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Sonntag. S. Oktober 1927 — „Vreobner Nachrichten" — Nr. 475 Sette 19 Berliner Allerlei. Der «indersonnt«. Deutsch!«»»» - .J«u» ehrlich" - Hin»«- bur« und vt»«arck — «e»«e-Wttzelet — »Und der «idem kehrt «icht wieder" — I« »ei« fiir Heimatlose - Zirk«» Wolfsoh«. .Mutti, du vast immer gesagt, wenn man was Grobe» erlebt, dann schlägt einem da» Herz Ich habe nie gewußt, wa« da» ist: das Her» schlägt «der heut«, al» wir Htnden bürg sahen da hat mir da« Her» gan» doll geschlagen!" Ein kleiner Quartaner ist «». der die- noch gan» atemlos herausstöbt. Htndenburg. Htnbenburg! Und an einer anderen Stell« habe ich schon von einem Untersekundaner erzählt, der am selben Sonntag vor dem Stadion »u anderen Jungen sagte: »Wenn man den gesehen hat, kann man nie mehr lögen!" E» war die beste Jugendweihe. Uns Alten siel dabei Goethe- Wort wieder ein, das Schönste an der Welt- geschichte sei der Enthusiasmus, den sie errege. Er wirkt weit über die Berliner Kinder hinaus, denn unter den rund 60 000 waren auch viele Versprengte au- dem Reiche: hier ein Palksschulcr aus Mainz, da zwei Primaner ans dem treff lichen Internat in MiSdroy, dort ein Präparand aus Schle- sic»: auch etliche Vuben und Mädel von jenseits der Ver. sailleS-Grenzen. Htndenburg. Htndenburg! Wir sind ein gcschichtSlose» Volk geworden, alle», was vor l0>8 war, wird gestrichen, abgekratzt. übermalt, totgeschwiegen, sogar die ruhmreiche Jahne der Väter und Großväter boykottiert. Aber nun steht die Geschichte lebendig vor »nS in dieser eine» ragenden Gestalt, und alle Ehrsurcht und alle Sehnsucht drängt sich vor ihr zusammen. ES gibt Menschen — ich denke da in meine Jugendzeit an den alten Superintendenten Rübesamcn in Krakow bet Stettin zurück —. denen leuchtet die Gottesktndschast so au- den Augen, daß jeder Spötter vor ihnen still wird. Und es gibt Männer, in deren Gegenwart man sich gelobt, «in Neuer zu werden, alle- Kleinliche ab- zutun. Zu diesen Männern gehört Hindenburg. Ei» Herr v. Trotha — wenn ich nicht irre, mar er Rittmeister bei de» Ltcndaler Husaren — wurde 1013 nach Hannover komman diert und machte mit seiner Iran Besuch bei Htndenburg, seinem früheren — von Magdeburg her — kommandieren- den General, der jetzt in Hannover im Ruhestande lebte, üliilädung, Wtederetnladung: Htndenburg- kommen! Iran ». Trotha hat die Tafel sorgfältig geschmückt. Htndenburg sragt, wo sie die schönen Blumen her habe. »Von de», Gärt ner Mühlenbruch an der Eilenriede, Exzellenz!" „Was, von meinem alten Freund Mühlenbruch?" »Jawohl, Exzellenz, er hat immer so große Auswahl." Ein warmer, tiefer Blick Hindenburas. ein solcher Blick, vor dem man die Augen Niederschlagen muß. und Htndenburg sagt leise und gütig in seinem tiefen Brummbaß: »Und wenn man janz ehrlich sein will, gnädige Frau, er ist auch billiger als die lindere»!" Frau v. Trotha wird dunkelrot. Am liebsten möchte sie Hindenburg die Hand küssen, und sie schwört inner lich, nie mehr konventionelle Phrasen vorschieben zu wollen. Ans ganz jungen Jahren taucht das Bild eines anderen Achtzigjährigen vor mir auf. Kurze Zeit vor dem Geburts tage bin ich drei Tage lang im Hause Bismarck gewesen. Auch mir »schlug das Herz", als ich dem Gewaltigen gegen überstand. Seine Kopfweite war 82 Zentimeter, so das, er n» Laden keine passenden Hüte bekam, sondern seine Kala breser sich auf Bestellung machen lassen mußte. Aber aus dieser Niesenfigur erschien der Kopf gan» klein, nur die Augen, die Augen, die waren so groß und so lodernd, daß '»an s'Üverfing. „Darf ich fragen, wie es Euer Durch laucht geht? Das war das erste banale Wort, das ich, der junge Dachs, hervorbrtngen konnte. Dem Fürsten zuckte das g,c„cht und er sagte: »Der alte böse Feind, die Neuralgie. . vuch Vicht schlafen. Dann aber ist der Zorn mein guter Gesellschafter." Bismarck war eben der Kämpfer bis sum ätzten Tage, geistig von ungeheurer Leidenschaft durch- pulst, körperlich von dem Streit eine- ganzen Lebens zcr- murbt: er stand aufrecht vor mir, aber sein linker Arm schlang ßch um den Eisenpsetler der Veranda und die Hand krampfte ßch an die oberen Nockknüpfe, um dem Körper Halt zu geben. ?? den geblendeten Simsvn im Tempel der ,'hilistcr. Dieser Mann war bereit, mit einer Welt zu- Mimeiizustürzen, ein Niese und Held noch im Untergang. Bismarcks Leidenschaft steckte an. Vor Hindenburg werden die Leidenschaften still. Dort der fortreißende Dämon mit stählernen Augen, die wie ein Senklot in die Seele tauchten. Hier die ehrliche /*us kleinen Sehschlitzen einen überrieselt. BiSmarck türmte den Ossa auf den Pelion und noch bis zu- lcht erscholl sein »Her zu mir!" im Kampfe. Hindenburg aber inncht nnt dem alten Attinghausen: Seid einig, einig, einig! gencr brodelte wie ein Vulkan und war zerrissen von ge waltigen Enrpttoncn. Dieser steht wie ein Fels der Ewig keit und ist die Ruhe und Zuversicht selbst unter einem »er. flatternden Geschlecht. Während an seinem bloßen Dasein von Jahr zu Jahr Immer weitere Tausende Deutscher innerlich gesunden, steht doch eine große Schar verbisse» abseits, und eine kleine, aber einslußreiche Gruppe wirst derweil dem setndlichen Auslände die Bälle zu. . Erster Akt: Die Verbissenen beschließen, sich nicht an der Htndenburg-Feier tn Berlin »u beteiligen. Zweiter Akt: Sie melden dem Au»1ande. baß nur schwarz- meiß-rote Nationalisten sich beteiligt hätten. Dritter Akt: Die melde» au- dem Auslande, baß e- durch den öeutschen Nationalismus beunruhigt sei. So wird'- gemacht. Die kleine, aber einflußreiche Gruppe der fremdstämmigen Ver- ltner Intellektuellen benutzt derweil die Feier zum Bewitzeln: sie braucht für ihr Geschäft ei» Volk, das keine Ehrfurcht vor Größe kennt, auch nicht vor der eigenen Größe in der Ver gangenheit. und so veralbert sie die Vergangenheit. Mit der Revue alter Art ist in Berlin kein rechtes Ge schäft mehr zu machen. Wir stehen erst im Ansang Oktober und schon sind einige Revuen, die sonst monatelang vor- hiellen, abgespielt und müssen durch Premieren ersetzt werden. Daß Irgendein anderthalb Meter hoher Riesenkopsputz ans Feder» oder Straß oder Perlen mit einer ansgczogenc» Krau darunter über die Bühne wandelt, Hai man sich nach- gerade übergesehen. Alle diese Pariser, Londoner, Ncuyvrker Nnditäte» muten einen schon verstaubt an. Sie finden kein Berliner Stammpublikum mehr, auch ziehe» nicht mehr die Anzeigen, daß diese oder jene Tänzerin oder Truppe aus de» Fvlies oder der Alhambra in Buenos Aires oder La» Kranzisko stamme. Also soll die Revue des Kopsputzes durch die Revue des Kopses abgelöst werden. Nicht mehr teure Angenblcnder. sondern Witz. Satire, Ironie! Das klingt nicht übel, nur sind diese dürftigen Revuechen dann meist nur eine kleine Schmutzerei, die im Grunde dem Geschmack des nordischen Menschen, auch des arbeitsamen und tüchtigen Berliners, gar nicht entspricht. Es ist nicht Geist von unserem Geist. Natürlich weiß ich, daß es in London eine deutsche Opernsaison, in Neuyork drei jiddische Theater, in Bukarest französische Gastspiele gibt. Dagegen ist nichts zu sagen. Auch diese neuartige» Berliner Revuen, die sogar über Per vertierung. Blutschande. Fetischismus nur witzeln, mögen für die Eingewanderten der Grenadicrstraße, die wie i» einem Wanzennest zusammeuleben, am Platze sein. Aber man soll nur nicht den Anspruch erhebe», daß es sich um deutsches Theater oder europäische Kultur dabei dreht. Da ist ein Bühnchcn am Kurfürstendami», luxuriös und kokett, mit einer kleinen ehnmbro aparte s„Sehparch" sagt der Berliners hinter jeder Parterreloge, wo vor Jahr nnd Tag noch Hummern zum Champagner serviert wurden, während Goldvniö »Diener zweier Herren" in der sprudelnd schalk haften Inszenierung Reinhardts vorüberwirbelte. Jetzt: Revue. Auf der Bühne sitzt Holländer am Klavier, ein Namensvetter des Komponisten. Er ist nicht Holländer, er heißt nur Holländer. Ein musikalischer Scherzbold von wirk lichem Talent. Wenn er eine Paraphrase über ,,O Tanne- banm, o Tannebau»,, wie grün sind deine Blät..." gibt und dabei daS »...tcr" nicht findet, mit immer erneuten Anläufen ich der Fermate sucht, so ist das sehr ergötzlich. Auch die eber-Jazzband destilliert ihr ParvdisttschcS nur aus voll- endeten» Können. Aber wenn die Szenchen wechseln und einer oder mehrer Vortragende in dürftiger Aufmachung au die Rampe Hüpfen, faßt uns der Menschheit ganzer Jammer an. Das Neue — und wenn cs eine neue Art Zuhälterei ist — wird beschnalzt. Das Alte — und wenn es sich nur um den Dutt oder »Willem" handelt, den unter die Frisur früherer Art gestopften Haarwulst — wird verspottet. Da tritt ein »Potsdamer Edelfasan" auf. die Karikatur einer Dame der ehemaligen Hofgesellschaft, nnd kräht den Refrain: »Und der Willem kehrt nicht wieder. Und den Willem gibt'- nicht mehr", wozu alle uniformierten Kurzhaarköpfe — sie haben den Trost nötig — natürlich lachen müssen. Aber man wird gleich noch deutlicher. Der alte Zopf sei abgeschnitien nnd nach Holland exportiert. »Und der Willem kehrt nicht wieder und den Willem gibt's nicht mehr." Verständnisinniges Gewtchcr aller Nevolutionsgewinnler: wenn morgen »der Willem" wiederkehrte, würden sie freilich alle wieder die Rücken krumm machen und die Hofliefcrantenschtlder neu her. vorholc«: denn Geschäft ist Geschäft. Bei dem zweiten Refrain des Liedes erhebt sich dieser Tage im Parkett ein deutsches Ehepaar und geht still hinaus. Brüllendes Gelächter und Händeklatschen: Gott sei Dank, im» ist man ganz unter sich. Vielfach sagt man. das sei die Welt, die sich »icht lang- weilt. Welch ein Irrtum! Gerade das sind die Menschen, die sich nnter der Oede winden. Sie müssen sich amüsieren lasten, sie müsse» über die Toiletten der anderen sprechen, sic müssen zum Tanztee und abends ins Restaurant, denn sonst stürben sie vor Langeweile. Sie haben nichts t» sich, sie haben auch für Geis, »ich, das geiingite Verständnis, sie werdeu nur durch Geiureichelei gekitzelt. Aber die Mode- Häuser und die Luxusgcschäste und schließlich auch soundso, viel« Arbeiter leben von ihnen — und richten sich nach ihnen und lassen sich tn Geschmack und Politik vo„ ihnen beein flussen. Deriveil sinken immer mehr wirklich Geistige ins Proletariat, weil aus der Bühne des Lebens nur noch die Holländer und Genosse» vorgeschoben und bezahlt werden. Die Sinkenden kommen »ich, immer gleich ins Asyl für Ob dachlose und von dort allenfalls tn eine Bvdclschwinghsche Kolonie: es gibt auch noch Zwischenstufen, aus denen sie ver- »wifelt gegen bas Versinken ankämpfen, und eine von ihnen heißt «Heim für Heimatlose", ei» allerdings puritanisch ein fach hergerichtetcs Heim in der Großstadt, von denen ich neben vielen evangelischen auch drei katholische in Berlin kenne. Da ist das ehemalige Kloster in der Oberwallstraße im Zen trum Berlins. I» den srüherc» Nvnnenzellcn. die je einer fromme» Schwester als Schlafranm diente», stehen setzt je vier Feldbetten, außerdem gibt cs zwei große Schlafsäle für je 30 Man» und Im Erdgeschoß das ehemalige Refektorium, mit Tischen und Schemel», als Tagesansenthalt für So Jn- lasien. Etwa ein Drittel davon sind Intellektuelle. Ingenieure, frühere Offiziere. Akademiker. Die Arbeitslosenunterstützung reicht gerade aus, um sie sllr Schlafstaite und einfachstes Voiköküchencstcn bezahlen .;» lasten. Einen von dort, einen Altphilologen mit Doktortilel, haben wir uns gerade herahs- gesischt. Er hat verschiedenes von der Garderobe unseres gleichgroßen Jüngste» bekommen, des Mulus, die dieser doch nicht mehr braucht, wenn er im nächsten Frühling die Uni form anzicht. Der Doktor kriegt sein extra gutes Mittag essen am Familientisch, nachher die Zigarette, und kan» dann noch ein ungestörtes Nickerchen im bequemen Sessel machen. So ist er für ein paar Tagesstunden »icht mehr Proletarier, er hat wieder ei» wenig Auftrieb, er bemüht sich mit »euer Hofsnnng um Stellung nnd Arbeit: bis zum Kriege war er jahrelang in Paris Berichterstatter großer Zeitungen in Deutschland. Im „Heim jür Heimatlose" liegt neben ihm ein ehedem Königlich Preußischer Kammersänger, ein früher sehr wohlhabender Mann, der durch eine Theaterpleite buchstäblich alles verloren hat. Einst hat er den Oestcrreichischen Hilfs verein in Berlin mit ins Leben gerufen »nd ihm viel ge spendet: jetzt hat er selber nichts mehr außer dem einen An zug auf dem Leibe. Ans derselben „Branche" ist noch ein Schauspieler da, der im vorigen Jahre noch in Chemnitz engagiert war. Dem hängt der Himmel noch voll Geigen, der ist noch nicht „untergebiiitert", der erzählt noch allen, er nähme keine Stellung unter 250 Mark monatlich an, denn als Dar steller müsse man so viel für seine äußere Fassade ansgcbe», daß er sich hier mit 60 Mark monatlich Arbeitslosengeld bester stünde. Und da ist mir noch ein Idealist in den Weg ge laufen, Sohn eines hessischen Pfarrers, Kricgölcntnant, später, wie so viele, in der Presse uiisergekvmincn, dann stellenlos: er keilt alle Heiminsaste» begeistert für den Stahlhelm. Ge rade eben hat er wieder Arbeit bekommen: als Kabelschncidcr In den Siemens-Werken, wo er 7l Pfg. für die Stunde erhält. In diese Dinge kann man nur hineinschen, wenn man persönlich hingeht. Für Bühne und Film ist das stille Elend, der graue Alltag, die müde .Hoffnungslosigkeit nicht sensatio nell genug. Und wenn wirklich einmal Sensationen geboten werden, wie etwa die sogenannten Todessprünge von Harry Piel, dann will es keiner glaube», und cs gibt Prozesse um die Wahrheit. Eine von den demnächst kommenden Sen sationen kann sch diesmal selber beglaubigen. Das Stück, von der Regina-Filmgesellschaft Leipzig i» Bcrlin-Jvhannis- thal gedreht, heißt „Die letzten Tage des Zirkus Wolfsvhn". Der Held wird von einem Italiener, D. Gambino, gegeben. Heute mittag sprang Gambino vor geladenem Publikum mit dem Kopf voran durch eine reisige 8 mm dicke Schaufenster scheibe. Das wurde gesilmt. Er zog sich nur eine kleine Schmarre am Kinn und eine an der Stirn zu: zwei Pslästcrchen genügten. Erst als alles vorbei war und er wieder erschien, nur mit einem Blutspritzer aus dem Hemd, da fing die dicke Fran Gambino, die linier den Gästen saß, plötzlich an zu heulen. Als sic sich bernhigt hatte, konnte die ganze Festvcrsammlung photographiert werden. Neben mir auf dem Tisch im Vorder gründe saß ein entzückendes Persönchen, eine blutiiinge kleine Engländerin sdcn Namen habe ich vergessen), eine für den Film soeben Entdeckte, die die weibliche Hauptrolle in dem Stück spielt. Sic kuschelte sich näher an wirb heran und er. zählte: »Ja. schrecklich, schrecklich, was der alles macht. Aus einem rasende» Auto ist er auf ein Pferd gesprungen. Und mit einein Motorboot hat er unser Kanu überfahren müsten, und ist hinailsgcspriingen nnd hat »ns gerettet! Schrecklich ganz schrecklich! Wir waren so aufgeregt und legten uns nachher gleich ins Bett und mußten furchtbar viel Kognak trinken!" Rumpelst! lzchen. /' i M Ü'I » PU oE fils NI ßperial klsrken DWMWWDWWVNM Le§AnaeriismuiiS Her klltze die von uns mit ßröbtern Lrtolß ßetübrt und Isnß- jskriß erprobt sind "Hw VH, ^<8 SacZrrrrT OaeroeivF