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Dresdner Nachrichten : 11.09.1927
- Erscheinungsdatum
- 1927-09-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id501434038-192709113
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id501434038-19270911
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-501434038-19270911
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Dresdner Nachrichten
-
Jahr
1927
-
Monat
1927-09
- Tag 1927-09-11
-
Monat
1927-09
-
Jahr
1927
- Titel
- Dresdner Nachrichten : 11.09.1927
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ei" i»eni Aüüag 8onntag. II. §ept. 1927 Der Einzug -er Kirchoalerln. Eine Skizze aus dem heutigen Nordmähren. Bvn Walter Preußer. DaS hätte Marte Winter, des Kirchvaters Weib, be stimmt nicht gedacht, dakt sie bei ihren sechzig Jahren noch einmal einen Ehrentag erleben würde, einen Ta« vvll Sonne «na Begeisterung, an dem die Nachbarn ringsum nur von ihr. und nur Gutes und Lobenswertes von ihr sprechen würden, einen Tag. der ihr langes, mühe, und kummervolles Leben vergolden und die Erniedrigung und Scham der letzten Wochen auülöschen und verklären sollte. Eines Morgens hatte ihr der Gemeindodiener einen Brief inö Haus gebracht mit der Aufforderung, sich zur festgesetzten Stunde im Gericht des Kretsstädlchens einzustnden ,^ur Ver büßung einer vierzchntägigen Gefängnisstrafe". Und andern Tags schlich sich die Kirchvaterin zum Dorsc hinaus, mit einem Päckchen unterm Arm. Wie eine Geschlagene. «Wie eine Ver- brecherinl" murmelte sie bet jedem Schritte. Vierzehn Tage Gefängnis und vier Fasttage für eine Sechzigjährtge. die nur ihre Pflicht und Arbeit kannte und nie Unrecht tat. Was hatte sie doch Schlimmes getan? Nun ja, sie mochte die Fremden nicht leiben, die jetzt hier im Orte und überall im Lande sahen und sich als die Herren fühlten und als die Herren gebärdeten. Keiner mochte sie ja und die Ktrch- vatcrin schon gar nicht. Sie kannte ihre Sprache nicht und hahtc ihre herrischen Blicke. Und darum war sie auch so anher sich, als man ihr antrug, die Bedienerin der neuen Schule zu werden, die die Fremden einzurichten gedachten. Sie besah nicht Schlangenklugheit genug, um mit allerlei Aus- flüchte» abzulehnen. Weil sie vielmehr gewöhnt war, auS ihrer Gesinnung kein Hehl zu machen, fiel ihre Ablehnung ebenso offen und ehrlich, wie derb und deutlich aus. Die Folge war. bah sie wegen Beleidigung vor das Gericht gefordert wurde und nun ihre Strafe abbühcn muhte. Fa, von Be leidigung hatte der Richter gesprochen, von Insubordination und Untergrabung der Staatöautvrität, von Konstatierung eines Exempels und vielen anderen Dingen, die sie nicht ver stand. Und als sie auf seine rasselnde» Fragen ihre schüchternen Antworten gab. hatte er von Verstocktheit und Vaucrntrotz gesprochen. Marie Winter glaubte nicht, dah sie die vierzehn Tage übcrstehcn würde. Sie wollte auch nicht wieder in ihre Ge meindc zurück. Irgendwohin wollte sie ziehen, wo niemand sie kannte. Dort würden die Leute dann nicht mit dem Finger auf sie zeigen und die Straßenbuben würden nicht an den Ecken stehen und sie fragen: .„He. Winterin. wie war's?" Sie übcrstand die vierzehn Tage. Der Kirchvater kam. um sic hcimzuholen. Sie brauche sich nicht zu fürchten, tröstete er sie. Er bringe Grübe mit von den Leuten im Dorfe, von allen. Keiner werde mit dem Finger nach ihr zeigen, und die Strahenhuben würben fein stille sein. Eine Unruhe sei im Dorfe, wie ist einem Bienenstöcke: irgend etwas werde vor bereitet. , Und so fuhren sie doch wieder zurück, der Kirchvater und sein gedemütigtes Weib. Als, sie mit der Bahn im Dörfchen einfuhren, hörten sie schon dtze Klänge eines Marschliedes, das ihnen noch aus den stolzeipKagen der Vergangenheit in Erinueruflg war. Musik im Dorsc, an einem_arbeiisschmercn Erniettige? Jawohl, alle Musikanten hatten sich eingefundcn. War der Tag auch noch so schön Nnb noch so nötig für das Feld, ein paar Stunden muhte heute gefeiert werden, um die Kirchvaterin abzuholen. Und die Instrumente waren geputzt, dah sic in der Sonne nur so blitzten. In langer Reihe standen die Wagen der Bauern. Erntewagen und Sonntagskutschen. Die schönste war für die Winierin bcrcitgestellt. Die MädelS hatten ihren Feiertags staat an und dicke Kornblumcnbnschen in den Händen. Und die jungen Burschen brachten Eichcnzmeige. Kornblumen und Eichenzwcigc zur Begrüßung einer Strafentlassenen. Der stolze, wortkarge Bürgermeister drängte sich vor und gab ihr die Hand. .Mittlerin, wir freuen uns alle, dah Ihr gesund zurückgekommen seid und wir wollen euch nur sagen, dah ihr uns keine Schande gemacht habt." Und dann fuhr er sie selbst in seinem Wagen durchs Dorf, der reiche, stolze Bürgermeister. Die Musik schmetterte, dah die Fenster anfflogen. Die Strahcn entlang standen die Aclicsten und Jüngsten und nickten und winkten, wenn der lange Wagenzug vorübcrfuhr. Bis zum Ende des Dorfes ging das feierliche Geleite. Dort lag der Winterin HänSchcn, das heute bräutlich geputzt und geschmückt war. Ein kräftiger Bursch hob die Kirchvaterin vom Wagen. Eie konnte nicht sprechen und hatte Mühe, die Tränen zu trocknen. Aber der Kirchvater lieh die Musik schweigen. ,Lthr Lieben! Das war unser schönster Tag im Leben. Und es hat unS sehr gefreut, das, ihr uns so geehrt habt, und dah ihr unsere Strafe so gelohnt lnibt. Wir bedanken uns dafür." Ich könnte nun dieses bescheidene Gcschichtchen dadurch ansklingen lasten, dah ich erzähle, wie die Musikanten nach Hanse gingen, wie die Bancrn den Rock auszogen, um noch eine Fuhre Heu hereinzuschasfen und wie die Kirchvaterin selbst noch einen Korb voll Futter für ihre Ziegen auf der Wiese holte. Nur weih ich zu genau, dah irgendwo hinter versteckten Fenstern ein Paar Spähcraugcn der Kirchvaterin anflanerten, dah noch am selben Abend ebne Anzeige in die nahe Kreisstadt gesandt wurde mit den Namen aller derer, die am Empfang beteiligt waren. Die Diener -er Fremden werden wieder ins Dorf kommen und alle die zur Nechen- schasc ziehen, die der „kleinen Heldin des Tages" gehuldigt haben. Vielleicht werden neue blaue Briefe in die Häuser flattern und zum Strasantritt anfforbern. Das Beispiel der Kirchvatcrln wird allen voranleuchten und wird ihnen Kraft gebe», für ihre deutsche Gesinnung etnzustehen und auch zu dulden. Besuch bei allen Leulen. Von Fred Hildenvrandt. ES ist nicht ganz sicher, ob eö die Tragödie des jungen Menschen war oder die Tragödie des alten Menschen, was sich an merkwürdigen Dingen an diesem Tag« ereignete. Aber wahrscheinlich war eS nur das Gespenst der unbarmherzig jagenden Zeit, des AelterwerbenS, deS Näher-dem-Grabe-zu. Einen Tag lang und nicht einmal einen Tag lang, sondern mir einige Stunden lang war Zeit, einen Ausflug zu tun, eine kleine Reise zu machen, einige Kilometer hinter sich zu werfen, also stand gegen Mittag der schlankste, schnellste klein« Wagen bereit, mit nur zwei tiefen Sitzen, aber einem barbarisch langen Kühler. Es war eine Gnade, dah dieser Wagen nur zwei Sitze hatte, denn cs hätte geschehen können, daß irgendeine ver- wandtschastliche Bindung hätte etngegangen werden müssen, kurz: man hätte vielleicht noch diese ober jene Frau oder auch noch einen Mann mitnehmen müssen. Aber solche Wintertage, wenn ein leiser Regen riefelt und die Welt etwas grau ist und wenn man selber etwas grau ist von ungefähr in einem Winkel seines Wesens, da ist eS schon besser, es sitzen nur zwei Männer nebeneinander im Wagen, die wissen, dah man durch Stunden miteinander das Maul halten kann: es besteht keine Verpflichtung zur Unterhaltung und zum Geschwätz: so geht eS dahin auf den nassen Straßen, durch die sonntäglichen Dörfer. Und wohin fährt man denn? Nun. man hat einer plötzlichen Sehnsucht nachgegeben und will in ein stilles Nest nach Rheinhessen fahren, wo noch einige alte Professoren wohnen, vor denen man auf der Schulbank sah. Wo noch da» Haus steht mit dem kleinen Park. Wo dt« kleinen Gasten sich krümmen den Berg hinaus Und tief im Wagen fährt man gegen den Rhein. Dann ist er da. grau bas wette Master, grau die Rebenberge, grau die Fähre, grau der Himmel: hinüber über den Strom, eine Stunde über die Hügel, und dann liegt im Tal. schon beinahe in der Dämmerung, das stille Nest: zum Donnerwetter, waren die Gassen immer so hahnebüchen schmal? Sie waren immer so schmal, nur das Leben damals mit achtzehn Jahren, das war nicht schmal, das war so breit wie daS Meer und so hofsärtig wie der Himmel, und alles hatte ge waltige Maße. Ach. unser kleiner Wagen paßt kaum in die engen Straßen, und unter den Menschen, die an diesem Sonn tag und an jedem Sonntag seit vielen hundert Jahren hier sich ergeben, unter diesen Menschen entsteht ein Ausruhr, sie werden links und rechts an die Häuser gedrängt, und ich liege tief verwundert im Sitz und bin mitten in einem Traume, es ist mir, als sei ich hier einmal gewesen, als sei auch ich hier einmal an den Sonntagen durch die engen Straßen gegangen, ich weiß, daß ich viele von den kleinen Häusern schon einmal gesehen habe, aber nein, es kann nicht sein, eS kann nur ein Traum sein, niemals bin ich hier gewesen. Kreuz und quer geht es durch die Gasten, hier wohnt ein alter Lehrer, er gab Deutsch, malte sein Selbstporträt immer wieder in Oel und mißtraute mir in allen Lebenslagen sehr heftig, und ich weiß, daß er mich hinter seinem Vollbarte sehr gern hatte. Wenige Minuten nur war Zeit für jeden Besuch, denn der Winternebel kam früh am Abend, und dann gibt es ein schlechtes Fahren. Also hielt der Wagen mit seinem sonoren Motordonnern kurz vor dem Hause, im Pelz bis an den Hals, Lederkappe aus und über der Stirn die große Brille, so klingelte man an der Tür des kleinen Häuschens. Wurde in ein dunkles Zimmer geführt, da stand eine breite Gestalt auf. die suchte mühsam das Gesicht. Und dann stand ich dem alten Lehrer gegenüber, der Voll bart war verschwunden, aber die unglaublich kurze und un geheuer gutmütige Nase war noch unversehrt mitten im Ge sicht gehißt, und die ungeheuer näselnde Stimme kam noch in unverminderter Gewitterschwüle daher aus dem Dunkel. Ja. er kannte mich noch Ja. es ginge ihm gut. Ja, es sei eine schwere Zeit. Wir saßen einander unsäglich verlegen gegenüber, er strich sich über das kahle Kinn, und ich zerrte an meinen Hand schuhen: lieber Gott, lieber Gott, dachte ich, gibt es das wirk lich? Zehn Jahre waren an diesem Manne vorübergegangen, und er hatte sich nicht verändert, wie einbalsamtert kam er mir vor mit seinem weichen weißen Teint, hoffnungslos standen noch dieselben Nippsachen herum auf denselben Bücher schränken, dieselben Bücher, er redete, und ich weiß nicht mehr, was er redete: es war wieder, als habe ich das schon einmal erlebt, aber ich wehrte mich dagegen, daß es einmal Wahrheit gewesen sei. Nachher stand er unter der Haustür, ich liebte ihn sehr in diesem Augenblick, den alten guten unversehrten Herrn, den gespenstigen Mann, dessen bleiches Antlitz in der Dämmerung vor mir stand, eS donnerte der Wagen, wir fuhren ab, nach wieder sehn Jahren wird er vielleicht nicht mehr da sein, sondern ebenso bleich und unversehrt in dem kleinen Kirchhof liegen am Berge. Und wieder ein HauS. Und wieder ein alter Herr. Und wieder ein verlegenes Gegenübersitzcn und vorsichtiges fremdes Miteinanderreden. Und wieder ein Gespenst, ein freundliches Gespenst unter der Haustür beim Wettersahren. Und dann die alte Anstalt mit dem kleinen Park. So, so da schoß man mit seinen achtzehn Jahren her um, da tobte einem das Herz los wegen einer geringen kleinen armseligen Glückseligkeit, so, so. heulen könnte man, wie war das alles verschollen, diese junge unwiederbringliche Zeit, so, so. sentimental wird man auch noch, und hier sagten die Mäd chen vorbei, so, so. und an der grauen Tafel sind die Namen derer, die im Felde geblieben sind, so viele? Alle hat ,nan gekannt, so. so, die sind alle tot? Und mit einem Male ergreift einem eine himmelhohe Angst vor dieser kleinen Stadt, vor diesen alten Professoren, vor diesen Häusern, vor dieser Dämmerung, vor diesen Er innerungen, es schießt einem lächerlich heiß und unhemmbar in die Augen, man rennt hinaus, sagt heiser etw«s von Wetter fahren, so. so, das also ist die unheimliche Kraft von Erinne rungen, das schüttelt einen von oben bis unten, und das Ka russell der Jahrhunderte dreht sich vor einem, alle haben sie so dahingelebt, waren jung, die Haare wurden grau, der Kopf kahl, die Mädchen wurden klein und krumm, welkte bas ganze Geschlecht, verdorrte das Blut, erlosch der Blick, andere kamen, so geht das nun, so geht das nun, tausend Jahre und wieder tausend Jahre. Das Städtchen versank in den Nebeln, ein böser Traum, nein, ein Traum nur ein Nebel, die breite Straße zieht feucht dahin, die Scheinwerfer suchen, der Motor donnert ich glaube, es ist nicht wahr, daß ich jemals in diesem Nest gelebt habe, es sah so aus, als sei es dasselbe Nest, aber wir haben uns sicher im Weg verirrt, es war ein ganz anderes Städtchen, niemals war ich da, ist das überhaupt wirklich, was da jetzt vorbeifliegt: Nebel, Baum, Feld. Wald mein Lieber, mein Lieber, ist es denn überhaupt sicher, daß du auf der Welt bist? Und wenn es so wäre, daß du wirklich auf der Welt bist, ist das denn zum Aushalten, daß er so kurz ist, diese jänrmer lichen paar Jahre? Der Wagen ist mitten im Nebel, die Nacht ist da, wir sind sehr müde. Aellaeeuna. Skizze von Leo am Brühl. Als ich am vergangenen Donnerstag zur gewohnten Abendstunde zu Geheimrat M. kam, öffnete mir der berühmte Toxikologe selbst die Flurtür. „Ich habe mich heute verspätet und bin im Augenblick erst nach Hause gekommen", sagte er, während er mir die Hand reichte, „aber treten Sie deshalb ruhig näher." Er wartete, bis ich abgelegt hatte, und öffnete dann die Tür zum Erkerzimmer, in dem wir unsere Partie Schach zu spielen pflegten. Wir gingen hinüber zum Fenster,' der Spieltisch, der dort stand, war nicht vorbereitet. Geheimrat M. bat mich. Platz zu nehmen, blieb aber selbst stehen und sah mich eine Weile nachdenklich an, als sei er unschlüssig, Ehe ich eine Frage stellen konnte, wandte er sich zur Sette, trat an den wuchtigen Bücherschrank und entnahm einem Fach ein schmales Aktenstück. „Seien Sie mir nicht böse", sagte er und blätterte in den Papieren, „daß ich Sie jetzt wenige Minuten allein lasse und zuerst Abendbrot esse. Wenn Sie damit einverstanden sind, lassen wir heute das Schachbrett eingeschlossen und unter- halten uns nachher eine Stunde. Ich werde heut« kaum bei der Sache sein, denn ich bin verstimmt und unzufrieden mit mir selbst. Manchmal, wissen Sie, verzweifelt man an sich und seiner »Kunst". Aber wenn Sie schon meinethalben auf da» Spiel verzichten, bann haben Sie ein Anrecht darauf, zu erfahren, weshalb ich dieses Opser von Ihnen verlange." Er zog ein Schriftstück aus den Akten und reichte es mir hin. „Lesen Sie diesen Brief", fuhr er halblaut fort, „ich glaube, daß er auch für Sie als Laie einiges Interesse hat. Der Schreiber ist der bekannte Doktor Baldus, der die von der brasilianischen Regierung ausgerüstete Expedition zur Erforschung der ungeheure» Urwälder am Amazonas leitet. — Und jetzt entschuldigen Sie mich!" Er gab mir die Hand und verließ dann den Raum mit müden Schritten. Im purpurnen Licht der untergehcnden Sonne las ich: „. . . Ich setze voraus, daß unterdessen mein Bruder, den ich um Vermittlung bat, mit Ihnen, sehr geehrter Herr Ge- heimrat, gesprochen hat. Domingo, der Ihne» wohl also kein Unbekannter ist und den ich eigens »ach Deutschland schicke, damit er sich in Ihre Behandlung begeben kann, überbringt Ihnen selbst diesen Bericht. Die Vorgänge, die Ihnen mein Bruder sicher schon an- gedeutet hat, spielten sich in folgender Weise ab: Ich hatte damals mit meinen Leuten in einem ver- lassenen Jndianerdorf ein befestigtes Lager ausgeschlagen, weil wir wegen der Ungunst der Witterung nicht weiter konnten. Während die mir zugeteilten Negierungsbcamten und die eingeborenen Träger in den Hütten blieben — es ist nicht ganz ungefährlich hier,- in den letzten Jahren sind über zwanzig Expeditionen spurlos verschollen —, hielt cs mich nicht innerhalb des verschanzten Ringes. Ich unter nahm mit einem eingeborenen Ketschua und mit — Domingo täglich Streifzllge in die Umgebung, um die Zeit nicht ganz unbenutzt zu lassen. Eines Tages nun machte mich Domingo darauf aufmerk sam, daß der Ketschua, wenn wir bei unseren Wanderungen im Urwald an bestimmte Stellen kamen, ein sonderbar ge drücktes, ängstliches Wesen an den Tag legte. Ich beobachtete den Eingeborenen schärfer und fand Domingvs Feststellungen richtig. Aber nach Tagen erst gelang cs mir mit Ver- sprechungen und Drohungen, den Ketschua zum Reden zu bringen. Sein Bericht war phantastisch genug. Es seien Zeichen im Walde angebracht, erzählte er, geheime Kerbbuch, staben in gewissen Bäumen. Das bedeute, daß in der Nähe ein Tempel der Aellaeeuna sei, den man nicht betreten dürfe. Wenn ich auch die Aussagen des Eingeborenen nicht recht ernst nahm, so wollte ich doch wenigstens untersuchen, was Anlaß zu dieser Annahme eines uralten Tempels hier mitten in der Wildnis gegeben haben mochte. „Aellaeeuna", die Abgeschlossenen, hießen zur Zeit der Inkas, als Peru entdeckt und von Pizarro erobert wurde, die Jungfrauen, die vom Volke dem König als Tribut zugeführt wurden. Sie waren in Nonnenhäusern, Acllachuasi, untergebracht und wurden zu Kultzwecken ausgebildet. Ich konnte demnach glücklichsten Falles eine Ruine finden. Aber der Ketschua war anderer Ansicht. „Die Aellaeeuna sitzen noch im Tempel, Herr", beichtete er zitternd, „wenn ein Gewitter vom Himmel fällt, dann erwachen sie aus ihrem Schlaf und sprechen. Wer sich ihnen nähert und sie anfaßt, muß zwölf Monate danach sttzrben. Wer in den Tempel geht, wenn ein Gewitter vom Himmel fällt und die Aellaeeuna wach sind, der stirbt auf der Stelle!" — Ich hatte wenig Hoffnung, etwas von diesen Wunderdingen zu finden. Und doch, eines Tages kam der Mulatte Domingo, den ich etwas vorausgeschickt hatte, mit allen Zeichen der Aufregung zurück und meldete mir, daß er einen halbverfallenen Stetnbau mitten in einem Sumpf gelände gesehen habe. Eine halbe Stunde später stand ich selbst vor dem Gemäuer. Wie ich gleich vermutete, fand sich ein künstlicher Damm als Zugang zu dem unheimlichen Stcinskelett. Der Ketschua hatte nicht zuviel gesagt. Im Innern des „Tempels" saßen auf Steinbäukcn in zwei Nethen einander gegenüber — die Aellaeeuna! Als Mumien natürlich! Die alten Inkas waren nicht ungeschickter als die alten Aegypter. Der Sitzungsraum der Toten erhielt durch einen unsichtbaren Lichtschacht eine seltsame Beleuchtung, die beängstigend wirkte. — Ich habe immer die Erfahrung ge macht, daß an allen Dingen des Aberglaubens, die in einem Volk wurzeln, irgend etwas Wahres ist. Deshalb blieb ich den Aellaeeuna, die auch gar nicht einladend aussahen, ziem lich fern. An einem der nächsten Tage dann wartete ich ein Gewitter ab, um bei den Svnnenjungfrauen zu sein, wenn sie lebendig würden. — Ich ging mit Domingo durch den schmalen Gang ins Innere der Ruine, sah mich genauer um, skizzierte dies und das flüchtig. Dann prasselte draußen das Gewitter herunter. Der Ketschua stand auf dem schmalen Damm und war nicht zu bewegen, zu uns hcreinzukvmmcn. Und nun geschah das Unfaßbare: die Mumien erwachten zu einem gespenstigen Leben. Die gelbroten Gesichter verzerrten sich, hier öffnete sich ein Mund, dort einer... sie schienen zu sprechen . . .1 Domingo taumelte zurück und stammelte irre Stoßgebete. Mit aller Willenskraft schüttelte ich das Grauen ab und trat näher an die lebenden Toten. Da sah ich, daß es Lichtreflexe waren, die von oben in dauernder Bewegung über die Mumien hinliefen, so daß ein Muskclsptcl vor getäuscht wurde. Nun untersuchte ich den Lichtschacht. Er bestand aus einer kunstvoll angelegten Reihe von geschliffenen Steinplatten, die als Spiegel wirkten — wenn sic naß waren. Dazu kamen das Aufzucken der Blitze und sofort nach Be endigung des Wetters der grelle Sonnenschein. Das Rätsel schien mir gelöst. — Aber ich hatte mich getäuscht. Während vordem der Raum trocken geblieben war, sickerte jetzt die Feuchtigkeit durch. Eine Minute später war das Innere des Tempels tn Wolken eines gelben Gases gehüllt. Ich sah Domingo röchelnd taumeln und gegen eine der Mumien fallen. Noch hatte ich die Geistesgegenwart, ihn hochzureißcn und tn den Durchgang zu zerren. Dort muß ich selbst be täubt umgefallen sein. Der Ketschua brachte uns ins Freie. Ich nehme an, daß der Boden mit irgendeiner Masse getränkt oder bedeckt ist, die, wenn sie feucht wird, giftige Gase aus- ftrömt. DaS Abenteuer schien zu Ende. Da, genau ein halbes Jahr nach dem Vorkommnis, kommt Domingo und zeigt mir seine Hände. Sie sind übcrsät mit entzündeten Stellen, die sich täglich weiter verbreiten. Ich versuche alle Mittel, die zur Verfügung stehen. Umsonst! — Bis mir die Drohung des Ketschua einfällt: „Wer sie anfaßt, muß zwölf Monate später sterben!" Und Domingo war gegen eine der Aellaeeuna gefallen . . . Das wird die Erklärung sein: die Mumien sind mit einem Giftstoff bestrichen, der in die Haut dringt und in einer genau berechneten Zeit das Zerstörungswerk beginnt. Ich konnte nur eines für den armen Kerl tun, ihn mit dem nächsten Regierungsdampfer nach Para und von dort nach Deutschland zu schicken, zu Ihnen. Ich glaube und hoffe." AIS ich den Brief sinken ließ, stand der Geheimrat in der Tür und blickte mich an. „Wir nahmen ihm einen Arm ab", sagte er fast flüsternd, dann den anderen . . . Und heute früh starb der Acrmste unter unbeschreiblichen Qualen — genau zwölf Monate nach seinem Besuch bet den Aellaeeuna! Hilflos stand ich dabei, ein Stümper! Den Toten sezierten wir und fanden — nichts!"
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