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Die Genser Tagung des Völkerbundsrates. Die Eröffnungssitzung. Wahl b«» chilenische« Vertreter» ,«» Präsl-eute». Genf. 1. Sept. Zur Feter de» veatnue» der ». Völker» bundSocrlammluna hat die Stabt Genf festlich »«» flaggt, obgleich da» allgemein« Interesse beute geringer ist al» tu den Vorjahren, «l» Auftakt »ur Eröffnungsfeier fanden etn katholischer KestgotteSdienst in Anwesenheit des Vtschof« von Lausanne und rin FeftgotteSdtenft im protestan tischen Münster statt, bei dem der Erzbischof von Canterbury dt« Predigt vielt. Den Gottesdiensten wohnte« »ahlreiche Diplomaten und Delegierte bet. Die meisten an der Völker- bundSversammlung teilnehmenden Delegierten sind bereits in Genf eingetrosfen. England ist vertrete» durch Val» four.Fisher und Oberstleutnant Warb, die englischen Dominions in diesem Jahre «um grüßten Teil durch ihre Öberkommtssionäre in London, Frankreich durch Bour geois. Hanotaux und osflztell auch durch viviani, der aber nicht nach Genf kommt, sondern durch den stellver tretenden Delegierten HenrybeJouvenel ersetzt wird: außerdem sind Noblematre und Barthelemy als Vertreter und Delegierte anwesend. Die italienische Dele gation setzt sich zusammen auS dem früheren Außenminister Eietaloja und dem Botschafter MarauiS Jmpe- rialt. dte japanische Abordnung au» den Botschaftern ayasht und Ad ätscht, die spanische Delegation a«S em Senator Gimena, Botschafter OuinoneS da «o» und Unterstaatssekretär Emilto de Palactoz. Für Belgien kommen wie früher HymanS und Poul» l e t. aber an Stelle des sozialistischen Senators Lafon taine, der wegen seiner Haltung auf dem Prager Völker- bunbS-Kongreb lebhaft angegriffen worden war, sein Partei genosse devrouquerr. Die Vertreter Oesterreichs in der Versammlung sind der frühere Botschafter Graf MenS» borff und Ministerpräsident Pflüger. Die Schweizer Delegation setzt sich wie im Vorjahre zusammen aus BundeS- ratMotta, Ständerat Usteri und dem früheren Bunbes- rat Ado r. Die ungarische Negierung entsendet den Außen- minister Grafen Bansfo, um das ungarische Aufnahme- gesuch hier zu vertreten. Die Tagesordnung der BölkerbundSversammlung. deren Dauer auf etwa drei hi» vier Wochen berechnet wird, enthält keine besonde» »«»Sensationen, da «ach allgemeiner Aufsassung die Fraae der Anfnahme Deutschlands in diesem Jahr« nicht ge» stellt wird «nd auch die Gerüchte über Lloyd Georges persön» lich« Beteiligung an der Versammlung noch keinerlei Be- iUklignna linde«. Nichtsdestoweniger können die Frage der Aufnahme Ungarns in den Völkerbund, da» Problem der österreichischen Krise und die Neuwahl der vier nichtständigen Mitglieder des Völkerbundsrates zu größeren politischen Auseinandersetzungen führen, die voraussichtlich alle von der Politik der Kleinen Entente abhängig sein wer ben. Wie aber verlautet, will die Kleine Entente Ungarns Aufnahme in den Völkerbund von vorherigen Zusicherungen, fei e» durch Ungarn oder den Völkerbund selbst, in der Habs burger Krage abhängig machen. Die Mehrheit der Ver sammlung tst aber der Ausnahme günstig gesinnt. Was die Neuwahl für den Rat betrifft, so beansprucht die Kleine Entente einen Sitz: man nimmt hier all gemein an. daß ihr Wortführer Bene sch in den Rat ein- ziehen wird. Dock wird gleichzeitig von südslawischer Seite sehr eifrig geworben für den südslawischen Außenminister Ntntschttsch. Alle diese Kragen dürften aber mehr hinter den Kulissen alS im Plenum die Versammlung beschäftigen. Schließlich rechnet man damit, daß der Rechenschaftsbericht de» VölkerbundSratcS, dte AbrüstungSfrage und vielleicht da» Mtnderheitenvroblem zu großen, wenn auch nur plato nischen Debatten führen könnten. Dte übrige Tagesordnung enthält die auS den RatS- und KommissionSsitzungrn be- kannten Humanitären und VerwaltungSsragen, den Opium- Handel, den Mädchenhandel, dte Hilfsaktion für russische Flüchtlinge und einen Antrag auf Erhebung des Esperanto »ur anerkannten internationalen Sprache, sowie ver- schtedrne Abänderungsanträge zum Pakt wie zu Artikel 10 nn» Artikel 18. Die erste Sitzung eröffnete wie üblich der Präsident deS BölkerbundSrateS, diesmal der brasilianische Vertreter da Gama mit einer kurzen Ansprache, in der er der pessimistischen Aufsassung, die über den Völkerbund nnd seine Lebensfähigkeit verbreitet sct, entg^aentrat. Er wies auf dte umfassende Tätigkeit hin. die ber Bund im Lause de» Jahres entfaltet habe und die im Rechenschaftsberichte deS Generalsekretärs niedergelegt sei. Der Völkerbund sei nickt tot. sonder» endgültig in das internationale Lebe« der Völker eiogetreteu. Schließlich ver- suchte er dte Befürchtungen jener zu zerstreuen, die im Völkerbünde einen Uebersiaat sehen, und forderte die Versammlung ans, sich nicht entmutigen zu lassen und auf dem betretenen Weg weiter zu schreiten. Im Beginn seiner Rede gedachte da Gama deS brasilianischen NnabhängigkettS- tage». der in seiner Heimat in drei Tagen festlist begangen werde. Hierauf wählte die Versammlung einen zehngliedrige» Ausschuß zur Prüfung der Vollmachten und vertagte sich auf den Nach- mittag, um dte Wahl seines endgültigen Präsidenten der ersammlung vorzunrbme«. Dte Stimmung unter den v, . , ^ Delegterten war ruhig uud frei von der lebhaften Geschäftig beiden Jahren beobachten konnte. In kett. die man tn den ersten , , Auch die Rebe be» Präsidenten, der reichlich Beifall gespendet wurde, führte nicht zu den gewohnten begeisterten Kund- gedungen. Die ganze Sitzung bauert« 20 Minuten, der RachmittagSsitzung kam e» »ur Wahl de» Vrüsidente«. Dte Wahlhandlung wurde vollzogen, ohne baß vorher aus der Versammlung Vorschläge gemacht wurden, da dte Dele gterten bereit» vorher sich aus den Namen de» Vertreter» von Chile Edward», de» chilenischen Gesandten tn Lon don. geeinigt hatten. Er wurde mtt 42 von 44 abgegebenen Stimmen gewählt. Präsident Edward» hielt hierauf eine längere Ansprache an die Versammlung, der er tles- bewegt den Dank für die Wahl aussprach dte er vor allem al» Ehrung de» latelntsche» Amerika» auisasse. Am Vorabend der panamerikantschen Konferenz von Gant- tago werde Amerika tiefe Befriedigung darüber empfinden und über dl« wesentliche Nolle, dte eS nach Ansicht deS Völkerbundes tn dem internationalen Streben nach Frieden und Gerochttgkeit zu spielen berufen sei. Edwards kenn- zeichnete dann nach einigen ehrenden Worten für seine Bor- Sänger auf dem Präsidentensitz«, die Anfaabe der diesjährigen Bvlkerbnnböversammlnng folgendermaßen: Sie müsse die Festigung des bisher Er reichten. vor allem der tn den beiden letzten Jahren ge schaffenen Bülkerbundsorganisattonen, erzielen. Mit einer diskreten Wendung wleS Edwards auch aus den universellen Charakter des Völkerbundes hin und schloß unter all gemeinem Beifall mit etncm lebhaften Appell an die Mit arbeit aller Delegierten. lW.T.B.) Dr. Seipel» Ankunft ln Genf. Gens. 4. Sept. Der österreichische Bundeskanzler Dr. Seipel traf heute nachmittag tn Genf etn. iW. T. B.) Die Abrüstvngsfrage vor einem panamerikanischen Kongreß. Genf, 4. Sept. Der Vorschlag ber chilenischen Regie rung. die Frage der Abrüstung aus einem panamertka- uischenSongreß.dertm kommende» März in Santiago abgehalten werden soll, zur Sprache zu bringen, war gestern Gegenstand einer eingehenden Aussprache tm Ausschüsse des Völkerbundes für Rüstungsbeschränkung, der die Hoffnung auSfprach. daß -er Kongreß tn Santiago zu praktischen Er- gebnisirn innerhalb einer allgemeinen Regelung für die Vülkerbundsmttglteder führen möge. DeS weiteren sprach sich der Ausschuß sür ein« internationale Konferenz aus. die die Frage besonderer Festsetzungen sür den privaten Waffen- Handel zu regeln hätte. <W. T. V.) Die päpstliche FriedensakNon 1917. lieber die päpstliche FrtebenSvermittlung des Jahres 1917 gibt ber zweite Unterausschuß de» Parlamentari schen Untersuchungsausschusses deS Reichstage» den folgenden Bericht auS: Nach Prüfung deS aus dem Auswärtigen Amt und dem Reichsarchiv vorgelegten Akten- materialS sowte auf Grund ber eidlichen Vernehmungen der Staatssekretäre a. D. Kühlmann. Helfferich, Zimmermaun, des Reichskanzlers a. D. Michaelis, der Reichsmlnister a. D. Rosen. Graf v. Brockborff-Rantzau, der Gesandten v. b. Lancken. Riezler und Freiherr v. Romberg, ber Gene rale v. Haeften und v. Bartenwerfser, deS Botschafters v. Bergen und de» NetchStagSabgeorbueten Schetdemann ist ber zweite Unterausschuß in ber Untersuchung der päpstlichen FricdenSvermtttlung deS Jahres 1917 zu folgendem Er gebnis gelangt: 1. Ein Frleb«n»a«aebot England» lag tm Sommer 1A7 nicht vor. S. Ebensomenta kann tn Anbetracht der vtelsachen Tchwtrrta- kelten «nd der immerhin sraalichen BerständiaunaSbereitichaft aus feindlicher Gelte vo« einer Harke» FrirdenSwabrlcheinlichkett ae- lvrochrn werden. S. Eine ernste, von leiten ber deutschen Regierung gemtssentzast zu prüfende FriedenSmdglichkeit war bet Beginn der vüvstltchen KrtebenSaktion vorhanden. 4. Die Ereignisse der Monate Kult und August In Deutschland und Ocfterrcich-Unaarn haben die an sich nicht sehr starke fsricdcns- aenetgtbelt der WcstmLchte nicht erhöbt. k. Dte deutiche Regierung hat tn der formellen Behandlung der vSvstlichcn KrledenSaktton Kehler begangen. 8. Auf Grund der vorliegenden Aussagen «nd Dokumente kann eS als wahrscheinlich bezeichnet werden, dab England und Frankreich Icdenfall« Ende August 1V17 ein Eingehen aus die vävit- ltche KrledenSvermtttluna mtt Rücksicht aus die gesamte Kriegslage al» nicht tn Ihrem Interesse liegend betrachteten. 7. Dte Krage, ob die pzpstltche KriedenSaktion allein durch die Berzvgernng der von ber Kurie gewünschten deutschen ErklSrung über die Freigabe Belgiens vereitelt worden tst. kann aus Grund der vorliegende» Akten und Zeugenaussagen nicht belasst werden. Punkt 4 betrifft die Friede nSresolution deS Reichstages, von der hier, wenn auch tn negativ ab geschwächter Form, zugegeben wtrb, daß sie schädlich ge wirkt hat. Arlkhfof Nansen beim Reichskanzler. Berlin, 4. Sept. Reichskanzler Dr. Wirth empfing hente nachmittag Krtthjof Nausen, der gegenwärtig in Berlin weilt. verMches und Sächsisches. Da» K»U»»«i»Mrr1u« «ege» religiöse Leelafluffu«,«". Die Nachrichtenstelle brr Slaatskanzlet verbreitet fol- genbe Meldung: Der an sich selbstverständliche Grundsatz, baß man beson ders im össentltchen Leben die religiösen Empfindungen Andersdenkender nicht verletzen soll, tst sür den Unterricht an den öffentlichen Schule« auch durch Artikel l48 Abs. 2 der Rctch-verfassung sestgelegt. Deshalb hat bas Kultusmini sterium verordnet, daß tn ber Schule jede religiöse Be einflussung außerhalb deS Religionsunterrichts unterbleiben soll. Andachten. Gebete und Kirchenlieder sind daher nur tn den ReltgtonSftunden znlässtg. Schulfeiern »nd andere Ver anstaltungen der Schule dürfen keinen kirchlichen oder reli- gtöfen Charakter tragen, sondern sind so aiiszugcstalte», daß eS jedem Lehrer und jedem Schüler möglich tst, ohne Ge- wtffenSbedenken an ihnen teilzunebmeu. Erhöhter Vrotprei» ab 6. September 1922. DaS IdvO-g-Brot 8« Mk. Der Gemetnbeverbawd Dresden uud Umgebung gisst mit ber tn der vorliegenden Nummer unserer Zeitung ab- gedruckten Bekanntmachung neue Mehl- und Vrotpreise be kannt. Es kostet hiernach vom 0. September 1022 ab dass 1000-8-Brot 9S Mk., das Wetzenkletngcbäck <75 g Semmel) 2 Mk. Alles Nähere ist au» der Bekanntmachung ersichtlich. Die erneute Steigerung des Brotpreises ist vorwiegend darauf znrückzuführen, baß die Kohlenpreise, die Transport kosten und die Löhne ab 1. September 1922 außerordentlich gestiegen sind. Neue Preise für hausbrandkohlen. Infolge der am 1. September eingetretenen Erhöhung ber Wcrkspreise, sowte der Arbeiter- und Fuhrlöhne hat sich auch eine Erhöhung der Verkaufspreise für S t e i n k o h l e n nötig gemacht. Die Preise betragen ab Bahnlager, je nach -er Sorte und Herkunft, der Zentner 840,99 bis 423,15 Mk., der Hektoltter 496^5 blS SS0.S5 Mk. Die Verkaufspreise für Brikett» flu- bereits vor einigen Tagen bekannt gemacht worben. Im übrigen bleiben die bisher gültigen Zuschläge bis auf weiteres bestehen. Verdoppelung der Julimiele. Die Festsetzung des Mietzinses für den 1. Oktober 1922 ist. wie der Rat zu Dresden. Orts mietenamt. unS mitteilt, mit Rücksicht auf die starke Be wegung der Baustoffpretse und Löhne bis Mitte September zurückgestellt worden. Die Ausführungsbestimmungen sind deshalb erst in der übernächsten Woche zu erwarten. Nach den bisherigen Berechnungen ist leider mindestens das Doppelte der Julimiete erforderlich. Hauptversammlung de» Evangelischen Jungmänner- Vondes. Eine Tagung, wie sie die Stadt Mittmcida noch nicht gesehen, bedeutete dte hier abgchaltene zweite Jahres-Hauptversammlung des Evangeli schen Jungmännerbundes für Sachsen, zu der sich etwa 4900 junge Leute eingefunden hatten. Die Stadt, namentlich Bahnhof und Markt, waren prächtig geschmückt. Die großzügige Veranstaltung begann am Sonnnbeyd mit Sportkämpfen. Am Abend versammelten sich die Teil nehmer in der Stadtkirche zur Begrüßung. Rund 120 Posau nenbläser des Bundes wirkten mit. HandelSschuldireltor Haase - Mittweida entbot den Willkommcnsgruß deS Fest ausschusses. Bürgermeister Freycr den der Stadt und Pfarrer Martens den der Kirchengemeinde. Die Fest ansprache hielt Superintendent 0. B u ch w a l d - Rochlitz. Wetter sprachen Bundeswart Pfarrer Müller-Dresden und der Bundesvorsttzende Oberkirchenrat Reimer- DreSden. Nach der Feier in der Stadtkirche zogen die über 4000 Teilnehmer auf ein Feld, wo ein großer Holzstoß ab gebrannt wurde. Sonntag früh 7 Uhr waren die Jung männer am Kriegerdenkmal auf dem Neuen Friedhöfe zu einer eindrucksvollen Feier versammelt, bei der über 100 Posauncnbläser wieder mit Vorträgen auswartetcn und Pfarrer Tei ch g rä b e r-Reinsdorf tn kurzen herzlichen Worten zu der Gemeinde sprach. Anschließend daran kam man zum Fe stgott es dien st in der Stadtkirche zu sammen, die eine solche Fülle und ein so erhebendes Bild wohl noch nie aufzuweisen hatte. Die Fcslprcdigt hatte Oberkirchenrat Reimer-Dresden übernommen. Er er örterte den Bibeltext: „Einer ist Euer Meister — Christus — Ihr aber alle seid Prüder" in Anlehnung an die Organisa tion des Evangelischen Jungmännerlmndes in außerordeni- lich packender Weise. Dem Gottesdienste folgte die eigent liche Iugendtag » ng, in der sich die Versgmmelten nach einem Referat des Dundcöwartes Pfarrers Müller zur Pflege tiefer Religiosität als Hauptarbeit des Bundes ver pflichteten und eine großzügige finanzielle Organisation im Interesse der Unabhängigkeit deS Bundes von Kirche »nd Industrie forderten. Nachmittags um 1^/r Uhr bewegte sich ein Festzug mit 85 buntfarbigen Wimpeln und etwa 200 Musikern durch die Hauptstraßen nach dem Sportplatz S «»» 8 Zs LZ ' 4 K ß- zZ z- s: Luuöerljahrfeier -er Gesellschaft Deutscher Aalursorscher un- Aerzle. Bon Dr. med. Erich Ebstein, Leipzig. »m 18. September werben sich in Leipzig, ber GeVurtS- ftiktte der Gesellschaft Deutscher Naturforscher nnd «erzte, nicht nur aus allen Gauen Deutschland«, sanbern auch aus dem AnSlande gegen zehntausend Gelehrte änsammenftnden. Mit großer Genugtuung verzeichnet eS die Leipziger Hundertlahrtagung, daß etn Forscher von dem Weltrufe Sven Hebt ns am 20. September über „Das Hochland von Tibet und seine Bewohner" sprechen wird, »u» Kopenhagen wirb Professor Johannsen erwartet, ber über „Hundert Jahre ber BererbungSforschung" reden wird. Doch versehen wir unS hundert Jahre zurück nach vetp^g! In mancher Hinsicht stimmt die Zeit ber Gründung ber Natursorscherversammlung mit der heutigen überein. Man mußte bereit» damals zu der keineswegs neuen Er kenntnis kommen, baß der „Bölkerhaß" fast etn Menschen- «lter hindurch die kultiviertesten Völker entzweit und ver bindet hatte! Nicht nur „Blut tn Strömen" war damals «ergossen, wechselseitig hatten die Völker „ihren Handel, ihre Industrie und Wohlfahrt zu zerstören sich bemüht", ja selbst »dem Austausch vo» Ideen fast unüberstetgliche Hindernisse eutS^teugetürmt". War e» angesichts dieser Tatsachen «icht ein befreiender uud erlösender Schritt, al» eS dem damaligen Hosrat Lau- re», Oken trotz aller ihm gemachten „Bedenklichketten" gelang, tu einem kleinen Auditorium „durch einige kräftige und entschiedene Worte am 19. September 1922 die nun hundert Jahre alt gewordene Gesellschaft zu eröffnen". Die Teilnahme war gering. Eisenbahnen gab eS noch nicht, und s» fanden sich von auswärts neun Naturforscher ein. mäh- rend Leipzig selbst nur vier ausbrachte. Bon den ersten Teilnehmern, die durch Nachzügler sich schließlich auf zwan zig beliefe«, mögen genannt sein: Oken selbst ans Jena, sowie der Botaniker und Zoologe Gottlieb Ludwig Reichenbach au» Dresden: au» Berlin kam Joh. Ludwig Fprmey, einer ber zu lener Zeit berühmtesten Arrzte uud Praktiker Berlins, der ». B. Jssland, den Hauptdar steller t« den Schtllerschen Dramen, zu seinen Patienten zählte. Gilbert aus Halle — damals in Leipzig — sprach über tn Pari» auSgrführte Schallversuche und Magnet- experimente. während Frortep au» Weimar Abbildungen krankhafter Zungcnbelegc demonstrierte, di«, in Hand tasche ausgesührt. sein Bruder später herausgab und die heut« »och ihrer Naturtrene wegen unsere Bewunderung er- regen. WaS der Physiologe Purkinje, was ber Göttin ger Anthropologe Blumenbach vorgetragen haben, sowte die übrigen Teilnehmer, ist uns teils nicht bekannt, teils soll e» übergangen werden. Zum Schluß muß aber hier de» Dresdner Gynäkologen und Zoologen Earl Georg CaruS gedacht werden, der nicht nur dort über die Bedeutung der Naturwissenschaften sprach und aus Genua mttgebrachte Ab- bildungen von Sepien demonstrierte, sondern der später tn seine« „LebeuSerinnerungen und Denkwürdigkeiten" die Bedeutung dieser Versammlungen zur Genüge erkannt hatte. „ES ist mir immer angenehm," schreibt er, „daß ich einer der Mitbegründer eines Unternehmens gewesen bin. welches zur Förderung jene» höheren nnd rechtmäßigen Sozialismus der Wissenschaft stets wirb bedeutend genannt werden müssen." Inzwischen hatte ber 1822 ausgestellte 8 2 der Satzungen seine Früchte getragen. Er lautete: „Der Hauptzweck der Gesellschaft ist, be» Naturforschern und Aerzten Deutschland» Gelegenheit zu verschaffen, sich persönlich kennen zu lernen." Bereits 1823 zählte man in Halle 88. tn Wtirzburg (1824) 37 besuchende Mitglieder: in Frankfurt a. M. <1825) und tn Dresden <1820) zahlte man 98 und 115 Teilnehmer. 1827 traf man sich inner dem Vorsitz des Anatomen Ignaz von Döllinger tu München. Einen Höhepunkt bildete geradezu bteverlinerBer- sammlung <1828> der Naturforscher unter Alexander v. Humboldt» Präsidium. Seinem weitreichenden Ein fluß ist eS wohl zu danken, wenn wir z. B. auS Stock holm den Chemiker BerzeltuS herbctctlen sehen und A. Netzt» S. ES war damal» am letzten Tage der Ver sammlung rin denkwürdiger Augenblick, als Karl Ernst von Baer gerade von RetzinS, einem Schweden, gefragt wnrde: „Können Sie «n» nicht da» Säugetier-Ei im Eicrstock zeigen?" „Mtt Vergnügen," versetzte Baer, „wenn ich eine Hündin erhalten kann." Eine solche wurde beim Aufwärter der Anatomi- gesunden und dte improvisierte Demonstra tion gelang. Außer RetztuS wohnten u. a. Johanne» Müller, Ernst Weber und Purkinje der denk- würdigen Nachmtttagssiyung bet. ES erscheint nicht verwunderlich, daß auch der Dichter und Naturforscher Goethe, von seinem Freunde Zelter über dte Borträge aiif der Berliner Versammlung unter- richtet, ihre Folgen in Weimar zu fühlen bekam. In EckermannS Gesprächen büren wir an verschiedenen Stellen darüber, und Eckerman« selbst berichtet am 18. Oktober 1828 seiner Braut, daß „viele große Besuche berühmter Leute" in dieser Zeit stattgefmiden. deren Bekanntschaft er auch auf dte angenehmste Weise — während ber Mahlzeiten — habe machen könne«. Für dte nächste Tagung i« Heidelberg <1829) hatte Goethe» Besuch in Aussicht gestanden. Er unterhielt sich darüber mit dem belgischen Naturforscher Quetelet, dem gegenüber sagte Goethe: „Ich weiß recht gut, daß bei diesen Versammlungen für die Wissenschaft nicht so viel hcrauSkommt, als man sich denken mag, aber sie sind vor trefflich. daß man sich gegenseitig kennen und möglicherweise lieben lerne, woraus dann folgt, daß man irgendeine neue Lehre eines bedeutenden Menschen wirb gelten lassen und dieser wiederum geneigt sein wird, unS in unseren Rich tungen eines anderen Faches anzuerkenncn und zu fördern. Auf jeden Fall sehen wir, daß etwas geschieht, und nicman- kann wissen, was dabet herauskommt." AlS dann Goethe Ende Januar 1890 den von Tiedemann herausgegcbencu amtlichen Bericht über die Heidelberger Naturforscheroer sammlung zugeschickt erhalten und einer Durchsicht unter- ogen batte — wobei ihn besonders die hinten beigegebcneu iachbildungcn der Handschriften interessierten und er aus den Charakter der Schreiber schloß —, notierte der kritische Achtzigjählige tn seinem Tagebuche: „Alles sehr erfreulich, nur noch immer nichts als Monologe. Nicht zwei Forscher, die zusammen arbeiten und wirken. Derartige Gedanken beschäftigten tatsächlich den Vorstand: man hafte allen Ernstes das Bestreben, die durch die Trennung in Sektionen erreichte Förderung der Forschung nicht zum Schaden der Allgemeinwtrkung der Zusammenkünfte euSschlagen zu lassen. So darf auch Goethe, der Dichterfürst und Naturforscher, mtt unter denen genannt werden, die der jungen Gründung — noch am Ende eines langen Lebens — ihr Interesse nicht versagten. Stand auch Goethes Reisewagen schon bereit, nm ins geliebte Neckartal zu fahren, io ließ es dte Ungunst der Witterung nicht zu. Den neun ersten Versammlungen — von Leipzig bi» Hamburg <1822—89) — hatte ihr Siegründer Oken betge- wohnt- 1831 unterbrach die Cholera zum ersten Male die geschloffene Reihe der Tagungen. Aber 1882 zog man nach Wien, wo der Leiter der Versammlung ln die denkwürdigen Worte auSbrach: „Fortan ist Nord und Süd in Eins ver- schmolzen, ein Band umschlingt unS alle und keine, keine Trennung mehr auf -entschcr Erde." Immer mehr begtstnt, wie der jetzige Archivar ber Ge sellschaft, Karl Sud ho ff. in seiner Festschrift <1922, Leipzig bei F. E. W. Vogel) mit Recht betont, „der groste Gedanke einer naturwissenschaftlichen Volksrrzichung" al» nnchttge Aufgabe ber Versammlungen mächtig an Boden. Man be tonte „bas allmählich znm Volksbewußtsein kommende Ge fühl ber Bedeutung der Naturwissenschaft für das Leben der Zeit". Auf -er lebte» vo» Oke» tu Krelburg <1888) besuchte»