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Dresdner Nachrichten : 12.09.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-09-12
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id501434038-189909124
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id501434038-18990912
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-501434038-18990912
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Dresdner Nachrichten
-
Jahr
1899
-
Monat
1899-09
- Tag 1899-09-12
-
Monat
1899-09
-
Jahr
1899
- Titel
- Dresdner Nachrichten : 12.09.1899
- Autor
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Seite <30. Belletristische Beilage zu den „Dresdner Nachrichten". Belletristiches Beilage »n den „Dresdner Nachrichten". Seite 431. Menschen blickten sich auch aus der Gasse nicht selten nach ihr um, und wenn »an sie so ernst und so weltabgewandt embcrschreiten sah, schien's dem Gerecht denkenden unmöglich, daß sie eine berechnende Gefallsüchtige sei. daß sie sich ehelicher Treue und ehelicher Pflichten tn den Todestagen ihres Mannes ent- rathen baden sollte. Tenn so stand cs in der Stadt. Man verurtheilte sie ohne Milderungs- Gründe. Man besuchte sie nicht, geschweige denn, daß man sie einlud. Leigte sie sich öffentlich, wich man ihr ans oder erwiderte den von ihr Pwrst gespendeten Gruß mit kühler Zurückhaltung. Viele anonyme Briefe mit empörenden Schmähungen hatten sie erreicht. Zahllose beschimpfende Reden der kommen Weiber hatte chr Frau Dijon in Mer harten Rücksichtslosigkeit zngetragen und nicht daraus geachtet, welche Dolche sie Marianne damit in's Herz stieß. Sie wollte sie bestem! Nur so, meinte die furchtbare Frau, könne ihre Tochter Einsicht gewinnen, nur so rönne sie für die Zukunft in sittlicher Hinsicht gefördert werden. Sic mußte davon betroffen werden, wie man Abweichungen, gleich denen, deren sie sich schuldig gemacht, bestrafte! Als Marianne zu dem Haus ihrer Eltern cmpvrstieg, empfing sie der alte, kleine Haushund Droll. Er wedelte mit dem Schweis; er gab sich ganz so Wie einst, als sie noch jung und glücklich gewesen. Er wußte nichts von dem Gerede der Welt. Er kannte nur das liebe, gutherzige Geschöpf, das ihn so oft auf den Arm genommen, ihn geliebkost und gefüttert hatte. »Troll, mein Troll! Mein kleiner Hund." stieß die Frau, der jetzt so leicht das Naß in die Augen trat, in tiefer Rührung heraus. Sie verglich das Benehmen des unvernünftigen Geschöpfes mit der Haltung Derer, die sich Gottes Kinder nannten. Wahrlich I Wer in der großen Welt gelebt hatte, der konnte schier an ihr verzweifeln! Komödie spielen, äußerlich fein besonnen und schablonenhaft sein, das zierte allein den rechten Christenmenschen! Erbarmen! Gerechtigkeit, ein Erinnern, daß ein Heiliger in keines Erden- «enschen Körper stecke, das gab's nicht. Und ihr, Marianne, waren die Eltem gar noch die strengsten Richter. .. Mutter war wieder einmal beim Reinmachen! Ja, wenn sie ein wenig von der zärtlichen Liebe, die sie ihren Möbeln widmete, ihren Töchtern gegönnt hätte. Ein Zug von Auflehnung und Bitterkeit trat in das Angesicht der an keinem Trug und Geschehniß der sie umgebenden Welt ohne tieferes Nach denken vorüberschreitenden jungen Dulderin. Welch' ein Lebensinhalt für eine gebildete Frau. Klopsen, Reinmachen. >en, den tobten Dingen sich täglich widmen mit Bücken und Knien und ren! „Ah, Tu bist's. Geh' nur herein! Tein Vater sitzt schon beim Kaffee. Wir trinken ihn heute in seinem Zimmer. Ich komme —" sprach die vor der zurücktretenden Magd aus ihrem Staubparadicfe hervorschreltende Frau Dijon, warf auf ihre Tochter einen kurz musternden Blick, nickte sparsam und begab sich wieder zurück, uni noch einen eben ertheilten Befehl wegen abzunehmender Gardinen zu kontroliren. Herr Dijon saß in seinem schönen, bequemen Arbeitsgemach zurückgelebnt in einem Sessel und las die Zeitung. Neben ihm standen eine Kaffeetasse, Zucker und Rahmgnß. Ueber dem Zeitungsblatt blauten Dampfwolken seiner brennenden Cigarre. Er veränderte seine Stellung zunächst nicht. Er nahm an. daß Frau Dijon eingetreten sei. Nun aber erhob er das Haupt, sah Marianne, die da vor ihm stand in hirer blossen, dunklen Schönheit, und sprang empor. Das ungemein vornehme Aussehen seiner Tochter überraschte ihn. zog ihn deute besonders an. »Endlich, endlich einmal, Iliarianne," begann er erfreut, half ihr goß Spiritus in einen sie ihrer Tochter näher. Mantel lösen und rückte einen Stuhl, Größter Zuvorkommenheit aufforderte. Er war im Grunde ein Kavalier in den er sie sich niederzulasten den mit Vom Scheites bis zur Aber die meine durchaus dagegen „... Zehe. S Frau mit ihrem engen Horizont und die kleine Stadt mit ihrem elenden Kleinkram und beschränkter Lebensauffassung Hallen ihre Wirkung stets stärker aus ihn ausgeübt. Bei Marianne trat eine ernstliche Feierlichkeit im Wesen zu Tage, und nachdem sie sich eben gesetzt hatte, sagte sie rasch, als ob Verzug ihre Ab sichten beeinträchtigen könnte: »Ich komme heute, Papa, um mit Euch etwas Wichtiges zu besprechen. Thu' mir die Liebe und stelle Dich aus Seite, ich bitte Dich ----- - sträuben wird »Was ist's denn? Was hast Du denn, mein Kind — ?" fiel Herr Dijon. Vorläufig ahnunglos und deshalb mit sanfter Güte ein. »Ich möchte Gras Krcwe heiralhen, sofort heirathen, ich möchte endlich mit Bründe und seinen Einwohnern ein für alle Mal abschließen! Das ist's Papa" „Ach. nun kommst Du wieder damit, Marianne, und kaum, nachdem Dein trefflicher Mann im Grabe liegt! Brauchst Du denn immer Neues? Hast T» an den furchtbaren Vorfällen dieses Jahres nicht genug, treiben sie Dich nicht zur Einkehr und Stille? Krcwe! Er ist ein Abenteurer! Ich weiß cs. Marianne, daß Du nicht glücklich wirst, — Sein Name, sein großer Rrichthnm reizen Dich. Aber es ist nicht das Rechte. Nein. Marianne! Ich kann Dir nicht zu Willen sein! Und Du irrst Dich nicht. Niemals Wird Deine Mutter —" In diesem Augenblick trat Frau Dijon in s Zimmer. Sie hielt de» Oberkörper steif, ebenso das Haupt, und einen Schlüssel loch, den sie in der Hand hatte, setzte sie mit einer Miene auf einen Neben- tisck, als ob sie ein sür's Herncherthum vordem herbeigcholtes Lcepker wieder bthnk. Auch schritt sie erst aus die Kaffeemaschine zu, Untersatz und entzündete ersteren. Tann erst Kat , . .. nickte spröde und legte eine Summe von nörgelnden Fragen in einen einzigen stummen Blick. lind dann sprach sie: „No, Kind, es wurde auch Zeit, daß Du Dich ein mal sehen ließest. Das sei vorausgesandt. Schon wollte ich schicken und mich nach Dir erkundigen lassen. Ist denn die Geschichte mit Deiner Köchin jetzt in Ordnung?" „Nein! Die ist noch nicht in Ordnung. Und es ist mir auch ziemlich gleichgiltig. Ich komme heute in einer sehr wichtigen persönlichen Sache. Ich möchte Euere Zustimmung zu meiner Verlobung mit dem Grasen Krewe cinholen!" Marianne sprach's kalt. Durch ihres Vaters Haltung hatte sich bereits ein furchtbarer Trotz in ihr aufgehäuft, den Rest empfing sie durch ihrer Mutter Begegnung. Dennoch nahm sie die nun folgenden, alles Matz über schreitenden Ausfälle der Frau Dijon schweigend entgegen und sagte, sich Krewe's Wünschen erinnernd, blos zum Schluß mit kühler Ruhe: „Wohlan denn! Lassen wir die Sache! Etwas Anderes aber, und das wollte ich überdies melden. Ich reise Mittwoch früh nach Hannover zu Jmberte. Ich kann's hier nicht mehr aushnlten. Ich will» auch nicht!" „Na, und warum denn so ylötzlich? So etwas muß doch ordentlich vor bereitet werden! Jmberte weiß kein Wort. Sie schreibt nichts von Deinem Kommen! Du kannst ihr doch nicht so ohne Weiteres in s Haus fallen! Und hast Du denn auch die Kosten überlegt? Bist Tu so gut fituirt, daß Du —" „Ach. Mutter." stieß die junge Frau in grenzenloser Verbitterung heraus. Es überwältigte sie, obschon sie sich vorgenommen batte, auch bei dieser Er örterung ihren Gleichmuth zu bewahren. Aber allzu heiß kochte ihr das Blut. „Na — ?" fuhr die Frau ans und musterte ihre Tochter mit einem nieder schmetternden Blick. „Kannst Tu nicht einmal eine verständige Rede anhören, ohne ein ausfallendes Betragen an den Tag zu legen ? Was heißt das: Ach, Mutter! — Bin ich das Kind und bist Tu die Erfahrung? Ich denke. Du solltest Deine paar Groschen zusammen halten, sie und Deine Triebe, die immer was Neues und Anderes wollen. — Welches Gerede, ja, welche Schande hast Tu schon über uns geb—" Aber weiter gelangte Frau Dijon nicht. Zurücktretend, die Hände ballend und vor ihrer Mutter sich emporrichtend mit flammenden Augen, stieß das bis in's Innerste verwundete Weib heraus: Schande, sagst Du — wagst Tu zu sagen, Mutter, während Tu weißt, wie die Dinge liegen, während ich Euch schwor, daß ich die Wahrheit redete, diese Wahrheit Euch Doktor Halbe bestätigte? Das, obschon ich meinem sterbenden Gatten Alles sagte und anstatt eines Vorwurfes Liebe und des Vertrauens in seinem Auge der Becher über, und wärst Du nicht meine barmherziges Ich verwünschen, würde ich Dir hier in dieser ernsten Stunde sagen, welche Vergeben Tu an meinem Vater und welche Tu an Deinen Töchtern während ihrer Lebenszeit durch Deine Tadelsucht, Deine Hätte. Deine Berufungen und Lieblosigkeiten begangen hast! Ich will's nicht! Ich will Dich um seinetwillen schonen, den ich mit ganzer Zärtlichkeit liebe, ob gleich auch er. von Dir beeinflußt, sein großes, gutes, vornehme» Ich in ein kleines verwandelt hat! So — das ist mein Wort. Und nun höret meinen Willen: Ich reffe übermorgen, ich reise dahin, wohin es mir gefällt, und ich thue, vom heimathlichcn Boden gerade von ihr, meiner Mittler, sortgescheucht. was mir gefällt. Schergen giebt es nicht, die Ihr oder irgend Einer mir nachsenden könnt! Ich bin ein freier Mensch und habe mich nur vor meinen eigenen moralischen Gesetzen zu verantworten! Adieu! Wollt Ihr etwas, früher oder später, so suchet mich! Ich klopfe zum zweiten Mal nicht wieder an Euere Thür —" Sprach's, nahm Hut und Mantel an sich und entwich aus dem Hause, ehe der tief erschrockene und erregte Mann sie daran hindern konnte. Tie Frau war in einen Stuhl gesunken, und zum ersten Mal in ihrem Leben waren ihr die Worte versagt j In ihrem Wobngemach. zum Ausgehen gerüstet, stand Frau Jmberte von Tachuhr, die Frau des Hauptmanns Baron von Tachuhr, und glättete j die Handschuhe über ihre hübschen Grinde. Sie hatte ihren Mann in Bründe ! kennen gelernt, auch dort sich verheirathet, war aber wegen Versetzung ihres ^ Gatte» mit ihm schon, nach kaum einem Jahr nach Hannover übrrgenedelt. ! Jmberte fühlte sich in ihrer Ehe ungemein glücklich. liebte ihren Mai», und ^ freute sich mit diesem jeden Tag über die Schick'alsfügung, den fortwährenden Bevormundungen ihrer Mutter entgangen zu sein. Infolge des Zwanges eines Verkehrs mit dieser war ihr auch ihrer Schwester Mariannes Entschluß, Brände zu verlassen, wohl begreiflich. Sie hatte ihr geschrieben, daß sie in gleichem Falle ebenso gehandelt haben würde, und daß sie und ihr Mann sie dringend bäten, eine längere Zeit Gast des Tachuhr'schen Hauses sein zu wollen. Weniger waren sic allerdings von Mariannes Beziehungen zu Krcwe erbaut. Ohne ihn zu leimen, besaßen sie zufolge der Vorgeschehnisse ein Borurtheil gegen ihn. auch waren sie der Ansicht, daß sich Marianne nicht über die herr schenden Sitten hinwcgsetzen dürfe. Man lebe einmal mit der Welt! Man solle schon deshalb nicht von dem Bestehenden abwcichen. weil auch in solchen Dingen der Einzelne dem Ganzen sich einzufügcn habe. Sie wüßte», wie abfällig man Marianne in Brände beurtheilte. und sahen in einer so rasch erfolgenden Vermählung eine Art Herausforderung zu einer noch vernichtenderen Kritik der Lebensführung ihrer Schwester. Unter solcher Stimmung und solcher Stellung zu Marianne Katen Jmberte uird der sich seiner Frau aus dem Flur anschließende Hauptmann den Weg zum Abholcn ihrer Schwester und Schwägerin zum Bahnhof an. Der Hauptmann war ein ungemein schlank gebauter, großer Manu niit sehr regelmäßigen Zügen und jenem Werthlcgen aus äußere Erscheinung, das leicht bespöttelt wird, das aber, falls es nicht ausartet, doch eben das Produtt eines feineren Geschmacks zu sein pflegt. „Es ist nur gut, daß Marianne auf den Wunsch .Krewe's nicht ein gegangen ist, mit ihm in Berlin zu bleiben." erklärte Jmberte, während sie. in einen mit kostbarem Pelz besetzten grauen Mantel gehüllt und gleich ihrer Schwester stets die Blicke auf sich ziehend, die Osterskaße durchschritten. „Wie war» übrigens noch? Was erzählte Herr von Drossel von dem Grafen? Er gelte trotz seines sicheren Auftretens und seiner äußerlich tadel losen Lebenssühruug doch für eine etwas undurchsichtige Persönlichkeit —" „Ja. so war»!" nickte Tachuhr. Als da» Ehepaar den Perron des großgeräumigen Bahnhofes erreicht und sich in die Mitte begeben hatte, fuhr auch schon der Zug in die Halle ein, und in ihm saßen nicht nur Marianne, sondern, zu jener unliebsamen Uebcr- raschnng, auch — der Graf. Aber alle Peinlichkeiten schnitt Graf Krcwe gleich ab. indem er. kaum aus dem Coups gestiegen, dem Hauptmann niit gewinnender Artigkeit die Hand reichte. Frau Jmberte aber ritterlich die Hand küßte, ihn anzusehen zwang und sagte: „Sie haben mich nicht erwartet und ich bin Ihnen nur halbwegs willkommen. Aber ich bitte, üben Sie dennoch Nachsicht, nehmen Sie auch mich aus und gönnen Sie mir ein wenig. von dem Vielen, was meine Marianne an Ihnen rühmt und wodurch Sie mir Beide, ohne Laß ich Sie kannte, schon so überaus werthvoll geworden sind —" , Doppelt wirkten diese in einem überaus warmen Tone gesprochenen Worte, weil sie ans dem Munde eines Mannes kamen, bei dem die vollendetsten Formen zu Tage traten, der überhaupt das Bild einer ungemein distmguitten Persönlichkeit bot- lind sein Ansehen wurde noch erhöht, als gleich daraus ein Kammerdiener und ein Groom in reicher Livree herbeieilten. die Befehle ihres Herrn wegen des Gepäcks erbaten und solche, nachdem sie von dem Grafen gegeben, in respektvollster Haltung entgegennahmen. Gleich darauf traten sie den .Heimweg an. Krewe voll feiner Ausmert- amkeit um Jmberte beschäftigt, Baron von Tachuhr Marianne lebhaft an- prechend und ihr den Arm bietend. Schon hatte der Herbst den Sommer abgclvst, aber nicht mit stürmischen, sondern mit stillen, hcllfrischen Tagen voll hoher, reiner, gesunder Lust. Und etwas von seinem belebenden Athcm drang auch in Mariannes Brust, und als vor dem Hinabsteigen der Treppen ein Aufenthalt eintrat, wußte sie es einzurichteu, daß sie wieder an Krewe's Seile und an seinen Arm gelangte. „O. ich bin glücklich. Edmond!" flüsterte sie, erhob das Auge und sah zu dem Manne empor, der ihr zärtlich zurückgab. was sie ihm bot. Und Jmberte und Tachuhr. die hinter ihnen gingen, sahen ihre Beweg ungen, und Jmberte sagte zu ihrem Manne, als eine Biegung des Tunnels das Brautpaar ihrer Nähe entrückte: „Weißt Tu, Richard. Krewe könnte mir' gefährlich werde»! Wenn Tu mir nicht schon für s ganze Leben gefährlich geworden wärest, so —" „Na, da» ist wenigstens eine Beruhigung," scherzte Tachuhr gemüthlich. Aber in Wirklichkeit war ihm nicht ganz so behaglich zu Muthe. Ein Spürchen Eifersucht regte sich in ihm, und Vergleiche stellten sich ein zwischen ihm und den Grafen. Jni klebrige» wurden sie vorläufig wieder getrennt. Tie Herrschaften begaben sich mit Marianne nach ihrer Wohnung in der Osterskaße und Krewe fuhr nach Kasten'S Hotel, woselbst er für sich und die Dienerschaft Zimmer vorausbcstellt hatte. Und gleich an diesem ersten Tage bat er seine Ver wandten, daß sie im Hotel seine Gäste sein möchten. Er habe zu fünf Uhr rin Tiner Herrichten und auch schon von Berlin aus Billete für's Theater beschaffen lassen. So nahm er Tachuhr» gleich in Beschlag, bot ihnen Abwechselung und Amüsements in materieller und geistiger Beziehung und verwischte das Un behagen, das sich Tachuhr's bemächtigt hatte. Und Alles vollzog sich in der Folge auch nach Wunsch und Absicht. Krcwe machte Tachuhr's am Mittwoch seinen Besuch und verzehrte mit ihnen ein Frühstück. Dann zog sich das Ehepaar zurück; die Brautleute unternahmen einen Spaziergang. Nach diesem folgte noch Beschäftigung mit dem Auspackcn mid etwas Ruhe, und nach beendetem Tiner begaben sie sich in das königliche Theater, woselbst „Katharina Howard" von Gottickiall gegeben wurde. Während sie Vieler anziehenden Schöpfung ihr aufmerksames Interesse znwandten, stieß Jmberte plötzlich ihre Schwester Marianne an und sagte, als nun eben eine darin vorkommende Verschwörerseeue in der Kapelle sich vor ihren Augen vollzog: „Tu. Marianne, ist nicht der eine dort von den Mit spielern Doktor Paul Halbe, Dein einstiger Verehrer? — Ja, wahrhaftig! Und wie erfreulich, daß es ihm gelungen ist, hier an's Hoftheater zu gelangen. Bisher habe ich ihn noch nicht gesehen —" Und nach dem Zettel greifend: „Wie nennt er sich denn? Da steht Paul Bründe! Ah! Mtürlich, das ist sein Künstlername! Er ist's!" Und Marianne nickte und verfolgte mit Spannung nicht nur die Hand lung. sondern letzt auch besonders Halbe's Spiel. Und als sie Alle nach Schluß der Vorstellung noch bcöammen in einem Eafö saßen und die Vor stellung von ihnen einer Beurtheilung unterzogen wurde, stieß sie eifrig heraus: „Das ist gewiß! Mein Ideal würde es doch bleiben, eine berühmte Schauspielerin zu sein! Ich beneide Halde, daß er es kotz aller mißgünstigen Verhältnisse durchgeführt hat, so viel zu werden. Er wird auch sicher noch Bedeutendes leisten. Wille. Fleiß und Veranlagung erreichen Alles! " Und Krewe pflichtete zu Tachuhr's Verwunderung lebhaft bei. „Ich thcile. Du weißt es. Marianne. Deine Neigung vollkommen, und wenn wir erst verheirathet sind, wollen wir fleißig bei nuS Komödie spielen. Es ist ein herrliches Vergnügen, und Frau Jmberte muß auch herüber komme» und helfen. Wollen Sie, verehrte Frau?" „O. nein, nein, fiel Tachuhr abwehrend ein. „Ich gebe meine Madonna nicht her, ich bin nicht für s Komödienmacheu Es verdirbt den Charakter." „Ah, ah, verehrter Herr Hauptmann?" berichtigte Krewe mit rücksichts voller Ueberlegcnheit. „Mau muß doch nicht so rasch den Glauben an sich selbst veilieren. Nur die Schwachen straucheln! Und man muß sich nicht den prüden Grüblern über Gut und Böse beiaesellen. Das Leben ist kurz und stk ein verständiges Genießen gegeben! Das gilt für alle Verhält nisse und namentlich für die freie Bewegung der Personen. Wenn zum Bei spiel in der Ehe nicht solches Bettrauen zwischen Mann und Frau eriititt, daß Jedem kleine Lebhaftigkeiten mit Dritten gestattet sind, war's fast schon eine verfehlte Verbindung. Ich beneide die Zeit, in der die beiden Geschlechter ideale Freundschaften pflegten, ihre Zuneigung zueinander offen bekannten, die Eheleute nicht ein einseitiges Turteltaubendasein führten." „Na, ich danke," entgegnete Baron Tachuhr, zum Widerspruch gereut. „Was Sie aus jener Epoche rühmen, verehrter Herr Graf, war doch lm Grunde nichts Anderes als Freude an Heimlichkeiten. Es würde mir sehr wenig behagen, wenn Jmberte plötzlich erklärte, sie führe Korrespondenzen mit anderen Männern, gehe mit ihnen spazieren, besuche Vorlesungen. Theater und empfange sie, während ich fort bin. zu einer sogenannten ästhetischen Plauderei. Was meinst Du, Jmberte?" „Ich meine, daß Dir Tein Eifer gar nicht ähnlich sieht, Richard. Du bist stets gegen eheliche Sentimentalitäten zu Felde gezogen. Ich stimme dem Grafen bei Es ist ein großer Verlust, daß man ein solches Mißtrauen geschaffen, daß man die Grenzen so eng gezogen hat." „Und Du, Marianne?" warf Tachuhr, jetzt noch ein wenig mehr geärgert, hin. „Ich meine, daß ich einen solchen Ekel vor der Philisterei nm» Scheinheiligkeit der Gesellschaft in Bründe empfangen habe, daß ich sogar eine gelegentliche kräftige Passion für weit weniger vernrtheilungswetth halte als solche schleichende Unwahrheit, solche Aburtheilung und solches Pharisäer- thum! Eine große Leidenschaft ist menschlich. Ein Futterneiden, Jntngnkcn und mitleidloses Massakriren. wie die Leute drüben es trieben, ist die wahre Jmmoralität. Komödien, schauderhaft heuchlerische Komödien treiben sic mit Eigenschaften, die sie nicht besitzen." „Ja," spöttelte Tachuhr, der so einen Ausweg aus dem Gespräch und eine Ablenkung seiner ihn im Grunde selbst ärgernden Mißstimmung Nichte. „Komödien. Aber wenn man gerade die täglich in der Gciellschast in Augen schein nahm, begreife ich nicht, daß man sich nach dem Komödienthum der Bretter sehnt." „Sie vergessen, lieber Richards fiel Marianne begeistert ein. „daß cs sich nicht um sie, sondern um den tieferen Inhalt, um Können und Erfolge handelt, daß die Kunst den Menschen bildet, daß sie ihn veredelt, daß eben sie allein ihn über das Alltägliche zu erheben vermag. Und das ist doch unsere Aus gabe ! Naturen, die nicht mir im bloßen behäbigen Begctiren ihre Lebens ziele erblicken, die nicht nur aus die Pflege ihres Jchs und aus Hcrbciichaffung ^ materieller Genüsse bedacht sind, treibt ein machtvolles Drängen »ach Höherem, »ach einem Eintritt in jene» Reich, in dem die freien Geister einander die Hand reichen, dort das Erhabene. Schöne und wahrhaft Gute pflegen." „Bravo!" rief Graf Krcwe und nickte seiner Braut lebhaft zu. * Als die beiden Paare am folgenden Tage wieder beisammen saßen, brachte der Diener die eben eingegangenen Briefe, und unter ihnen befand sich auch einer, der an Jmberte gerichtet war und die Handschrift des Herrn Dijon trug. Schon während des Lesen» gerieth Jmberte in eine heftige Unruhe, die sich steigerte, als sie an s Ende gelangte. „Nun? Was ist's? Ist's von Papa? Was schreibt er?" warf Marianne hin und forschte beängstigend in den Zügen ihrer Schwester. Ihr ahnte, daß etwas Drohendes im Anzuge sei. Sie l-atte schon den ganzen Morgen, ohne davon zn reden, unter einem schiveren Druck gestanden. Es war ihr bereits ausgefallen, daß sich Die in Bründe so ruhig verhielten. Es entsprach dem natürlichen Gang der Dinge, daß ihre Eltern fragen würden, ob sie bei Jmberte emgckoffen fei, und daß sie ihrer durch die letzte Scene hervosgerrifencn Entrüstung einen äußerst scharfen Ausdruck verleihen würden. I „Ja, ich weiß nicht. Marianne, ob ich Dir den Inhalt mitthcilen soll — Er wird Dich iebr aufiegcn. Ich möchte Papa gleich schreiben. Ich hoffe, daß ick ihn und Mama beruhigen kann, und ist's der Fall, dann wär's für Euch Beide besser, daß der eine Theit nichts gesagt und der andere nichts gehört hätte —" Aber Jmberte drang mit ihrer Absicht nicht durch. Mariannes Spannung hatte sich so gesteigert, daß sie erklärte, die Un- keililtiliß des Inhalts rege sic weit mehr auf, als irgend ein noch so schwer wiegender Inhalt. . Auch Krcwe schloß sich ihr an; infolgedessen händigte Jmberte den Briet an ihre Schwester aus. Und daim las Marianne, und ln ihren Zügen zuckte es, und als sie den Brief zu Ende gelesen, lehnte sie sich »nt einer Miene zurück, die bewies, wie furchtbar der Inhalt aus sie gewirkt hatte, wie es in ihrem Inneren tobte. „Nein, »ein. Edmond! Bitte nicht, wenigstens nicht jetzt, ohne Vor bereitung," bat sic ängstlich. „Es ist zu schrecklich, was Mama .--sie steckt ja dahinter — wieder ersonnen hat. wie sie sich dafür rächt, daß Dreienige. der sie doch selbst das Leben gegeben hat, einen Willen und die Entschlossen heit besitzt, ihre Schritte selbst zu bestimmen." Aber Krcwe ließ nicht nach. Er wollte de» Brief jetzt gleich lesen und gerieth, nachdem Marianne endlich eingcwilligt batte, ihm das Schreiben auszuhäudigen. nach der Lektüre desselben gleich den klebrigen in eine nur äußerlich mühsam gedampfte, außcrordcittlichc Aufregung.
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