter süße Liebe gewandelt zur Menschlichkeit, zur Freundschaft, die sie im Hause der Schwestern, im Abcndglühen ihres Lebens, noch einmal zueinander führte und dem alte» Manne die Illusion eines eigenen HcimS, der alten Frau die Illusion gab. tagaus, taget» für einen Hilfsbedürftigen sorgen zu müssen. Merkwürdig — Grillparzer hatte sich Innerlich immer im Recht geglaubt. Er war sich bewußt gewesen, dem Gebot der eigenen Natnr gefolgt zu sein, die von ihm, dem Dichter, -cm cigrnbrödlcrischen Menschen rin Leben ohne Zwang forderte. Ehe wäre Zwang gewesen. Familie — Zwang, Klotz und Hemmschuh an der inneren Berufung, die mit starkem Flttgcl- schlag emporstrcbte zur Höhe. In dieser Abendstunde, da in seiner alten Hand daS Jngendbild lag nnd er daS weiche Gesicht betrachtete, die knospende Brust, die frauliche Gestalt, kam cs ihm zum Be- wußtsein, daß cs Kathi mar, an der gesündigt worden. Der Schöpfer hatte sie zur Mutter blühender Kinder be stimmt, dachte er erschüttert. Daß sie ihre Bestimmung nicht erfüllen konnte, meine Schuld. Meine Schuld! Der Hosrat Grillparzer nahm aus seinem Schrcibtischfach einen Aktenbogen. Er schrieb, ohne zu zögern oder sich zu besinnen: „Zur Erbin meines gesamten Nachlasses setzte Ich als Meinerbin Katharina Fröhlich ein." Und er schrieb weiter mit scharf kratzendem Geräusch der Feder, obwohl draußen die Dunkelheit so rasch sank, wie der Vorhang über eine Bühne fällt. Die Korridortür ging. Schritte kamen über den Flur. Auf der Schwelle des Arbeitszimmers stand Kathi, Duft des Abends, Hauch der herbstlichen Kühle aus der Manttlle. „Aber Grillparzer," rief sie erschrocken. „Sie verderben sich ja die Augen in der Dunkelheit. Ich bring' Licht. Wartcn's ei» wenig." Sie kam wieder und trug die brennende Lampe in der Hand. Lampenschetn siel auf ihr altes Gesicht, aus ihre ge senkten Schulter», aus ihre stille Hand. „Ich Hab' daS Testament neu geschrieben, Kathi. Sie nur sollen einmal besitzen, waS ich habe, Sie allein!" „Sie tun so viel für mich, guter Grillparzer," sagte Kathi. Er schüttelte verneinend den Kopf. Er wußte es besser. Geld. Möbel, Bilder, Silber, Schriften sind kein Ersah für das nutzlose Leben einer Frau, die eine Mutter hätte sein können. ^ene l'elrel. Eine seltsame Begebenheit, erzählt von Richard Sex au. ES war vor Jahren in München, an einem der vielen Kammermusikabcndc, die mich mit zwei Freunde» eng ver banden. Mitternacht mochte vorüber sein. Wir hatten eben den geheimnisvollen, ja in manchen Teilen geradezu unheim lichen Andantcsatz des Vrahmsschen A-Mvll-Trivs wiederholt. Noch schwebten die Arpcggic» im Raum, noch zitterte» die Saiten vom Schlnßpizzicato, und schon erhob sich Oswald, packte behutsam seine Geige in den Kasten und drückte schweigend jedem von uns die Hand. In seinem hageren Gc- ficht zitterte Erregung. Die grauen Angen schauten wie er loschen. Es war nicht außergewöhnlich, baß er uns so verließ. Wenn er sich zutiefst in Mufik verloren hatte, drängte cs ihn meist, mit sich allein zu sein. Wir ließen ihn ruhig seiner Wege ziehen, rauchten plaudernd ein paar Zigaretten und machten uns dann daran, den Abend mit einer Beethoven-Sonate zu beschließen. Es mar wie ein Bad in Lust und Licht. Das Cello des Freundes jubelte. Doch mitten im Scherzo wurden wir ärgerlich gestört. Die Flurklingel zerriß alle Stimmung. Unausgesetzt lärmte sie, markerschütternd, bissig. Der Diener, der schon zu Bett lag, schien einen unerwecklichcn Schlummer zu tun. Sv blieb uns denn nichts andcres übrig, als unser Spiel abzubrechcn, um selbst zu öffnen. Kaum erschien mein Kops im Fensterrahmen, fo hörte daS Klingelgerassel ans. Ein Schatten trat von der HauStnr zurück. „Laßt mich ein . . ." Wie ein Hilfeschrei gellte diese Bitte herauf. Ich erkannte Oswalds Stimme. Wir liefen die Treppe hinab und schlossen auf. Ohne Hut, den Mantel ausgerisscn, atemlos wankte Oswald herein. Er umkrampfte unsere Hände, als ob ihn schwindelte. Ans unsere bestürzten Fragen antwortete er stotternd i» unartikulierten Lauten. Ungeduldig wies er »ach oben. Ich bot ihm den Arm. Langsam tastete er sich am Stiegcngcländer empor. Bisweilen hielt er keuchend inne. Im Hellern Licht des Vorplatzes erbarmte uns sein Aus sehen. Sein Mund war verkrampft. In nervösem Spiel biß er sich die Lippen blutig, ohne es augenscheinlich selbst zn be merke». Die Auge», in denen unfaßbares Entsetzen wetter leuchtete, irrten unstät hin und her. Ruhten sie eine kleine Weile auf einem von uns, so war cs, als flehten sie schweigend um Trost und Hilfe. Wir führten den Verstörten zur Ottomane, betteten ihn da, mischten Arak mit Tee und flößten ihm das starke und heiße Getränk ein. Einen Arzt zu rufen, verbat er sich fiebernd vor Erregung. Erst allmählich verlor sich das Zittern ans seinen Gliedern, Ser irre Blick und das konvulsivische Spiel der wächsernen Hände. Viel Geduld und Schonung brauchte cs, bis wir bruchstückweise ans ihm hcranspreßten, was für ein Erlebnis ihn dergestalt aus allem Gleichgewicht gebracht hatte: In Vrahmsschen Melodien besangen schleuderte er lang sam den Englische» Garten entlang, noch stark bewegt von den Eindrücken unseres Zusammcnspiels. Die Nachtkältc drang ihm durch die Kleider. Nebelschleier verhüllten die Bogen lampen. Ein unwirkliches Licht nmzittcrte Bäume, Häuser, vvrüberhuschcnde Gefährte und die seltenen Nachtwandler, die ihm begegneten oder ihn überholten. Oswald bog in die Küniginstraßc ein. Vor ihm wandertc einer, den er schon bemerkt hatte fast im Augenblick, da er unser Haus verließ. Mit einem Mal erschien ihm seltsam, daß der da vorn den gleichen Weg ging wie er selbst und in un verändertem Abstand. Er verlangsamte seine Gangart. Der Fremde tat desgleichen. Nun blieb er stehen. Auch der Fremde stand. Einer Eingebung folgend lief er plötzlich eine kleine Strecke. Der Fremde legte laufend den gleichen Weg zurück. Wieder blieb der Zwischenraum derselbe. Erstaunt faßte Oswald den eigentümlichen Nachtwandler näher inS Auge. Einen dunklen Ulster trug er mit einem Gürtel wie er selbst. Der Hut weich und breitkrempig mochte wie sein eigener graue Tönung aufwcisen. Die Gestalt ähnelte der seinen. Auch kam der Gang des befremdlichen Spaziergängers ihm vertraut vor, wie der Gang des eigenen Spiegelbildes... des eigenen Spiegelbildes . . . Eine Kältewelle rieselte ihm das Rückgrat hinab. Wieder blieb er stehen, sich eine Zigarette anzuzttnden. Vor ihm flammte ebenfalls ein Feuerzeug aus und beleuchtete stark, stark und deutlich einen Menschen, der ihm unverkennbar glich in Gestalt, Anzug, Bewegung nnd GcstchtSzügen . . . DaS Herz stockte Oswald. Sollte er zn uns zurückkchren? Aber schon den Gedanken daran schalt er feige. Er eilte vor wärts, fieberhaft feiner Wohnung zustrebcnd. Der Doppel gänger vor ihm hielt gleichen Schritt mit ihm. Bald konnte er das Eckhaus sehen, in dem er wohnte. Dunkel lag es da, breit, behäbig. Verschlossen das Tor. Auch der Doppelgänger hielt darauf zu. Jetzt erreichte er eS und nnn — Oswald fühlte, wie ihn der Schreck schier lähmte — verschwand er im Schatten des Tores, verschwand und blieb verschwunden, so sehr sich Oswald auch mühte, nach ihm Um schau zn halten. Doch nun mußte sich daS Abenteuer ja klären. Als Hirngespinst, Irrtum, Halluzination. Durchs Schlüsselloch war dieser Kamerad gewiß nicht geschlüpft. Und einen Schlüssel besaß er wohl noch weniger. Oswald stand am Tor — es schnürte ihm die Kehle ein — Ein Flügel mar »nr angclehnt. Ausstelgendc Angst befahl ihm Flucht. Aber er lächelte solch weibischer Regung. Gemächlich zündete er einen WachSdancrbrenner an — das alte Hans be saß noch keine elektrische Beleuchtung — und stieg Stusc für Stufe zu seiner im höchste» Stockwerk gelegenen Wohnung empor. Die GlaStttre zn seiner Wohnung stand wett offen. Oswald rang mit sich, ob er Hilfe rufen sollte. Aber wenn er sich dem Gespött der Hausgenossen preiSgab . . . ? Im Vorvlah legte er Hut und Violinkasten ab, durch, schritt sein Arbeitszimmer und stieß die Türe zum Schlaf raum auf. Da erstarrte ihm das Blut in den Adern. Aus dem Bett richtete sich, in weißem Nachtgewanb, der Mensch auf, der eben noch vor ihm hergegangen war, dieses schaudervolle zweite Ich, starrte ihn stumm, voll Grauen an und wehrte ihm, näher- zulreten, mit einer Geste höchsten Entsetzens, den schweigenden Mund wie zu einem Schrei geöffnet . . . Erst auf der Straße fand Oswald sich wieder. Wie ein Gehetzter mußte er gelaufen sein. Und er lies weiter, bis er unten am Haus den bebenden Finger auf den Klingelknopf drückte. — Die Erzählung, das Hi» und Her der Fragen und Ant worte» erschlaffte Oswald. Das schwere alkoholische Getränk tat seine Wirkung. Er begann schläfrig zu werden. Unser Freund mies uns sein Gästcstimmer an. Am anderen Morgen erwachten mir spät. Unser gastlicher Freund war schon längst zum Dienst gegangen. Wir früh stückte» gemächlich. Ganz nebenbei srug Oswald, ob tch ihn nicht hcimbeglciten wolle. Es ging schon gegen Mittag, als wir die Straßen entlang- pilgcrten, durch welche in der Nacht Oswald seinem gcspenstig- ten Doppelgänger gefolgt war. Die Sonne schien hell und heiter: für Spuk war da kein Platz. Vielleicht schämten wir uns voreinander, daß uns die Nacht so übel mitaespielt hatte. Scherzend stiegen wir die Treppen zu Oswald Wohnung hin aus. Stimmengewirr kam von oben. Die letzten Stufen nahmen wir im Flug. Ehe Oswald noch den Glasverschluß ge öffnet hatte, wurde von innen aufgetan. Der Hausbesitzer und ein Polizeibeamter standen im Flur mit der Haushälterin des Freundes. Diese empfing Oswald mit dem Ausruf: „Gottlob, -aß -er gnä' Herr die Nacht nit hcimkommcn iS." Und sic wies den Flur hinunter. Wir standen vor der offenen Türe zum Schlafzimmer. Ueber dem Bett war die Zimmerdecke cingcstürzt. Ein Chaos von Balken, Steinen, Brettern türmte sich ans dem Lager, von Kalk und Mörtel überrieselt. Unter der schweren Last war das Kopfende zusammengebrochen. Oswald, in dessen schreckhaft bleichem Gesicht die Lippen zuckten, schaute mich bedeutungsvoll an. In seinen Augen blitzte wieder das Entsetzen der Nacht. Auch mich schauderte.. Weihnachtslod. Skizze von Dr. M. Dachtet Ihr wohl, als die Weihnachtskerzen flackerten und die Tanne dustetc, daran, daß der Tod unbekümmert um die Heiligkeit dieses Abends wie alle Tage vielfache Beute heischend über der weiten Welt lauerte? Eher wohl dachtet Ihr noch au die Christkindlein, die einem jungen Elternpaar auch an Jesu Geburtstag zuweilen in die Wiege gelegt werden. Ich aber will euch erzählen, wie seltsam mir das erschien, daß tust am Christ abend eine junge Frau zum Weihnachtsengel wurde. Sie wurde wie so viele Kranke in den Saal mit den vielen Veiten in völliger Unkenntnis über den Ernst ihres Zustandes getragen. Eine schwere Lungenentzündung hatte die eine Lunge befallen. Als ich sie zuerst sah, ergriffen mich gleich seltsam die schönen sammetschivarzeu Augen. Sie hieß Maria. Wir Aerzte denken nüchtern und reden gern wider abergläubischen Schnack. Aber solche Augen und solcher Name — ja, kurz, ich meinte, sie müsse schon um dieser Schönheit und der Schönheit ihres Namens willen von dieser Erde. Sic blickten sonderbar ängst lich, ihre Augen, und der Lusthungcr, der ihr die Brust rasch hob und senkte, verstärkte diesen Ausdruck noch mehr. Ich mußte ihr die üblichen Fragen stellen. Es scheint das vine ein tönige Beschäftigung zu sei», doch ist sie mir lieb: denn in kurzen Augenblicken weiß ich ein Stücklcin Schicksal und Wesenheit eines ganz fremden Menschenkindes. So sagte sie: Die Elter» läge» längst im Grabe. Der Mann war im Kriege der „spanischen Krankheit" zum Opfer geworden. Ein Kind hatte sie nie geboren: „denn", so sagte sie, „wir waren doch nur ein paar Tage beisammen! Dabei blickten die Augen unendlich schwermütig und selig zugleich und sagten mir so viel. „Was füllte dich denn aus," dachte tch, „seit dir dein Liebster starb? Die Erinnerung an ihn oder die vergebliche Sehnsucht nach einem Kinde des Heimgegangenen, das ihm hätte gleichen können, oder das Leid um Gatten und UngcboreneS zugleich?" Seltsam, um dieser schweigenden Frage willen, die mir stets überkam, wenn tch an ihr Bett trat, fühlte ich mich zu dem jungen Weib hingezogen. Sie wollte Hoffnung haben, daß sie nicht sterben müsse. Ich gab sic ihr, nnd sic glaubte so gern. Hoffte ich doch selbst noch. Aber die dunklen Augen blickten täglich ängstlicher, mit hungernder Bitte um Leben. Am letzten Advent, alö der rote Stern im Krankensaal entzündet wurde, erkannte ich, baß nun auch die andere Lunge ergriffen war. Sie litt so schwer, daß wir sie in einen kleinen Raum fahren mußten, wo sie reine »nvcrbranchte Lirft zur Genüge hatte. Am nächsten Abend hatten die Kranken Weihnachtsfeier Ein mal im Schall der Lieder und Worte schlich ich an ihr Bett. Nichts von all den Lauten war zu ihr gedrungen: sie wollte nichts, entbehrte nichts, wollte nur leichter atmen können, nur atmen. Von jenem Abend an rang ich mit einem Feinde er bittert um ihr Leben. Alle Mittel, die mir zur Verfügung standen, wurden zur Anwendung gebracht, vor kohen Gaben nicht zurttckgeschreckt. Zwei Tage i^ter. zur Stunde, als über all die Kerzen brannten, wußte ich, daß ich nicht siegen würbe. Von nebenan sandte eine große Tanne ihren wärmenden Schein durch den Ttirspnlt. Ich saß ans dem Rande des Bettes und fühlte die schwache Flamme deS Pulses in meiner Hand flackern, verlor und vergab mich einen Augenblick in das Weihnachtsflimmcrn. Dann lag mein Blick wieder ans dem bleiche» Angesicht. Sic sah mich fremd und verständnislos an, als wolle sie sagen: „Warum machst d» denn nicht, daß es nun anders wird?" Plötzlich sagte sie: „Es ist n»ckl bel'cr geworden: ich merke cs nämlich!" „O ja, Frau Maria," erwiderte ich, „wir wollen unS freuen." Da leuchteten die Kerzen von drüben auf dem schwarzen Samtgrnnde bell aus. Schimmernd standen feine, feuchte Perlen auf der küblen. so blassen Stirn. Atem- rtngcud öffneten sich unentwegt die bläulichen Lippen, und die feinen Nüstern hoben sich zn ihrer .Nilsc. Nnd bann kam das Seltsame, waS ich noch nie sah, als an diesem Christabend. Ganz plötzlich überflog ein seiner, blanschwarzer Schatten Stirn, Wangen und Kinn. Ich weiß, wenn ich jetzt zur Decke blicke, hält dort lauernd ein schwarzschwinaiger Raubvogel, »nd das hier ist sein Schatten. Aber ich darf nicht emvorkcbanen, denn ich will ihn nicht sehen, nicht wisien. Wie gebannt blicke tch aus das sterbende Antlitz des WcibeS. Der Schatten wird dunkler. Senkt sich der Vogel? Jetzt muß er aanz, ganz dicht über Marias Haupt schweben, so tief, so schwarz ist sein Schatten. Da, sie sieht scih in Entsetzen emvor. Aber nur diesen Augenblick. Schon tritt ein überirdischer Glanz in daS schwarze Anaenpaar, cs ist nicht Spiegel mehr deS KerzenscheincS da nebenan, nein, tausend Himmel scheinen ibr Meer von Lickt in das süße, selige Antlitz zu werken. Sie trinkt mit ihrem hastigen Atem diese Weihnachtslichtslut, und trinkt, trinkt, trinkt — unersättlich. So f^'arrt gewiß oben die Gottesmutter ihr Kindlcin in der Wiege an. Jetzt — das Bett knarrt ein wenig, ein wenig sinkt sie zurück auf ein irdisches Lager, und kein Atemzug quält mehr die wunde Brust. Die alte, feine, gütige Schwester tritt sanft und mistend ein, drückt zwei Augen zu, löscht daS Licht. Wir treten zusammen hinaus. Drei kleine Mädchen um ringen und jubelnd mit den neuen Puppen im Arm. „Wie heißt denn das neue Kindchen", fraae ich, ein menia aedanken- los. Beinahe vorwurfsvoll kommt's von den Lippen der Kleinsten: „Heißt stoch Maria. Und schlafen kann sie auch."
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