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Dresdner Nachrichten : 08.05.1927
- Erscheinungsdatum
- 1927-05-08
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id501434038-192705084
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id501434038-19270508
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-501434038-19270508
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Zeitungen
- Saxonica
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Dresdner Nachrichten
-
Jahr
1927
-
Monat
1927-05
- Tag 1927-05-08
-
Monat
1927-05
-
Jahr
1927
- Titel
- Dresdner Nachrichten : 08.05.1927
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Oresäner Nachnchlen «Att^ag Sonntag. K. Mai 1927 Wenn -u noch eine Mutter hast — von Kurt Arnold Ftndetsen. Jeder Mensch, er sei, wer er sei, trägt tn sich ein HeMgen- «lt. Diese« Heiligenbild ist da« Bild seiner Mutter. Ist ihm die Mutter gestorben, muß er sich mit dem Wider schein der Erinnerung trösten, und er wird den verklärten Schimmer diese« matteren Bildes besonder« liebreich hüten. Lebt ihm die Mutter noch, kann er die Umrisse diese« Bilde« tn sich immer von neuem beglückt nachziehen, kann er immer neue und neue feine Züge dazufügen. Und da« Bild tn ihm wird immer schöner, je älter seine Mutter wird. Denn merkwürdig: Es erblaßt der geliebten Mutter wohl da» Rot der Wange, c« nisten sich Krähenfüßchen in den Winkeln ihrer treuen Augen ein, Gorgenfalten auf ihrer Stirn, ja e« krümmt sich vielleicht schon leise ihr Rücken, und ihre fleißigen Hände beginnen manchmal matt zu werden. Sogar die Beweglichkeit ihre« Gemütes läßt vielleicht je und je ein wenig nach, und ihr einst schier verschwenderischer Reich- tum an geistigen Gütern fängt an zu geizen. Wenn aber auch wirklich unsere gute Mutter eine alte Krau geworden wäre mit einem Antlitz, von dem der Zauber der Jugend gewichen, wenn sie ein Menschlein geworden wäre mit einem Pul«, der nicht mehr im Rhythmus de« lebendigen Tage« schlägt, lieben wir diese unsere Mutter darum weniger? Nein, wir lieben sie noch, wie wir sie erst geliebt haben; ja, wir lieben sie noch mehr, nun sie unserer Nachsicht und Hilfe bedarf, nun ihre Augen nicht mehr wie Sonnen unsere gewohnte AlltagSwelt regieren. Die Liebe zu unserer Mutter ist wie ein Diamant, von dem nichts abgeschltffen werden kann, sie ist wie ein Kristall, der immer neue Kristalle ansetzt. Da» fromme Bild tn uns bleibt anbetungswürdig und makellos, eS ist wirklich und wahrhaftig ein Hetltgenbtld, vor dem die ewige Lampe unseres Herzens brennt. Seit Anbeginn haben das die Menschen gespürt. Seit An- beginn haben sic der Mutter, der heiligen Gebärerin, in ihrem tiefsten Innern einen Altar errichtet. Freilich, die Zeugnisse, die wir davon besitzen, stammen meist erst aus neueren Jahr hunderten. Erst seitdem die Menschheit bewußt ins Licht der Kunst getreten ist, ist das Kontersei der Mutter ein Maßstab ihrer Kultur geworden. Neben den Malern sind eS vor allem die Dichter, die sich um den ewigen Ruhm der Mutter mit bleibendem Erfolg bemühten. Aber nicht von einem Großen der Weltliteratur soll in diesem Sinne hier gehandelt werden, sondern von einem ganz unscheinbaren Manne, der aus dem Dunkel kam, sein Zeugnis stir die Heiligkeit der Mutter abgab und wieder im Dunkel verschwand. Um dieses schlichten Zeugnisses willen verdient er, wenigstens gelegentlich seines lOO. Geburtstages, wieder einmal genannt zu werden. Er hieß Friedrich Wilhelm Kaulisch und wurde am IS. April 1827 zu Noßwein in Sachsen einem armen Seifen fieder als fünfzehntes Kind tn dritter Ehe geboren. Unter einem strahlenden Sterne trat er somit seine Laufbahn nicht an. Al« aber sein Bater gestorben war, ging über ihm das milde Licht seiner Mutter auf, und sein Weg war geweiht. Dte arme Frau legte sich allerlei Entbehrungen auf, Ent behrungen, deren eben nur eine Mutter um ihrer Kinder willen fähig ist, damit der begabte Junge was Rechtes lernen könne. So gelang es ihr schließlich, ihn auf ein Lehrerseminar zu bringen und ihn Schulmeister werden zu lasten. AlS solcher ist er dann tn SciferSdorf bei Noßwein und in einigen Orten -eS Elbsandsteingebirges llllbersdorf bei Schandau und Neu stadt an der Polenzi tätig gewesen, bis er al« Altenteiler bei seinem Sohne l88l tn Dresden starb. Ob er seine treue Mutter zu sich genommen habe, um ihr die Tage des Alters tn Dankbarkeit leicht zu machen, misten wir nicht: wohl aber misten wir, daß er, der gern reimte und Geschichten erzählte lsogar ein Theaterstück hat er verfaßt), noch als junger Schulmeister in seiner ersten Lehrerstelle ein Gedicht schrieb, in dem er der innigen Opserwilligkcit seiner Mutter ein bescheidenes, aber doch glückhaftes Denkmal setzte. Seine übrigen dichterischen Versuche sind längst ver gessen: mit diesem Liede ist er auf dte Nachwelt gekommen. Im Grunde ist es weniger das Lied, beste» äußere Formen schnell veraltet sind und besten innere Bewegung nichts Außer gewöhnliches zutage fördert, sondern die Aureole seiner Mutter, die er bieder angezündet und dte um aller Mütter willen die Jahre her noch einen warmen, herzlichen Schein gibt. Es lautet: Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden; nicht allen auf dem Erdenrund ist dieses hohe Glück beschteden. Wenn du noch eine Mutter hast, so sollst du sie mit Liebe pflegen, daß sie dereinst ihr müdes Haupt tn Frieden kann zur Ruhe legen. Sie hat vom ersten Tage an für dich gelebt tn bangen Sorgen; sie brachte abends dich zur Ruh' und weckte küssend dich am Morgen. Und warst du krank, sie pflegte dein, den sie mit tiefem Schmerz geboren, und gaben alle dich schon auf, dte Mutter gab dich nicht verloren. Sie lehrte dich den frommen Spruch, sie lehrte dich zuerst daS Reden; sie faltete die Hände dein und lehrte dich zum Vater beten. Sie lenkte deinen Kindersinn, sie wachte über deine Jugend; der Mutter danke eS allein, wenn du noch gehst den Pfad der Tugend. Und hast du keine Mutter mehr, und kannst du sie nicht mehr beglücken, so kannst du doch ihr frühe« Grab mit frischen Blumenkränzen schmücken! Ein Muttergrab — ein heilig' Grab, für dich die ewig heil'ge Stelle! O, wende dich an diesen Ort, wenn dich umtost des Leben« Welle. Was -er Frühling vermag. Ein Erlebnis au« der Kriegszeit von Ehr. Vogel. Ein neuer Transport Schwerverwundeter au« Flandern wurde erwartet. Fleißige Hände regten sich, die armen schwer- leidenden Kämpfer zu empfangen und ihnen ein« möglichst gute Aufnahme zu bereiten. Im alten französischen Nonnen. Lloster, das still mitten im gutgepflegten Garten lag, sollten sie untergebracht werden. Auto auf Auto fuhr vor, sie wurden vorsichtig von treuen Kameraden in« HauS getragen. Müde und bleich lagen sie, nachdem sie gebadet oder gewaschen, mit frischer Wäsche be- kleidet worben waren, iu ihren weißen Betten; lange dieser Wohltat entwöhnt, dte endliche Ruhe nach den letzten schweren Kämpfen und dem langen Transport genießend. Nach und nach wurden dte Verbände gewechselt, die Ber- wundungen vom Arzt untersucht, die Behandlung bestimmt. Einer, ein besonder« kräftiger, schön gewachsener Bayer, lag, beide Augen verbunden, und wartete unruhig auf den Verbandwechsel. „Meine Augen sind beide verletzt. Schwester, aber, nicht wahr, e« bann nicht lange dauern, bi« ich wieder sehen werde!* sagte er. al» vorsichtig ein« Binde gelöst wurde. Ein Blick de« Oberstabsarztes, «ine» feinen alten Herrn, der seine Kranken wirklich liebte, und vielen von ihnen ein väter- licher Freund und Berater wurde, genügte und zeigte der Schwester ohne Worte, daß daS Augenlicht verloren war. Und nun kam mit banger Sorg« -er zweite Verband. „Auch er loschen!* sagte d«S Arzte» Blick. Dem Kranken wurde freundlich zugeredet, -er Verband erneut. Still und geduldig lag der junge Soldat im Bett, von Tag zu Tag hoffend. ,/Ste müssen e« ihm schonend sagen, Schwester*, mahnte der Arzt. Aber wie? Soviel sich Zeit fand, gab sie sich mit ihm ab. Er erzählte, er sei auS dem Algäu. Er führe mit der Mutter die kleine Wirtschaft, seit er vor Jahren den Bater verloren habe. Sie bange sich so sehr nach ihrem Einzigen. „Nicht wahr, nun bekomme ich Heimaturlaub?* Gewiß, ja, kür lange Zeit! — So wurde endlich dem Armen eröffnet, daß er seine Heimat nie wieder sehen könnte! ,LH, Schwester, meine arme Mutter, meine lieben Berge, die schön« Welt!* Wild bäumte sich der junge Krieger gegen das Schicksal, schwer haderte er mit Gott und der Welt, bis er endlich, nach schweren Tagen und Nächten stiller wurde. Aber eins bat er immer wieder: .Liebe Schwester, nicht wahr, ich brauche nicht heim? Ich darf hierbleiben? Sie kennen mich, und daheim, da kenne ich mich nimmer auSI* Oft sprachen sie. so weh es ihm anfangs tat, von seinen Bergen; da» Nebelhorn, der Hochvogel, dte Mädlesgabel, alles bekam Leben, wenn er er- zählte: und der Kranke vergaß dabet, daß er die schöne Hei mat nie wieder mit den Augen grüßen sollte. Der Kranke wurde stiller und stiller, er trug sich mit Selbstmordgedanken und blieb -er Schwester Sorgenkind. ,Lr muß heim, etwas lernen, Schwester*, mahnte der Arzt, so oft er den Verband wechselte. Und jedeSmal bettelte der Arme mit den erloschenen Augensternen: „Bitte, lasten Sie mich hier bei Ihnen bleiben* So zog der Frühling ins Land, fröhlich sangen die Vögel, warm schien die Sonne und weckte all die Blumen aus ihrem Winterschlafe. An einem solchen Sonnentage bat die Schwester ihren Kranken nicht wie bisher vergeblich, er ging mit ihr ins Freie. Sie saßen zusammen im Garten, hörten das Jubilieren der Vögel, fühlten die wärmende Sonne. Ganz still war der Blinde, seine Begleiterin störte ihn nicht. „Schwester, was blühen für Blumen?* fragte er plötzlich. .LSarten Sie, ich bringe Ihnen von allen, und Sie sollen raten, was blüht.* Sie brachte ihm eine nach der andern, den Namen der meisten fand er nicht, aber, strahlend kam es von seinen Lippen: „Ein Veilchen, oh, Schwester, ich rieche die Blumen und fühl« sie, höre dte Vögel singen und merke die Sonne.* Heiße Tränen lüsten zum ersten Male dem Aermsten die Schmerzen seiner Seel«. Von nun an ließ er sich täglich tn den Garten bringen, sprach und scherzte mit seinen LeidenSgenosten, von denen er bisher keine Notiz genommen hatte: und eines Abends, als die Schwester zu chm trat, bat er: „Schwester, nun möchte ich heim, die Heimat möchte ich nun fühlen!* Der nächste Lazarcttzug trug ihn der Heimat zu. Dank- bare Briefe, sehr bald von ihm selbst mit der Maschine, die ihm seine Königin geschenkt hatte, geschrieben, berichteten der Schwester von seinem Ergehen, von seinen Kämpfen, die ihm nicht erspart blieben, und von den Fortschritten, die er seltsam schnell bei seiner Umschulung machte. Im Frühjahr ISIS schrieb er, daß er wieder daheim sei und sein Gut bewirtschafte. Aber auch in seinem stillen Dorf sei di« neue Zeit etngezogen, könne aber an ihm nichts aus- richten. Trotz all seinem Leiden habe er sich wiedergefuuden. Ja, er glaub«, daß gerade er ein Gegenzeugnis gegen all die bösen Hetzereien ablegen könne. „Bor allem aber, Schwester,* so schloß sein Brief, „habe ich ein liebes Mädchen gefunden, die mir als meine Frau helfen will, wo ich nicht kann. Ich kann sie fa leider nicht sehen, aber fühlen, so, wie Sie mich damals in Belgien den Frühling fühlen lehrten. Nie werde ich den vergessen, der mir wieder Lebensmut und endlich auch Lebensfreude schenkte — den Frühling 1S17* Besuche. Bo» Erich Ebermayer. Abends gegen neun Uhr kam ich in der Residenzstadt an. ES war schon zu spät, um an diesem Abend noch meine alte Großtante zu besuchen. Und auch zu dem berühmten Dichter konnte ich nicht mehr gehen, obwohl ich große Sehn sucht hatte, ihn, den Meister, endlich wieberzusehen. So ver, trieb ich mir den Abend damit, daß ich langsam ein paarmal in den engen Hauptstraßen auf und ab schleuderte, mir die Bürger und die Fremden besah und schließlich im „Stadt garten*, einem heiteren Etablissement mit Musik, offener Terrasse und einladend gedeckten Tischen, zu Nacht atz. Am Morgen regnete es. oder richtiger. eS schleuderte Master, wie es in dieser Gegend üblich ist. so daß ich bis tief in den Tag hinein schlief, dann frühstückte und mich erst gegen elf Uhr aus den Weg machte, um den Besuch bei meiner Tante auszustthren. Für den Nachmittag aber hatte ich mich tele phonisch bei dem Dichter angesagt. lJch wäre natürlich lieber schon am Vormittag zu dem Dichter gegangen und erst nach mittags zur Tante, aber der Dichter hatte mich zum Tee ge- beten, während die Tante von meinem geplanten Besuch nichts wußte.) Um von dieser Tante zu reden, muß ich zunächst ihre schönste und wesentlichste Eigenschaft Mitteilen, die Tatsache nämlich, daß sie bereits zweiundneunzig Jahre zählt. Sie ist 183S geboren, also kurz nach Goethes Tod, und lebt immer noch, obwohl wir schon bald den hunbertundachtzigsten Geburtstag Goethes feiern. Doch ich möchte nicht mit Zahlen bluffen. Das ist bei meiner Großtante nicht nötig, denn sie ist ein köstliches Ge- schöpf auch ohnedies. Ich habe sie seit meiner Knabenzeit nicht mehr gesehen, aber sie schickte mir bis wett i» die Inflation an jedem Geburtstag und zu Weihnachten zwanzig Papier- mark, eine Summe, die mich in dem ersten Jahrzehnt meines Denkens durch ihre Höhe, später durch ihre Tiefe erschütterte. AlS wir mit Milliarden zu rechnen begannen, hörten die Sen- düngen plötzlich auf. und wir befürchteten schon daS Schlimmste. Aber die« Schlimmste war nicht eingetreten: sie lieb mich nur gelegentlich misten, sie müsse sich jetzt einschränken und könne darum leider die zwanzig Mark mir nicht mehr zukommen lasten. nun. hcrauSzusinden. wohin dte Stürme des Jahres 1NI8 sie verschlagen haben mochten. So ging ich zuerst aufs Schloß, an da« Tor. wo wir damals, meine Eltern und ich, vor zehn Jahren, von dem Lakaien in blauem Samt und schwarzen Kotelettcn feierlich empfangen worben waren. ES stand natür- lich, wie zu erwarten, kein Lakai in Samt und Koteletten mehr an dem Tor. aber immerhin saß in einer GlaSloge neben der Einfahrt ein Portier, der eine blaue Dienstmütze trug. Er fragte mich durch ei» Schicbetürchen tn Magenhühe, tn welcher Angelegenheit ich daS Tiefbanamt zu sprechen wünsche. Ich betonte demgegenüber, daß ich nicht das Tiefbanamt, sondern meine Tante, die Gesellschaftsdame Ihrer Kaiserlichen Hoheit ber Fra« «roßherzogin. ,« spreche« begehrenn» daß er «ich wetsen sollte, wo ich dte Damen zu suchen batte. DaS Auf- fallende und durchaus Erfreuliche war. baß ber Beamte «ach diesen Worten in keiner Weise sein Verhalten mir gegenüber änderte. Wenn ich geglaubt hatte, in diesem Augenblick Studien über dte BolkSstimmung de» Lande» artttellen zu können, so befand ich mich durchaus im Irrtum. Der Mann wurde weder böslicher noch unhöflicher. Er blieb, wie zu An- sang: von mittelmäßiger Höflichkeit. „ Ich erfuhr, wa« ich wollte: baß di« Frau Grobherzogin jetzt tn der Villa X wohne und daß das alte Fräulein — meine Tante — gleichfalls „noch* dort wohne. DaS Noch war natür- lich mir. dem Großneffen gegenüber, «ine Unhöflichkett, aber es war dem Beamten versehentlich entfahren und nach Lage ber Sache immerhin verzeihlich. Da e» noch regnete und die Billa anderthalb Stunden entfernt von der Stadt liegen sollte, beschloß ich. einen Wagen zu nehmen. Dte Verhandlungen mit dem Kutscher über den Preis dauerten geraume Zeit; man spürte dte Nähe Italien«. Ich hütete mich, das genaue Ziel meine« Besuches vor Antritt der Fahrt bekanntzugeben. da dies möglicherweise dte Forderungen ungünstig hätte beet«, flusten können. Als wir aber eine Weile fuhren, sagte ich eS ihm . .. Ich sagte ganz obenhin, er solle mich zur Villa Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Frau Großherzogtn fahren. Die Wir kung war hier, bet dem freien Manne, im Gegensatz zu dem Beamten vor dem Schlosse, geradezu furchtbar. Er riß den ganzen Menschen tn unbeschreiblich beängstigender Weise zu sammen. er hüpfte aus seinem Sitze wie ein Gummiball, schnalzte mehrmals knallend mit der Zunge und trieb da» Rotz aus die roheste Weise mit ber Peitsche an. Durch grauen Nebel rollten wir über wette, regenfeuchte Wiesen einem fernen Walde zu. Obwohl noch August, war e« schon eiskalt, und vom Gebirge pstss ein scharfer, nasser Wind dem Wagen entgegen. Oebe und Trostlosigkeit war ringsum. Herbst nach einem langen, leuchtenden Sommer. Die Fahrt schien weg von der Welt tn ein fernes und unheimliches Toten, reich zu führen . . . Schließlich knirschte Sand unter den Rädern, in schlankem Bogen ging es eine Ausfahrt hinan. Der Wagen hielt. Ich stieg aus und hieb den Kutscher warten, der sich stumm auf seinem Sitze verneigte. Am Hause blieb alles still. Es kam niemand, mich zu empfangen. Endlich klirrte oben im ersten Stock ein Fenster. Ein Kopf steckte sich weit und grenzenlos erstaunt heraus und verschwand wieder, als er einen Menschen erblickte. Es war kein Zweifel: dieser Kopf gehörte meiner Tante. Genau so hatte ich sie tn Erinnerung. So sah sie auf dem Bilde auS. das zu Hause über dem Schreibtisch meiner Mutter hing. Bald erschien eine sehr junge und sehr schüchterne Magd, die mich auS groben runden Augen starr und ängstlich ansah. Ich gab ihr meine Karte und fragte, ob meine Tante zu sprechen sei. Sie verschwand, ohne zu antworten, nötigte mich aber vorher in den Flur. Der Flur war sehr klein. Er enthielt nur einen Tisch und einen Holzstuhl; auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe, darüber hingen mehrere Hirsch geweihe mit schwarzen Täfelchen, auf denen zu lesen stand: „S.M. Kaiser Wilhelm I.. 13. November 1873* oder: „S. K. H. Erzherzog Leopold, 28. September 1884* usw. Auf dem Stuhl lagen ein Paar lange Damenhandschuhe aus schwarzem Flor und zwei Schlüssel, die mit einem blaßrosa Bändchen zu sammengebunden waren ... Dann aber erschien meine Tante, eilte auf mich zu und umarmte und küßte mich auf beide Backen und in die Mitte der Stirn. Während sie es tat. kam mir der Gedanke, wie leicht da irgendwer auftreten konnte mit meiner Visitenkarte, der bann auch so umarmt und geküßt wurde wie ich jetzt. Woher konnte sie misten, daß ich ich war? Seinerzeit, als wir uns zuletzt sahen, trug ich Kieler Bluse und Schifferknoten. Gute, unvor sichtige Tante... Wir gingen tn den Wintergarten. ES war ein sehr großer» sehr kühler Raum, wo der Rest einer Palme, zwei Geranien stöcke vom vorigen Jahre, die jedoch auch in diesem Jahre Blätter getrieben hatten, und zwei Korbstühle mit verblichenen Kisten sich befanden. Die Stühle verloren sich in dem weiten Wintergarten, zumal sie mitten darin und drei Meter vonein ander entfernt aufgestellt waren. Da saßen wir nun. meine Großtante und ich, und e» galt, zu plaudern. Aber wie leicht war dies, wie erstaunlich leicht! Sie war zweiunbneunzig, aber man hätte sie ohne Mühe für zweiundsiebzig halten können, was ich ihr auch sagte nnd wofür ich ein unendlich dankbares, graziöses und hohettsvolleS Lächeln aus ihren kleinen, klugen Augen bekam. Sie plauderte — ja. wie es sagen? — sie plauderte, wie man heute nicht mehr zu plaudern weiß und wie ich es noch nie in der großen Welt unseres lebendigen Lebens erlebt hatte. Wir hatten keine Ah nung voneinander, die alte, alte Fra« und ich. Wir hatten uns einmal im Leben gesehen, damals hatte ich schweigend neben den Groben gesellen und Unmengen von Himbeereis der großherzogltchen Tafel verzehrt. Uns verband nichts, kein geistiges, kein menschliches Band, ich wußte nichts von ihrem, sie nichts von meinem Leben. Fünfundsiebzig Lebensjahre trennten uns — und doch, wie sie sprach und fragte, wie sie neckte und ansptelte, wie sie lauschte und verarbeitete, wieder auSspielte, anknüpfte und verband — das war brillant war Meisterschaft ohnegleichen. Sie blieb die ganze Zeit fest auf ihrem drei Meter entfernten Stuhle sitzen, und als ich einmal unwillkürlich, in dem törichten Glauben, sie verstünde mich nicht, näher zu rücken mich anschickte, verbot sie eS mir mit be- stimmtem und strengem Blick. Sie sprach nur von Dingen, dte vierzig, dreißig Jahre zurücklagen. Ereignisse aus diesem Jahrhundert schienen sie nicht zu interessieren. Sie erzählte von der achtundvierziger Revolution, vom sechSundfechziger und siebziger Krieg, von Sedan und Versailles, von Fürsten- Hochzeiten in Dresden, Berlin und München, denen sie bet gewohnt. und lieb einfließen, daß sie seit einundsiebzig Jahren Freundin und Gesellschafterin der Frau Grobherzogin sei und dies bis an ihr hoffentlich nicht allzu baldes Ende auch zu bleiben gedenke. Sie war seit elf Jahren nicht mehr in Mün chen. seit neun Jahren, seit AuSbruch ber Revolution, nicht mehr tn der anderthalb Stunden entfernten Residenz. Wie sollte sie auch? Wagen und Pferde hatte man nicht mehr. Bahn verbindung gab es nicht, und zu Fuß war der Weg in die Stadt zu weit. Aber eS drängt dte beiden alten Damen auch nichts mehr hinaus in die Welt. Sie leben ln der kleinen Billa, allein mit dem großäugigen Dienstmädchen und einer Dogge, die erst sechzehn Jahre bei ihnen Ist. Neun Monate im Jahre ist bas Gebirge verhängt, und graue Nebel brauen um das HauS,- da steht man dann wohl nichts anderes als heute: die BuchSbaumrabatte und dte zwei schlanken, weißen, zittern den Birken vor der Auffahrt. Zeitung lesen sie seit ein paar Jahren keine mehr, eS ist zu teuer, sie zu halten. Man muß sich einschränken. Wozu auch —? Die kleinen Sachen vergißt man. und die großen erfährt man doch früher oder später ein- mal. Der Postbote kommt einmal in der Woche heraus, aber er bringt eigentlich niemals etwaS: „Ihr schreibt fa net. Ihr habt uns ja vergessen, Ihr bösen Leut',* sagt die alte Frau. — Wenn meine Tante zuweilen schweigt, Ist Totenstille um uns, eine solch furchtbare, peinigende Stille, daß es mir die Kehle zuschnttrt und ich schreien möchte, nur damit diese Stille nicht dauere. Einmal hatscht oben ein Schritt über die Dielen, schlürfend und mühselig offenbar. Da sagt meine Tante mit einer leichten Bewegung des KopfeS nach ber Decke ganz langsam und leise: „Ihre Kaiserliche Hoheit läßt dich grüßen und sich entschuldigen, Ihre Kaiserliche Hoheit ist noch nicht empfangsfähig.* Ich verneige mich schweigend. Dann geleitet mich meine Tante über den Borsaal zur -Haustür. Als der Kutscher sie erblickt, springt er vom Bock herab, steht völlig erstarrt mit lang herabhängendeu Arme«
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